# taz.de -- Aus historischen Kompromissen lernen: Kein Friede unter den Oliven | |
> Von der italienischen Geschichte zu Deutschlands Gegenwart: Was wir aus | |
> einem gescheiterten historischen Kompromiss lernen können. | |
Bild: Der PCI unter Enrico Berlinguer bekannte sich 1973 zur parlamentarischen … | |
BERLIN taz | Wahrlich, finstere Zeiten brechen herein. Und mit Brecht | |
müsste man seufzen: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäu… | |
fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten | |
einschließt!“ | |
Ich sitze gern unter einem Olivenbaum. Wir haben ein Dutzend alter | |
Olivenbäume. Wobei unter „haben“ eher etwas zu verstehen ist wie Nachbarn | |
haben als eine Besitzanzeige. Denn wie sollte man ein lebendes Wesen | |
besitzen, das älter ist als die ältesten Bilder aus deiner | |
Familiengeschichte? Unter diesen Oliven, sagt man, habe einst Napoleon | |
gesessen. Wenn Napoleon unter allen Bäumen gesessen hätte, von denen man so | |
etwas erzählt, hätte er wahrscheinlich vor lauter Unter-Bäumen-Sitzen gar | |
keine Zeit mehr zum Kriegführen gehabt. | |
Aber so weit geht die Macht der Oliven nicht. Näher, schrecklich näher ist | |
die Erinnerung an Partisanen, die sich hier im letzten Jahr des Zweiten | |
Weltkriegs verbargen und die verraten und von Schwarzhemden und deutschen | |
Soldaten ermordet wurden. Es gibt ein Denkmal ihnen zu Ehren, aber nicht | |
weit davon entfernt auch eines für die Soldaten des faschistischen Staates. | |
Ist solch ein Nebeneinander ein bizarres Überbleibsel des „historischen | |
Kompromisses“? Der Partito Comunista Italiano (PCI) unter Enrico Berlinguer | |
verzichtete 1973 auf einen radikalen Widerspruch zum Kapitalismus und | |
bekannte sich zur Demokratie und zur gemeinsamen Arbeit an Reformen mit den | |
anderen Parteien, auch und gerade der Democrazia Christiana unter [1][Aldo | |
Moro]. | |
## PCI nur noch Erinnerung | |
Doch statt der erhofften reformerisch-liberalen und sozialen neuen Mitte | |
und eines gemeinsamen Projekts der versöhnten pluralen Demokratie folgten | |
Chaos und Gewalt diesem Ansatz, die Ermordung Aldo Moros, der Aufstieg der | |
Neofaschisten, eine politische Traumatisierung. Der PCI ist heute nur noch | |
eine Erinnerung, die DC allerdings auch. Und ebenso das Projekt, das eine | |
Spaltung der Gesellschaft überwinden wollte, die aus der Geschichte des | |
Landes wie aus der Ökonomie der Gegenwart stammte. | |
War der historische Kompromiss etwa ein Fehler? Oder war er, andersherum, | |
nur der Versuch, sich als linkes politisches Subjekt zu bewahren in einem | |
Prozess, der ohnehin nicht aufzuhalten war? Die Verwandlung einer einst | |
„revolutionären“ Organisation mit einer ganz eigenen politischen Kultur in | |
eine reformerische, eher sozialdemokratische Partei, die in den | |
Mainstream-Medien und -Diskursen aufging, führte jedenfalls zugleich zur | |
Abspaltung einer verzweifelt militanten Linken (und von der wiederum ein | |
terroristischer Untergrund) und zum Erstarken einer rechten und | |
rechtsextremen Opposition, die aus der Abwehr ebendieser | |
reformerisch-demokratischen Allianz entstand, von der zu befürchten war, | |
dass sie der Wirtschaft und der Gesellschaft ein soziales Gewissen | |
abverlangen würde. | |
So war der historische Kompromiss als bewusstes und transparentes Projekt | |
wahrhaft blutig gescheitert; in den Biografien, den Strukturen, den Szenen | |
allerdings vollzog sich die Auflösung der traditionellen Linken in der | |
demokratischen Mitte immer weiter, und zwar nicht nur im Süden, sondern | |
nach und nach in ganz Europa. Wo sich einst linke und | |
bürgerlich-konservative Kräfte unversöhnlich gegenüberstanden, entstand | |
eine demokratische Grunderzählung. Oder sie hätte wenigstens entstehen | |
sollen. | |
Warum aus dem historischen Kompromiss einer kapitalistischen Demokratie mit | |
sozialem Gewissen und einem gemeinschaftlichen Projekt der linken und der | |
bürgerlichen Demokratie nichts wurde, dafür gibt es gewiss zahlreiche | |
Ursachen, und manche von ihnen reichen so tief in die Geschichte wie die | |
Wurzeln der Oliven ins Erdreich. Eine davon wird gerade in Deutschland | |
sichtbar: die Verweigerung der bürgerlichen Rechten. | |
## Bürgerliche Rechte schreckt zurück | |
Dabei geht es ebenso um eine Partei, [2][„Die Linke“], die geradezu | |
vorbildhaft alle Voraussetzungen des historischen Kompromisses erfüllt, und | |
der die mehr oder weniger christliche Demokratie dennoch (oder vielleicht | |
gerade deswegen?) die Zusammenarbeit verweigert, wie um die | |
postmarxistischen, linksliberalen Diskurse und Kritiken, die in den | |
öffentlichen Auseinandersetzungen einfach keine Rolle mehr spielen. Ein | |
großer Teil der bürgerlichen Rechten schreckt vor dem historischen | |
Kompromiss so sehr zurück, dass man sich eher mit der demokratiefeindlichen | |
Rechten als mit der demokratischen Linken verbündet. | |
Aber erinnern wir uns: Das Scheitern des historischen Kompromisses führte | |
nicht nur zur Auflösung des PCI, sondern auch zum Absturz der DC, und | |
ebendies vollzieht sich gerade in Deutschland, wenngleich natürlich auf | |
eine ganz eigene Weise. [3][Die Unfähigkeit der „bürgerlichen Rechten“] zu | |
einer breiten demokratischen Allianz und zu einem historischen Kompromiss | |
zwischen rechter Beharrung und linker Kritik zersetzt schließlich auch die | |
eigene Organisation und den eigenen Diskurs. Und zersetzt die Demokratie. | |
Eine lange Geschichte mit alten Wurzeln; unter Oliven, so scheint’s, kann | |
man nicht geschichtslos sitzen, nicht absehen von den Taten und Untaten der | |
Menschen. Oliven sind Kulturpflanzen, das heißt, sie sind den Umgang mit | |
Menschen gewöhnt, und vielleicht haben sie auch ein Gedächtnis dafür. | |
Mag sein, es ist ihre Individualität, die Olivenbäume für viele Menschen | |
zum Synonym für etwas Heimatliches macht. Geschichten vom Verlust der | |
Heimat, aus Sizilien, aus Griechenland, aus Palästina, aus dem ehemaligen | |
Jugoslawien, handeln oft vom Verlust solcher Bäume und der | |
Möglichkeit/Unmöglichkeit einer Rückkehr zu ihnen. Sie sehen aus, als wären | |
sie voller Geschichten, schöner und schrecklicher. Und beim Gespräch über | |
sie mag man daran denken, dass man nichts vergessen, aber auch die Hoffnung | |
nicht zu früh aufgeben soll. Auch wenn es wieder einmal gründlich | |
verpfuscht ist, was der Brecht für die Nachgeborenen, also uns, beim | |
Gespräch über Bäume erhoffte: Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer sei. | |
10 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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