| # taz.de -- Die Wahrheit: Vom Zupfen der Zitzen | |
| > Wie die Bundeswehr oder der Drogendealer aus der Nachbarschaft: | |
| > Neuerdings wirbt auch die Bauernlobby in Schulen für ihr Angebot. | |
| Bild: Anschaulicher Lehrunterricht: Der Bauer darf Bier, die anderen müssen Mi… | |
| Offenbach, Montagmorgen, 9.30 Uhr. Große Pause an der | |
| Theodor-W.-Adorno-Realschule. Patrick Peterson und sein Kollege Alfons Dung | |
| von der Bauernlobby, beide selbst mit Landwirtschaftshintergrund, betreten | |
| den Pausenhof. Heute wollen sie den Kindern zeigen, wo die Kuh die Glocken | |
| hängen hat. Denn die Realität ist erschreckend: Immer weniger Stadtkinder | |
| wissen Bescheid über Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion. Der | |
| durchschnittliche Fünftklässler kann Gedichte in vier Sprachen analysieren, | |
| eine Atombombe aus 100 Prozent Recycling-Materialien herstellen und gewinnt | |
| eine Runde Fortnite, selbst wenn er den Controller mit den Zehen bedient. | |
| Dafür ist er vollkommen unfähig, wenn es darum geht, eine handelsübliche | |
| Kuh zu bedienen. | |
| „Das liegt auch am verkackten Lehrplan“, weiß Alfons Dung und sagt es frei | |
| heraus. „Scheiße, wir brauchen endlich ein Fach namens Landwirtschaft. Die | |
| Kinder lernen so viel Mist, und das wirklich Wichtige bleibt auf der | |
| Strecke. Das sollte denen im Kultusministerium mal jemand pupsen, aber die | |
| sind ja zu beschäftigt damit, ihre eigenen Fürze zu riechen!“ | |
| Peterson lacht und stimmt ihm zu. Die Anerkennung des Bauernstandes sinke | |
| rapide, auch und gerade unter Schülern. Statt bis zum Greisenalter an | |
| runzeligen Zitzen zu zupfen oder Pferde zu besamen und eines Tages durch | |
| einen Stromschlag in der Scheune einsam im Ferkelkot zu sterben, wollen die | |
| Kinder heute vor allem eines: Cloud-Rapper werden und sich mit Hustensaft | |
| berauschen. | |
| Von den Tischtennisplatten kommt eine Clique in Trainingshosen | |
| herübergetrottet und zieht Peterson und Dung Geldbeutel und Handys ab. Zum | |
| Tausch drückt Peterson ihnen die neue Schulhof-CD des Deutschen | |
| Bauernverbandes in die Hände. Darauf finden sich Songs wie: „Old MacDonald | |
| had a farm“, „No Milk Today“ und „Strawberry Fields Forever“. Songs m… | |
| Message, Songs zum Schunkeln. Peterson, ehemaliger Schweinehirt aus Rodgau, | |
| weiß schließlich am besten, womit man Mäuse fängt: mit Speck. Und da das | |
| bei Kindern und Jugendlichen nicht funktioniere, hätten sie sich eben für | |
| die CD entschieden. | |
| ## Glockenläuten für junge Seelen | |
| Heute habe er ein gutes Gefühl. Wenn die Schwalben noch vor dem ersten | |
| Glockenläuten von den Dächern zwitscherten, sei der Ertrag an jungen Seelen | |
| immer am reichsten. Das habe schon sein Großvater gewusst, der bereits vor | |
| dem Krieg Lobbyarbeit betrieben habe. | |
| „Damals allerdings nicht für die Bauern, sondern für Hitler“, sagt | |
| Peterson. Die Pausenglocke schlägt. „Scheiße, scheiße – Beeilung jetzt!�… | |
| ruft Dung, der vor noch nicht allzu langer Zeit einen eigenen Hof betrieben | |
| hat, bis er wegen eines Arbeitsunfalls in der Jauchegrube zum DBV habe | |
| wechseln müssen. Ein „scheißguter Job“, wie er sagt. Trotzdem: Manchmal, | |
| wenn er im Büro sitze, fehle ihm eben einfach dieser ganz eigene Geruch der | |
| Landwirtschaft, den er mit Worten nicht beschreiben könne. | |
| Peterson und Dung eilen in das mühevoll mit Tesafilm und Windowcolour | |
| restaurierte Schulgebäude. Heute sollen sie eine Vertretungsstunde in der 9 | |
| a halten. Klassenlehrer Ludwig Semagol ist für sieben Monate in Neuseeland, | |
| um seinen Burnout auszutherapieren. So lange beschäftigten sich die Schüler | |
| selbst, und ab und an käme eben jemand wie Peterson und Dung oder eine | |
| Polizeistreife vorbei, erklärt ihnen Rektor Berentzen, ehe er sie in den | |
| Raum geleitet. Auch wenn er schon oft vor einer Klasse wie dieser gestanden | |
| habe, sagt Dung, schlotterten ihm doch jedes Mal wieder die Knie wie einem | |
| frisch geborenen Kalb. | |
| „Morgen, Kinder!“, sagt sein Kollege Peterson. „Guten Morgen!“, kommt es | |
| phlegmatisch zurück. Stifte, Papierkugeln und ein angelutschter Dürüm | |
| landen an der Tafel. „Na, wer von euch weiß, woher unsere Nahrung kommt?“, | |
| fragt Peterson unbeirrt. Keine Reaktion. Also packt Dung ihre Geheimwaffe | |
| aus: den Lobbyistenkoffer mit dem Anschauungsmaterial und den Gratisproben. | |
| „Von echten Bauern!“, ruft Dung und pfeffert gut gelaunt eine Auswahl an | |
| Mortadella, Salatköpfen und Eiern in die Runde. Mit Freude beobachtet er, | |
| wie sich die Schüler mit ihrer typisch kindlichen Neugier den Eiglibber aus | |
| dem Haar friemeln. „Könnt ihr behalten!“, sagt Dung großzügig und gibt | |
| seinem Kollegen das Zeichen, die Powerpoint-Präsentation abzufahren. | |
| ## Brummen wie eine Melkmaschine | |
| Das Licht geht aus, der Beamer brummt wie eine Melkmaschine. Der Rest ist | |
| Routine. Zu Gema-freiem Warteschleifentechno sehen die Kinder Bilder von | |
| typischen Landwirtschaftssituationen: sich im Wind wiegender Weizen, eine | |
| gefleckte Kuh mit Grashalm im Maul und ein Bauer bei der Ferkelkastration. | |
| Einer sommersprossigen Schülerin in der ersten Reihe kommt prompt die | |
| Mortadella wieder hoch. Doch Dung ist sofort zur Stelle und reicht ihr eine | |
| neue Wurstscheibe. „Hab das Schweinchen selber aufgezogen!“, sagt er und | |
| zwinkert ihr zu. Zu Tränen gerührt verlässt das Mädchen den Klassenraum. | |
| Hier sind noch echte Emotionen im Spiel. | |
| Dann geht alles ganz schnell: Eine grelle Sirene schwillt langsam an und | |
| wieder ab. Wieder und wieder. Jemand platzt zur Tür herein. Der Feueralarm | |
| sei ausgebrochen, erklärt Rektor Berentzen und entschuldigt sich. Das gebe | |
| es immer wieder mal, wenn ein Lehrer partout „keine Lust mehr hat auf die | |
| ganze Scheiße hier“. | |
| Ausgerechnet heute, denkt Peterson. Dabei hätten sie doch noch gar nicht | |
| ihren regierungskritischen Milchpreis-Rap aufgeführt. Johlend wuseln Kinder | |
| aus jeder Tür des Gebäudes wie Mäuse aus einem Geräteschuppen. Immerhin – | |
| das Wichtigste hätten sie den Kindern ja mitgeteilt, sagt Dung: | |
| „Landwirtschaft geht auch in cool.“ – „Logo!“, stimmt Peterson ein und | |
| gönnt sich ein Stückchen übriggebliebene Mortadella. Gemächlich gehen sie | |
| zurück auf den Hof, steigen auf ihre Diensttraktoren und tuckern in die | |
| wohlverdiente Mittagspause. | |
| Ihr Job hier ist getan: Der Samen wurde gesät, nun muss das junge Gemüse | |
| eben selbst sehen, wo und wie es Wurzeln schlagen will. | |
| 4 Mar 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Lichter | |
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