# taz.de -- Unter Kritikern bei der Berlinale: Der Witz beim Film | |
> Der Witz ist ja, dass der größte Teil der Handlung im Kopf des Zuschauers | |
> stattfindet. Auch bei der Berlinale. Und im Leben genauso. | |
Bild: Gerade dreht sich alles um den Bären | |
Am Potsdamer Platz kackt ein winzig kleiner Hund direkt vor den Eingang vom | |
Ritz-Carlton. Eine der lustigsten Szenen an diesem Berlinale-Dienstag. Ich | |
darf für Radio Eins Wettbewerbsfilme gucken und abends live on air drüber | |
lästern. Ich freue mich schon. J. schwärmt von Hillary, die sie heute | |
morgen getroffen hat. Ob Hillary Clinton im Ritz-Carlton wohnt? Keine | |
Ahnung. | |
Der Witz beim Film ist ja, dass der größte Teil der Handlung im Kopf des | |
Zuschauers stattfindet. Ist beim Lesen nicht anders. Und im Leben genauso. | |
Wir sind konditioniert auf eine bestimmte Art von Erzählung. Die | |
Fortsetzung der Handlung nach allen Seiten. Zukunft, Vergangenheit, | |
Nebenstränge. Wenn man zu viel davon hat, kann man Tabletten nehmen. Oder | |
Schriftstellerin werden. | |
## Die Kacke ist in der Welt | |
Konkretes Beispiel: Der Hund hat gekackt, daraus folgt: Die Kacke ist in | |
der Welt. Was passiert mit der Kacke? Räumt sie jemand weg oder tritt | |
jemand rein? Wenn ja, wer? Und wer würde das verfilmen? | |
1. Alfred Hitchcock. Eine platinblonde Frau im Kostüm mit vulvafarbener | |
Handtasche nähert sich auf Pumps und sieht den Haufen nicht, da sie ihr | |
Spiegelbild im Hotelfenster prüft. Gefilmt aus der Froschperspektive, der | |
Haufen unscharf im Vordergrund. Wir sind der Haufen. | |
2. Quentin Tarantino: Die blonde Frau trägt ein hautenges | |
Lackleder-Catsuit, holt eine Pumpgun hinter ihrem Rücken hervor und | |
erschießt den Haufen. | |
3. Christian Petzold: Frau im Trenchcoat kommt im Auto angefahren, steigt | |
über den Haufen und lässt ihre Zigarette hinein fallen. | |
„Und, wie war das Filmegucken zwischen den ganzen Kritikern?“, fragt Knut | |
Elstermann mich abends. „Komisches Völkchen, oder?“ | |
„Na ja“, sage ich, als ich in dem einen Kino den Hustenanfall hatte, da hab | |
ich so ’n bisschen Feindseligkeit gespürt, aber ansonsten.“ | |
Die Corona-Hysterie kocht langsam hoch und auf dem Damenklo vom Cinemaxx | |
war schon zu Beginn des Tages nur ein Seifenspender gefüllt. | |
## Postpubertäre Wichsfantasie | |
Die Filme, die ich gucken soll, drehen sich beide um das Thema | |
Kindesmissbrauch. Genau das Richtige für so ’ne Jungmutter wie mich. Der | |
erste, „Favolacce“, ist die (Entschuldigung!) postpubertäre Wichsfantasie | |
eines Sommers im Speckgürtel von Rom. Unzusammenhängende Sequenzen von | |
überhitzten Gemütern in überhitzter Landschaft. Laut Katalogtext ein | |
„wildes, erstaunlich reifes Werk“. Ich sehe nur Arsch und Titten einer | |
schwangeren Minderjährigen und Kinder in Unterhosen, ohne dass es | |
irgendeiner erzählerischen Logik folgt. Pädoporno. | |
Der zweite Film heißt [1][„Never Rarely Sometimes Always“] und wird | |
hoffentlich den Wettbewerb gewinnen. Autumn ist 17 und schwanger. Die | |
Gynäkologin in dem Kaff in Pensylvania, aus dem sie kommt, zeigt Autumn, | |
als sie nach den Möglichkeiten eines Schwangerschaftsabbruchs fragt, eine | |
VHS-Kassette mit dem Titel „The hard truth“, in der ein Herr mit dem Charme | |
eines Gebrauchtwarenhändlers über das Wunder des Lebens schwadroniert. | |
Gemeinsam mit ihrer Cousine Skylar macht sich Autumn dann auf den Weg nach | |
New York, um die Abtreibung dort vornehmen zu lassen. Vollkommen | |
unaufgeregt zeigt der Film die Widernisse, die sich den Mädchen in den Weg | |
stellen, von nervigen Anbaggerern über Geldprobleme und Schlafmangel, weil | |
sie keine Unterkunft haben, bis zu besoffenen Exhibitionisten in der | |
U-Bahn. Die Kamera begleitet die beiden Mädchen im wörtlichen Sinne, sie | |
ist bei ihnen. Es ist ein Film über weibliche Solidarität, ein feines Stück | |
Kino. | |
Wem der Hund gehörte, weiß ich immer noch nicht. | |
29 Feb 2020 | |
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[1] /US-Film-im-Berlinale-Wettbewerb/!5664402 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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