# taz.de -- Gefährliche Sekten in Berlin: Der Nährboden ist da | |
> Immer mehr christliche Fundamentalisten tummeln sich in Berlin mit | |
> verführerischen Angeboten, sagt die landeseigene Sekteninfo. | |
Bild: Mai 2019: Ein Mann demonstriert am Potsdamer Platz gegen eine Veranstaltu… | |
BERLIN taz | Mit Namen und Begriffen ist das so eine Sache. Die Leitstelle | |
für Sektenfragen, angesiedelt in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend | |
und Familie, heißt jetzt „Sekteninfo Berlin“. Der Grund laut Senatorin | |
Sandra Scheeres (SPD): Man habe aus dem ganzen Bundesgebiet Anfragen | |
bekommen, der neue Name mache die Zuständigkeit für Berlin klarer. | |
Gleichzeitig benutzt das zweiköpfige Team den Begriff „Sekte“ intern gar | |
nicht, wie Jennifer Neumann am Freitag vor der Presse betont. Der sei sehr | |
stigmatisierend. Stattdessen rede man von „konflikthaften Angeboten“. Eine | |
Liste potenziell gefährlicher Sekten führe man auch nicht. | |
So fallen bei der Vorstellung des Jahresberichts dann auch nur zwei Namen: | |
Scientology und Shinchonji, der Name einer koreanischen Neureligion, die in | |
jüngster Zeit sehr stark in Berlin missioniere. Die Bedeutung von | |
Scientology – deren neu erbaute monströse Zentrale in Charlottenburg 2008 | |
den Anlass zur Gründung der Leitstelle gab – lässt hingegen nach. | |
Nur 34 von knapp 600 Anfragen an die Sekteninfo betrafen 2019 noch diese | |
Organisation. Die aktuelle Broschüre über Scientology stammt aus dem Jahr | |
2011, die „umfangreiche Aufklärungsarbeit“ in der Vergangenheit hat laut | |
Scheeres Wirkung gezeitigt. | |
Gleichwohl berichtet Jennifer Neumann von einem krassen Fall, den sie | |
betreut habe: Eine Person in einer psychischen Krise sei über eine | |
Bekanntschaft zu Scientology nach Berlin gekommen, habe dort für Kurse und | |
Angebote sehr viel Geld ausgegeben und sei letztlich deswegen wohnungslos | |
geworden. Durch die Sekteninfo habe sie vorerst im BetreutenWohnen | |
untergebracht werden können. | |
## Neue Gefahr: Shinchonji | |
Allein 71 der 600 Anfragen betrafen laut Scheeres Shinchonji, die als | |
„Neuoffenbarer“ gelten und ihre AnhängerInnen auf das vermeintliche Ende | |
der Welt vorbereiten. Vor allem für internationale Studierende sei die | |
Gruppe attraktiv. Sie biete viele öffentliche Veranstaltungen an, ohne | |
dabei ihren Namen zu offenbaren, erklärte Neumann. Weil diese | |
Missionierungsstrategie instransparent sei, habe man sich entschlossen, den | |
Namen zu nennen. Viele Menschen würden von der Gruppe regelrecht | |
aufgesogen. Sie verbrächten so viel Zeit etwa in Bibelkreisen, dass Studium | |
und Beruf bisweilen deshalb abgebrochen würden. | |
Die meisten Anfragen im vergangenen Jahr betrafen mit fast 20 Prozent | |
evangelikale und fundamentalistische Christen. Dort sei das Angebot geprägt | |
durch viele kleine, oftmals unbekannte Gemeinschaften. „Jede dritte Gruppe, | |
die uns da genannt wird, kennen wir bis dato nicht“, räumt Neumann ein. | |
Viele selbst ernannte Pastoren kämen nach Berlin und gründeten Gruppen, in | |
denen der Wortlaut der Bibel die Lebensgrundlage bilde, was oft zur | |
wortwörtlichen Verteufelung von Homosexualität oder vorehelichem Sex führe | |
oder auch zur Ablehnung der Evolutionstheorie und des Biologieunterrichts | |
in Schulen oder zur Reduzierung von Frauen auf die Rolle im Haus. Selbst | |
„Dämonenaustreibungen“ habe es gegeben. | |
Die Folge nicht nur dieser Maßnahme: Schuldgefühle bei vielen, bei denen | |
eine „Therapie“ oder „Behandlung“ nicht funktioniere; die Schuld werde | |
meist den Betroffenen zugeschoben. Die sollten zum Beispiel mehr beten. | |
## Gegen die Werte der pluralistischen Gesellschaft | |
„Das alles steht im Widerspruch zu unserer pluralistischen Gesellschaft“, | |
erklärt Jennifer Neumann. Deswegen kläre man über diese Gruppen auf und | |
helfe Betroffenen, Angehörigen und Aussteigewilligen, anfangs meist | |
telefonisch. Natürlich gebe es Grenzen, schließlich garantiert das | |
Grundgesetz die Religionsfreiheit. | |
Im Vergleich mit den Vorjahren hat die Nachfrage nach Beratungen stark | |
zugenommen. 2016 bekam die Stelle erst 366 Anfragen, schon 2018 mit 597 | |
fast doppelt so viele. „Die Sehnsucht vor allem junger Menschen nach | |
Stabilität ist gestiegen, der Nährboden ist also da“, erklärt Jennifer | |
Neumann die Entwicklung. Bei den Anfragenden gebe es hingegen keine | |
Auffälligkeiten. „Da ist alles vertreten: jede Bildungsschicht, jede | |
soziale Schicht, auch die Anfragen von Frauen und Männern halten sich die | |
Waage.“ | |
21 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
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