# taz.de -- Antisemitismus im Karneval: Kein Witz | |
> Hakennasen, Schläfenlocken und das Bild vom „wuchernden Juden“: Im | |
> belgischen Aalst wird Karneval zum antisemitischen Spektakel. | |
Bild: Karneval 2019: Mit diesen Figuren trat die Gruppe Fischmäuler auf | |
Bei so viel Habgier kann selbst der größte Teller nicht mithalten! In hohem | |
Bogen fliegt ein Teil der Spezialitäten zu Boden, Aufschnitt und | |
Fleischstücke, während der Mann, der sich dies alles aufgeschaufelt hat, im | |
Weglaufen noch für das gute Mahl dankt. Hinter ihm ballt ein Händler die | |
Faust. „Wenn du weiter so die Preise drückst, kann ich meinen Laden | |
dichtmachen“, lamentiert er. Was den anderen freilich wenig kümmert, der | |
sich mit süffisantem Grinsen entfernt. Der Mann trägt eine blaue Jacke mit | |
dem Logo der Unesco, einen schwarzen Hut und Schläfenlocken. | |
Anfang Februar hat sich das Delikatessengeschäft Den Olijfboom im Zentrum | |
von Aalst bereits in Schale geworfen für das, was die Kleinstadt zwischen | |
Brüssel und Gent in ganz Belgien bekannt macht: den Karneval. Bunte, | |
comicartige Zeichnungen in den Schaufenstern gehören zu diesem Brauch dazu. | |
Der Olijfboom hat dabei ein Motiv gewählt, das noch deftiger ist als die | |
Wurstwaren, die er anbietet. Emmelien Deshommes, deren Vater nebenan ein | |
spanisches Restaurant betreibt, kommentiert: „Ich würde mich schämen, wenn | |
das unsere Scheibe wäre. Und wenn ich jüdisch wäre und hier vorbeiliefe, | |
fühlte ich mich erniedrigt.“ | |
Es ist ein beklemmendes Déjà-vu, das sich dieser Tage in Aalst einstellt. | |
Der Karneval steht vor der Tür, und wieder tauchen Karikaturen in der Stadt | |
auf, die Juden darstellen sollen. Die am Schaufenster des Feinkostladens | |
zielt eigentlich auf den Bürgermeister, erzählt der Besitzer. Dieser wolle | |
in Kürze ein Restaurant eröffnen. Anscheinend witzelt man in der Stadt, er | |
wolle das Preisniveau unterlaufen. „Wie Juden. Die probieren ja auch immer | |
den besten Preis zu bekommen.“ Woher er das wisse? „Das sagt der | |
Volksmund.“ | |
März 2019, Karnevalssonntag, der große Umzug, Höhepunkt der närrischen | |
Umtriebe. Auf einem Wagen der Gruppe Vismooil’n, was übersetzt so viel wie | |
Fischmäuler bedeutet, sitzen zwei riesige Puppen mit Hakennasen, schwarzen | |
Hüten und Schläfenlocken. Auf der Schulter der einen hockt eine Ratte, zu | |
beider Füßen liegen Geldsäcke. Dahinter tanzen die ähnlich verkleideten | |
Mitglieder der Gruppe auf Geldkisten zu den landesweit beliebten | |
Billig-Beats, während aus den Lautsprechern aufgekratzte „sjalommekes“- | |
Rufe klingen – ein flämischer Dialektausdruck, der sich mit „Schalömchen�… | |
übersetzen lässt. | |
„Sabbatjahr 2019“ war der Titel der Darbietung, die Aalst weltweit in die | |
Schlagzeilen brachte. Den Begriff wählte die Gruppe, weil sie knapp bei | |
Kasse war und darum einen Wagen aus dem Vorjahr ohne viel Aufwand | |
recycelte. Die Unesco, die das Aalster Brauchtum seit 2010 als | |
Weltkulturerbe listete, zitierte Bürgermeister Christoph D’Haese an ihren | |
Sitz nach Paris. D’Haese, der die Umtriebe der Narren stets mit Satire und | |
Meinungsfreiheit rechtfertigt, musste Auskunft zum Hintergrund dieses | |
Brauchtums geben. Doch bevor die UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft | |
und Kultur über einen Ausschluss entscheiden konnte, zogen sich die Aalster | |
selbst zurück. „Wir haben die Vorwürfe satt“, so D’Haese, Mitglied der | |
flämisch-nationalistischen Partei N-VA. „Wir sind keine Antisemiten oder | |
Rassisten. Wer das weiter behauptet, ist böswillig.“ | |
Was aber hat man in Aalst eigentlich mit Juden am Hut? Es gab in dieser | |
Stadt mit ihren knapp 90.000 Menschen nie eine Gemeinde, man kennt weder | |
jüdische Einwohner noch Organisationen. Wieso tanzt man um diese Puppen | |
herum, die an Karikaturen auf Stürmer-Niveau erinnern, und gibt danach die | |
Unschuld vom flämischen Lande? Und wie kommt man darauf, nach all dem zur | |
neuen Saison noch einmal nachzulegen? Die besagte Gruppe Vismooil’n nämlich | |
präsentierte unlängst eigens angefertigte Orden, die abermals vermeintliche | |
Juden mit Hakennasen zeigen, versehen mit Losungen wie „Wir lachen über | |
alle“, oder „Unesco. Was für eine Farce“? | |
Die Antwort springt einem nicht direkt ins Gesicht, wenn man am | |
unscheinbaren Bahnhof von Aalst ankommt. Wohl fällt auf, dass dessen | |
Fassade in den Farben der Saison geschmückt ist, Gelb, Rot und Weiß. Im | |
Café des Arcades ein paar Meter weiter ziert ein „Werner“-Schriftzug die | |
Scheiben. Ein Hinweis auf den Kandidaten, den man hier bei der Wahl zum | |
Karnevalsprinzen unterstützte. Der Wirt freilich, der unaufgeregt die | |
mittäglichen Tresengäste bedient, gesteht, dass er zu Karneval immer | |
verreise. Was die Sache mit den Juden betrifft, kann er nicht helfen. Eine | |
jüngere Kundin, im Glas eine knallrote Mischung aus Bier und Grenadine, | |
zuckt nur die Schultern. | |
Es ist ein älterer Gast, der im Vorbeigehen deutliche Worte wählt: „Diese | |
Karikaturen vom letzten Jahr, das war wirklich wie Deutschland in den | |
1930ern.“ Und wie kommt so etwas? „Das weiß ich nicht. Aber was ich weiß, | |
ist, dass hier eine ganze Reihe Rassisten herumlaufen“, sagt er und | |
empfiehlt sich. Die Denderstreek, das Gebiet um den Fluss Dender, ist in | |
Belgien bekannt für stramm-rechte Wahlerfolge. Der identitäre Vlaams Belang | |
ist hier in den letzten Jahren immer stärker geworden. Ist dies der | |
Referenzrahmen der närrischen Abgründe? | |
Die besagte Karnevalsgruppe schreibt in einem Facebook-Post, man habe | |
„ungewollt Traumata und Verletzungen“ verursacht und sich dafür | |
entschuldigt – jedoch ausdrücklich „nicht für die Verwendung von | |
Karikaturen und Spott“. Die Vismooil’n, scheint es, haben in diesen Zeiten | |
ein wenig die Orientierung verloren. „In welchem Schnelltempo verändert | |
sich die Welt um uns herum? Sind wir weltfremd geworden? Oder sind sie | |
weltfremd? Müssen wir uns anpassen? Oder erst recht weitermachen?“, | |
sinniert man in derselben Erklärung. „Sollen wir trotzig weiter gegen den | |
‚Rest‘ angehen? Und dieser Rest: Wer ist das? Die ganze Welt? Oder der | |
intellektuelle, politisch korrekte Teil?“ | |
Die Reaktionen zeugen von wachsender Bunkermentalität: „Karneval ist für | |
Außenstehende nicht zu verstehen. Schlimm genug, dass ihr es so was wie der | |
Unesco erklären musstet“, schreibt jemand. „Nur noch regionale Presse | |
zulassen“, schlägt jemand anders vor. „Der Rest versteht es doch nicht und | |
tut alles, um einseitig zu berichten.“ Eine dritte Antwort fordert: „Lass | |
Aalst an Karneval den Aalstern. Ich finden es am Sonntag schon nicht mehr | |
schön, weil zu viele Fremde rumlaufen. Und damit meine ich nur ‚Nicht aus | |
Aalst.‘“ Was einer der folgenden User offenbar doch anders versteht: „Wei… | |
du was, die Ausländer können nichts mehr ab.“ | |
## Schläfenlocken-Attrappen im Angebot | |
Wohin wendet man sich, wenn man inmitten dieser Überfremdungangst nun | |
verstehen will, was die Aalster umtreibt mit ihrer eigenartigen | |
Juden-Obsession? Das Verkleidungsgeschäft Liebaut, zentrumsnah und eine der | |
beiden traditionellen Adressen für alles, was mit Karneval zu tun hat, ist | |
das ästhetische Epizentrum dieser Umtriebe. Der Inhaber, Danny Liebaut, | |
posierte bereitwillig mit schwarzem Umhang, Vollbart und Nasenmaske sowie | |
einem vermeintlich jüdischen Hut am Verkaufstresen, als der Vertreter einer | |
belgischen Tageszeitung vorbeikam. „Voriges Jahr hatte ich das nicht im | |
Sortiment. Aber nach allem Getue mit der Unesco beschloss ich es | |
einzukaufen“, zitiert ihn die Zeitung. | |
Der Umhang ist inzwischen ausverkauft, sagt die Chefin, die an diesem | |
Mittag an der Kasse steht. Was die anderen Accessoires betrifft, bestreitet | |
sie, dass diese spezifisch jüdisch sein sollten. „Die Nase ist eine | |
Hexennase“, weist sie auf eine schrumpelige Maske in Plastikverpackung. | |
„Der Umhang kann auch für Schornsteinfeger oder Zorro gebraucht werden. Der | |
Bart für Klabauter und Scheichs.“ In den hinteren Regalreihen zwischen | |
allerlei anderen Kopfbedeckungen findet sich schließlich auch das Modell, | |
das ihr Mann auf dem Foto trug. Fünf Stück sind noch übrig, Material: 100 | |
Prozent Polyester, made in China. „Hoed hat sombrero“, so das Etikett | |
lapidar. Seitlich baumeln zwei dünne Schläfenlocken-Attrappen. | |
Warum sollen all diese Artikel eigentlich zu Juden passen? Sehen die so | |
aus? Eigentlich hat sie noch keinen Juden getroffen, sagt die Inhaberin, | |
und rät: „Da müssen Sie nach Antwerpen.“ Dass Juden letztes Jahr mit | |
Geldsäcken dargestellt wurden, kann sie nachvollziehen. „Das sieht man doch | |
in den Fernsehprogrammen, da sitzen sie in solchen schicken Restaurants.“ – | |
Aber stimmt es überhaupt, dass Juden reich sind? „Das weiß ich nicht.“ | |
Sicher ist sie sich dagegen bei einem: Das, was letzten Karneval in Aalst | |
passierte, hätten „sie“ aufgebauscht. Und das, was jetzt käme, sei durch | |
„ihre“ Reaktion provoziert worden. Wer „sie“ ist? „Juden!“ Immerhin… | |
Türken und andere Minderheiten habe man sich hier im Karneval auch schon | |
lustig gemacht. | |
Tatsächlich wähnen sich manche hiesige Narren als Opfer. Die Vismooil’n | |
haben als diesjähriges Motto „Aalst vogelfrei“ gewählt. Neulich verlosten | |
sie Buttons, auf denen „Keine Zensur in Aalst“ stand oder, in geschriebenem | |
Dialekt, „Zje swie (je suis) Vismooil“, also „Ich bin ein Fischmäuler“. | |
Johan Van der Speeten, Mitglied des Humanistisch Verbond, dessen | |
Niederlassung schräg gegenüber des Verkleidungsgeschäfts liegt, erweist | |
sich als Anthropologe Aalster Befindlichkeiten. „Beim Karneval wird alles | |
und jeder verspottet. Der Zug ist anarchisch und nicht besonders subtil.“ | |
Tatsächlich sorgte er schon 2013 für Empörung, als eine andere Gruppe in | |
Nazi-Uniformen herumlief, mit „Zyklon B“-Dosen in der Hand – als Anspielu… | |
auf die rechte Stadtregierung. | |
„Natürlich gibt es in Aalst wie überall Antisemitismus“, folgert Van der | |
Speeten, der in einem Dorf in der Nähe aufwuchs. „Aber der war letzte | |
Saison nicht die Grundlage. Weil die Leute hier denken, dass der Fall | |
aufgebauscht wurde, befürchte ich, dass es nun noch mehr jüdische | |
Karikaturen geben wird. Wenn Aalster finden, dass man ihnen vorschreibt, | |
über wen sie spotten dürfen oder nicht, wehren sie sich.“ Neulich, bei der | |
Wahl des Karnevalsprinzen, tauchten schon einige Karnevalisten in Kostümen | |
auf, die Juden darstellen sollten, so die Zeitung Het Nieuwsblad, und | |
zitierte einen davon: „Beim Zug werden auch viele Gruppen als Juden | |
verkleidet sein.“ | |
Der Politiker Michael Freilich hat in Aalst versucht zu vermitteln. Er ist | |
nicht nur Jude, sondern sitzt auch für die N-VA im Brüsseler Parlament – | |
die gleiche Rechtspartei, der auch Christoph D’Haese angehört, der | |
Bürgermeister von Aalst. Er betont, die Leitung seiner Partei habe die | |
Auftritte der Karnevalisten verurteilt, der Bürgermeister vertrete jedoch | |
eine eher lokale Perspektive. Fundierte antisemitische Überzeugungen sieht | |
Michael Freilich auf Seiten der Narren eher nicht. Wohl analysiert er, dass | |
ihr Motto, alles und jeden durch den Kakao zu ziehen, nicht ganz zutreffend | |
sei. „Über die ‚Bande von Nivelles‘ – eine Serie ungeklärter Raubübe… | |
in Belgien –, die hier 1985 acht Menschen erschoss, wird auch nicht | |
gespottet. Wenn es da also Selbstzensur gibt, ist es dann so schwer, das | |
beim Holocaust auch zu tun?“ | |
## Eine seltsame Erklärung der Stadtverwaltung | |
Im Stadthaus hat man nach der anhaltenden Aufregung inzwischen Vorkehrungen | |
getroffen. Die PR-Abteilung darf nichts mehr zum Thema sagen, jedenfalls | |
nicht zu einem ausländischen Journalisten. Peter Van den Bossche, der | |
Sprecher von Bürgermeister D’Haese, sagt, er glaube selbstverständlich | |
nicht, dass Juden die Unesco kontrollierten. Aber was haben sie in dieser | |
Stadt denn nun mit Juden? „Nichts! Im Karneval wird nur dargestellt, was | |
aktuell auf der Welt geschieht. Der dicke Bürgermeister, der Fußballklub, | |
der absteigt.“ – Und Juden? „Die haben sie abgebildet, wie man es oft in | |
Filmen sieht. Der klassische Hut, die Locken. Über Stereotype dachten sie | |
nicht nach. Erst später vertieften sie sich darin. Vorher wusste man kaum | |
etwas darüber.“ | |
Es kommt vor, dass einem in Aalst, einer gänzlich unspektakulären | |
Kleinstadt in der belgischen Provinz Ostflandern, ein Schauer über den | |
Rücken läuft. Und man realisiert, dass dies der nüchterne Zustand ist. | |
Sozusagen die Wohlfühlversion. Wie wird es sein, wenn sie demnächst drei | |
Tage lang ohne Pause an den Zapfhahn gekoppelt wird? | |
18 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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