# taz.de -- Brexit und Reaktionen: Wer baut hier Mist? | |
> Mit Empire-Sehnsucht hat der Brexit nichts zu tun. Im Gegenteil: | |
> Großbritannien hat Deutschland die Fähigkeit voraus, andere ziehen zu | |
> lassen. | |
Bild: Die anderen einfach mal ziehen zu lassen, hat die deutsche politische Kul… | |
Vor vielen Jahren saß auf dem Sofa eines Engländers einmal ein Inder aus | |
Uganda. In Uganda hatte gerade der brutale Militärdiktator Idi Amin die | |
Macht übernommen und die indischstämmige Minderheit, die seit der | |
britischen Kolonialzeit dort lebte und das Wirtschaftsleben dominierte, | |
hinausgeworfen. Großbritannien, die alte Kolonialmacht, nahm die | |
Vertriebenen auf, es herrschte Entsetzen über den Niedergang der „Perle | |
Afrikas“ nur zehn Jahre nach der Unabhängigkeit. | |
Der Engländer, im Empire groß geworden, hörte sich das an und sagte | |
sinngemäß: „Da sieht man, was die für Mist bauen, wenn man sie lässt.“ … | |
Inder erwiderte: „Die finden nicht, dass sie Mist bauen“ – They don’t t… | |
they’re making a mess. | |
Der Engländer erzählte diese Geschichte noch Jahrzehnte später, denn die | |
Erwiderung hatte ihn zum Nachdenken gebracht. Es war eine klassische | |
postkoloniale Selbstreflexion. Ein Kolonialreich aufzugeben, wie es die | |
Briten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg taten, heißt eben | |
nicht nur, sich aus der Verwaltung von Territorien zurückzuziehen. | |
Es beinhaltet auch den eigenen Mentalitätswandel: einstige Untertanen als | |
freie Menschen anzuerkennen. Das ist nicht leicht. Es schwinden darin | |
Gewissheiten, ganze Lebensgeschichten verlieren ihre Rechtfertigung. Manche | |
scheitern daran. Aber der erste Schritt dorthin ist die Erkenntnis über die | |
ehemals kolonisierte Nation: They don’t think they’re making a mess. | |
## Ablehnung und Geringschätzung | |
Deutschland hat nie dekolonisiert. Es verlor seine Kolonien im Ersten | |
Weltkrieg an andere Kolonialmächte. Nie hat Deutschland ein fremdes Land | |
selbst in die Unabhängigkeit entlassen, nie hat es aus freien Stücken Macht | |
über andere abgegeben. | |
Vielleicht ist das ein Grund, dass in Deutschland wie kaum irgendwo sonst | |
der [1][Brexit] auf so viel Häme und Hass trifft, auf allgemeine Ablehnung | |
und Geringschätzung. Deutschland hat nie selbst akzeptiert, dass andere | |
Länder sich dem einmal oktroyierten deutschen Willen entziehen können; es | |
wurde immer von außen dazu gezwungen, in verlorenen Kriegen. Postkoloniale | |
Selbstreflexion ist kein Teil der deutschen Geschichte und gehört in | |
Deutschland nicht zur eigenen Lebenserfahrung. | |
Die EU ist zwar kein Empire und Großbritannien ist keine Kolonie, aber die | |
Parallelen sind deutlich: Beim Austritt eines EU-Staates müssen die | |
verbleibenden Mitglieder nun einmal hinnehmen, dass jemand sich freiwillig | |
von einem ansonsten als alternativlos dargestellten Projekt löst. Das fällt | |
manchen gerade im intellektuellen und medialen Spektrum sehr schwer. | |
Die mit der EU groß gewordenen Deutschen karikieren die Figur Boris Johnson | |
als skrupellosen Clown, dem es nur um die eigene Glorie geht und dem es | |
egal ist, dass er sein Land dabei in den Abgrund führt – genau dieselben | |
Klischees, mit denen in den 1970er Jahren die mit dem Empire aufgewachsenen | |
Engländer über Figuren wie Idi Amin lästerten. In Onlinekommentarspalten | |
und Debatten zeigt man hochnäsig auf die „Inselaffen“, denen es nur recht | |
geschieht, wenn sie ins Verderben reiten. | |
## Dumpfe Vorurteile | |
Die selbstkritische postkoloniale Bereitschaft, die anderen einfach mal | |
ziehen zu lassen, hat die deutsche politische Kultur nie verinnerlicht. Ein | |
britischer Dozent an einer afrikanischen Universität, der seinem Gastland | |
pauschal „Dummheit“ unterstellt, „Misere“ prophezeit und sich nebenbei … | |
die „seltsame Währung“ mit „komischen Münzen“ mokiert, würde vermutl… | |
umgehend als Rassist gebrandmarkt und müsste um seinen Job bangen. | |
Ein deutscher Dozent an einer britischen Universität zieht bedenkenlos auf | |
diese Weise über Brexit-Großbritannien her, [2][vor zwei Tagen in der taz]. | |
Wenn es um die Briten geht, pflegt eine gewisse Spezies deutscher | |
Intellektueller dumpfe Vorurteile, als seien es höhere Eingebungen. | |
Wie die Mehrheit der Briten tatsächlich denkt, fühlt und handelt, ist aus | |
dieser Perspektive unwichtig. Lieber pflegt man das einfache Narrativ des | |
Brexit als Ausdruck geistiger Umnachtung, ein Ergebnis populistischer | |
Manipulation eines blöden Volkes im ewigen Niedergang. | |
Die immer gleichen Behauptungen werden immer wieder zu Tatsachen erklärt: | |
der EU-Austritt schadet der britischen Wirtschaft; auf der Insel wachsen | |
Hass und Fremdenfeindlichkeit; EU-Bürger kehren England verängstigt den | |
Rücken; die Brexiteers wollen an das verflossene Empire anknüpfen; das | |
britische politische System ist antiquiert und funktioniert nicht; Brexit | |
bedeutet Chaos; Großbritannien kann allein nicht in der Welt bestehen. | |
## Mehr EU-Bürger wandern ein als aus | |
Dabei reicht es, mit einigermaßen offenen Augen und Ohren in Europa | |
unterwegs zu sein, um sich eines Besseren zu überzeugen. Es wandern bis | |
heute mehr EU-Bürger nach Großbritannien ein als von dort aus. | |
Alltagsrassismus und Standesdünkel sind in Frankreich verbreiteter als in | |
Großbritannien. Der Mindestlohn ist in Deutschland niedriger, der | |
Billiglohnsektor größer und der gewalttätige Rechtsextremismus viel | |
stärker. | |
Nicht der Brexit produzierte politisches Chaos in Großbritannien, sondern | |
der Versuch, ihn zu verhindern. Die antiquiert anmutenden Politikrituale in | |
London haben sich in Zeiten politischer Spannungen als durchaus belastbar | |
erwiesen. Kanada, mit einer viel kleineren Wirtschaft als Großbritannien, | |
wird von der EU als ebenbürtiger Verhandlungspartner anerkannt und kann | |
seine Interessen in der Welt durchaus alleine wahren. | |
Wenn Großbritannien so schlimm ist wie behauptet, wieso riskieren dann | |
Tausende von Menschen jedes Jahr ihr Leben, um aus Frankreich und Belgien | |
illegal auf die Insel zu gelangen? In Macrons Frankreich, nicht in Johnsons | |
Großbritannien werden außereuropäische Flüchtlinge gejagt. An der | |
französischen Kanalküste, nicht an der englischen sind Rechtsextremisten | |
die stärkste politische Kraft. | |
## Der Rahmen der Problemlösung wird verändert | |
Damit sollen die massiven sozialen Probleme Großbritanniens keineswegs | |
geleugnet werden. Britische Städte veröden; die Missstände auf dem | |
Wohnungsmarkt, im Gesundheitswesen und in der Altenpflege schreien zum | |
Himmel; Bandenkriminalität und Perspektivlosigkeit haben ganze Wohngebiete | |
im Griff. | |
In der Schattenwirtschaft der Migranten herrscht krasse Ausbeutung; viele | |
Menschen krebsen am Rande des Existenzminimums und der Erschöpfung herum | |
und können zu Boris Johnsons Versprechungen einer „Freisetzung der | |
Möglichkeiten dieses Landes“ nur müde lächeln: Sie arbeiten schon bis zum | |
Umfallen, freizusetzen gibt es da nichts. | |
Aber wenn die EU solche Probleme lösen könnte, hätte man das irgendwann | |
merken müssen. Die Wahrheit ist: Weder die EU-Mitgliedschaft noch der | |
Brexit an sich lösen irgendein Problem. Sie verändern aber den Rahmen der | |
Problemlösung. | |
Was daran aus deutscher Sicht so schlimm sein soll, lässt sich schwer | |
erklären, außer man betrachtet die EU als ein Herrschaftssystem, dessen | |
einzelne Bestandteile sich auf immer und ewig zu fügen haben – eine | |
Sichtweise, für die Deutschland während der Eurokrise zu Recht von | |
Krisenstaaten wie Griechenland kritisiert worden ist. Großbritannien ist | |
das erste EU-Land, das sich nicht fügt, damit durchkommt – und das stößt | |
manchen gewaltig auf. | |
## London ist das Tor zu den Kapitalmärkten | |
Die ganzen Brexit-Untergangsszenarien sind dabei zu vergessen. In | |
Großbritannien ist kein einziges der Katastrophenszenarien, das der | |
Wirtschaft 2016 prophezeit wurde, tatsächlich eingetreten. Die aktuellen | |
Wachstumsprognosen sind für Deutschland viel schlechter als für | |
Großbritannien. Ein Beispiel unter vielen ist die Behauptung, die Londoner | |
City – neben New York und Hongkong eines der drei großen globalen | |
Finanzzentren – sei ohne EU-Mitgliedschaft dem Untergang geweiht und | |
Zehntausende lukrative Jobs würden abwandern. | |
Fakt ist: Von 400.000 Arbeitsplätzen am Finanzplatz London sind bislang | |
1.000 in andere EU-Staaten gewandert, 7.000 sollen es werden – und zugleich | |
planen über 1.400 Finanzunternehmen aus anderen EU-Staaten, die um ihren | |
Zugang zur City bangen, erstmals Niederlassungen in London zu eröffnen, was | |
sicherlich mehr als 7.000 Arbeitsplätze schafft. Nicht London braucht die | |
EU, sondern für die EU ist London das Tor zu den Kapitalmärkten der Welt. | |
Das seltsamste Vorurteil ist die in Deutschland verbreitete Behauptung, der | |
Brexit stelle eine Sehnsucht nach dem Empire dar. Die Realität ist, dass | |
das Empire aus dem kollektiven Gedächtnis Großbritanniens fast vollständig | |
verschwunden ist. Schulkinder lernen darüber so gut wie nichts. | |
Debatten wie die in Frankreich noch vor wenigen Jahren, ob in der Schule | |
nicht auch die positiven Seiten der Kolonialherrschaft gelehrt werden | |
sollten, wären in Großbritannien undenkbar. Die Einwanderer aus ehemaligen | |
Kolonialgebieten in Asien, Afrika und der Karibik gehören gesellschaftlich | |
selbstverständlich dazu. Großbritannien hat die Postkolonialität längst | |
verinnerlicht. | |
## Die Leute wollen Veränderung im Guten | |
Wenn der Brexit eine Gefahr für Großbritannien birgt, dann das Risiko einer | |
zu scharfen Wendung nach innen, nach dem Motto: Der Rest der Welt soll uns | |
endlich in Ruhe lassen. Die Entfremdung der Briten von Europa im 21. | |
Jahrhundert lässt sich an zwei politischen Entscheidungen festmachen, beide | |
getroffen vom europhilsten britischen Premierminister Tony Blair: die | |
Abschaffung des verpflichtenden Fremdsprachenunterrichts an Oberschulen und | |
die Öffnung des Arbeitsmarkts für osteuropäische Zuwanderer. | |
Beides geschah fast gleichzeitig, mit unvorhergesehenen Folgen – es kamen | |
nicht wenige Hunderttausend Arbeitsmigranten aus den EU-Beitrittsstaaten | |
Osteuropas, sondern mehrere Millionen; und die britischen Schüler strömten | |
nicht etwa freiwillig in den Sprachenunterricht, sondern gaben ihn gerne | |
auf. Das Desinteresse an Europa genoss quasi staatlichen Segen, als die | |
Sparpolitik infolge der Finanzkrise die vielen europäischen Zuwanderer | |
plötzlich als Überforderung der Infrastruktur und der Sozialsysteme | |
dastehen ließ. | |
Das war die Saat, die im Brexit-Votum aufging. Mit Empire hat das nichts zu | |
tun, wohl aber mit einem Wunsch nach problem- und bürgerorientierter | |
Politik. Der Brexit und der Wahlsieg Boris Johnsons entspringen einer | |
Erwartungshaltung: Regiert endlich besser. Lasst die Milliardensummen, die | |
in Großbritannien umherschwappen, den Menschen zugutekommen. Die Leute | |
wollen Veränderung im Guten. They don’t think they’re making a mess. | |
Eine postkoloniale Selbstreflexion würde dies anerkennen und nicht | |
verächtlich machen. Deutschland kann hier noch viel lernen. Gerade von | |
Großbritannien. | |
1 Feb 2020 | |
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[1] /Brexit-nach-47-Jahren-in-der-EU/!5660850 | |
[2] /Grossbritannien-vor-dem-Brexit/!5660629 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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