| # taz.de -- Versicherungswesen in Irland: Abzocke im großen Stil | |
| > Viele Firmen nehmen ihre Kunden mit überhöhten Prämien aus. Das könnte | |
| > manchen Versicherten sogar die Existenz kosten. | |
| Bild: Taxis in Dublin. Sie zu nutzen, kommt für viele billiger als eine eigene… | |
| Dublin taz | Mein Nachbar Seán Murphy hat einen Zettel an seinen Kleinwagen | |
| geklebt: „Zu verkaufen – 3.000 Euro.“ Dabei hatte er das Auto erst vor | |
| kurzem gekauft. „Es sollte für meine Tochter sein, sie ist 19 und hat vor | |
| ein paar Monaten ihren Führerschein gemacht“, sagt er. „Die Versicherung | |
| verlangt fast 6.000 Euro im Jahr.“ | |
| Irlands Kfz-Versicherungen betreiben Abzockerei im großen Stil, das hat | |
| eine Untersuchung der irischen Zentralbank vor kurzem ergeben. Die Kosten | |
| für Schadensfälle sind in den vergangenen fünf Jahren um 14 Prozent | |
| gesunken. Die Versicherungsprämien stiegen im selben Zeitraum um 62 | |
| Prozent. Seit der Bericht Mitte Dezember veröffentlicht worden ist, tobt | |
| eine Debatte in den Zeitungen und im Internet. | |
| Für viele Irinnen und Iren, die nach Jahren im Ausland in die Heimat | |
| zurückkehren, ist ein eigenes Auto unerschwinglich, selbst wenn sie in | |
| England, den USA oder Australien jahrelang unfallfrei gefahren sind. Die | |
| Versicherungen lassen das nämlich nicht gelten, sondern stufen die | |
| Heimkehrer wie 18-jährige Anfänger ein. | |
| Paul Cotter und seine Frau sind nach fünf Jahren aus Australien | |
| zurückgekommen und haben einen sieben Jahre alten Toyota gekauft. „Neunzig | |
| Prozent der Versicherungen haben nicht mal ein Preisangebot gemacht, obwohl | |
| wir nie einen Unfall hatten“, sagt Cotter. „Die anderen verlangten zwischen | |
| 3.000 und 4.000 Euro.“ | |
| ## Obligatorische Fahrstunden | |
| Thomas Murray kam aus Texas nach Irland und kaufte sich ein Auto. Das muss | |
| vorerst in der Garage bleiben, weil die Versicherungen seinen | |
| US-Führerschein nicht anerkannten. Er war 25 Jahre lang unfallfrei | |
| gefahren, aber musste in Dublin zwölf obligatorische Fahrstunden nehmen und | |
| eine Führerscheinprüfung ablegen. Dafür musste er sich vom Fahrlehrer einen | |
| Wagen mieten, weil er für sein eigenes Auto ohne irischen Führerschein | |
| keine Versicherung bekam. | |
| Das Argument, die Leute sollten in Anbetracht des Klimawandels lieber mit | |
| Bus und Bahn fahren, lässt Murray nicht gelten: „Der öffentliche Nahverkehr | |
| ist in den Großstädten marode. Auf dem Land ist man ohne Auto erst recht | |
| verratzt.“ | |
| Das Problem sind aber nicht nur die Kfz-Versicherungen. Kinderkrippen und | |
| Restaurants sind gefährdet, weil sie entweder die Versicherungsprämie nicht | |
| mehr aufbringen können oder erst gar kein Unternehmen mehr finden, das sie | |
| versichert. Nachdem sich die Firma Ironshore vom Markt zurückgezogen hat, | |
| gibt es mit Arachas nur noch eine Versicherung für Krippen und die hat die | |
| Prämien verdoppelt bis versechsfacht. | |
| Der Staat, der die Vorschulerziehung dem privaten Sektor überlässt, hat | |
| kurz vor Silvester einen einmaligen Zuschuss von 1500 bis 26000 Euro je | |
| nach Größe der Krippe gewährt. Insgesamt kostet das sieben Millionen Euro. | |
| Der Oppositionsabgeordnete Robert Troy sagt: „Wir verwenden Steuergelder, | |
| um ein sehr profitables Versicherungsunternehmen zu subventionieren.“ | |
| ## Netz von Lügen | |
| Andere Bereiche werden nicht unterstützt. Besonders dramatisch ist die Lage | |
| im Hotel- und Gastgewerbe. Drei große Versicherungen haben sich am 1. | |
| Januar aus diesem Geschäft verabschiedet. „Jetzt haben wir Angst, dass wir | |
| noch stärker geschröpft werden“, sagt Eoin McCambridge, der ein Restaurant | |
| und einen Feinkostladen in Galway betreibt. | |
| „Vor zehn Jahren haben wir 10.000 Euro Versicherungprämie im Jahr bezahlt. | |
| 2019 waren es 125.000 Euro, und nun wird es noch teurer.“ Sein Geschäft ist | |
| seit 1925 im Familienbesitz, aber wenn die Kosten weiter steigen, wird das | |
| Unternehmen das 100. Jubiläum nicht erleben. | |
| Die Versicherungen haben ein Netz von Lügen gespannt, um ihre exorbitanten | |
| Prämien zu rechtfertigen. [1][Die „Compo Culture“ sei schuld] – also die | |
| vor allem bei den unteren Schichten angeblich weit verbreitete Praxis des | |
| Versicherungsbetrugs. | |
| Eine simple mathematische Rechnung entlarvt das als Quatsch. Wenn laut | |
| Versicherungsverband 20 Prozent aller Schadensmeldungen betrügerisch seien, | |
| müssten fast 5000 Fälle jedes Jahr vor Gericht landen, [2][rechnet Mark | |
| Paul von der Irish Times vor]. Tatsächlich waren es in den vergangenen | |
| sechs Monaten gerade Mal 19 Fälle. | |
| Wer ist also tatsächlich schuld an der Abzocke? „Es ist Gier“, sagt Seán | |
| Murphy. Statt die 6000 Euro Versicherungsprämie zu zahlen, könne seine | |
| Tochter täglich Taxi fahren. „Das ist wesentlich billiger.“ | |
| 4 Jan 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.rte.ie/brainstorm/2019/0922/1077467-how-can-ireland-address-its… | |
| [2] https://www.irishtimes.com/business/financial-services/insurance-industry-s… | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Sotscheck | |
| ## TAGS | |
| Irland | |
| Versicherungsprämie | |
| Versicherung | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Irland | |
| Irland | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Unterwegs auf den Straßen Dublins: Armut in der Steueroase | |
| 10.000 Obdachlose gibt es in Irland. Darunter sind viele Familien mit | |
| Kindern, die ihre explodierenden Mieten nicht mehr zahlen können. | |
| Die Wahrheit: Pfaffenalarm vor Weihnachten | |
| Nicht einmal in einem Konsumtempel verschonen einen irische Missionare. | |
| Dabei hat Irlands Kirche andere sorgen: Die Hostien werden knapp! | |
| Die Wahrheit: Freies Fahren | |
| Zu schnell fahren kann in Irland teuer werden. Das hat der | |
| Transportminister in die Wege geleitet, der sich sonst gern selbst auf | |
| Abwege begibt. |