| # taz.de -- Die Kuratorin Anna Mülter: Subversivität und Humor | |
| > Anna Mülter präsentiert ihre letzte Ausgabe des Festivals „Tanz Tage“ in | |
| > Berlin. Die lokale Szene hat der umtriebigen Kuratorin viel zu verdanken. | |
| Bild: Lois Alexander hat in „Neptune“ Eisblöcke um Ketten gefroren | |
| „Words, Words, Words“ steht als Slogan auf Anna Mülters Hoodie. Unter | |
| anderem für ihre Message-Oberteile ist die Tanztage-Kuratorin auch bekannt. | |
| Zu jedem Anlass holt sie das passende Motto aus dem Schrank. | |
| Meist geht es um ironische Winks im Kontext Feminismus und Diversität, | |
| dieses Mal eher um Abschied: Nach erfüllten Jahren als Deutschlands | |
| umtriebigste Kuratorin für die junge Tanzszene, die neben ihrem Job für die | |
| Berliner Sophiensæle auch am tanzhaus trw, in mehreren Jurys und zuletzt | |
| als Jurorin der Tanzplattform Deutschland arbeitete, übernimmt Mülter ab | |
| Sommer das Festival Theaterformen in Hannover und Braunschweig. | |
| Dann ist sie in der Sprechtheatertradition für die Auswahl der Künstler | |
| verantwortlich. Obwohl auf Anna Mülters Bühnen höchstwahrscheinlich nicht | |
| nur in Worten gesprochen werden wird. | |
| Was sie für Tanz tat, das tat sie mit Herz, Verstand und der | |
| bewundernswerten Fähigkeit, zu nerven, ohne nervig zu sein. Queerfeminismus | |
| und postkoloniale Sichtweisen sind bei ihr keine Modewörter oder | |
| kuratorisches Beiwerk. Sie meinte es immer ernst. | |
| ## Steht zu ihrer Haltung | |
| Auch sonst kann sie in Gesprächen kräftig punkten. Obwohl sie zu ihrer | |
| Haltung steht, lässt sie sich von guten Argumenten durchaus überzeugen. Sie | |
| diskutiert leidenschaftlich gerne. Erkennt sie – gehüllt in ein „The Future | |
| Is Accessible“-T-Shirt – Barrierefreiheit als Problem, zieht die Tanzszene | |
| mit. Aus Einsicht. | |
| So gibt es auch in ihrem sechsten und letzten Tanztage-Jahr an den | |
| Sophiensælen mit der für sie üblichen Zweidrittel-Frauenquote ein breites | |
| Angebot [1][für mehr Zugänglichkeit: Tastführungen, | |
| Live-Audio-Deskriptionen, Relaxed Performances] (mit Liegemöglichkeiten für | |
| Menschen mit chronischen Schmerzen) und präzise Programmhinweise zu | |
| Wegstrecken und Barrieren. Es ist dabei klar, dass die Erfüllung der | |
| Kriterien für bestimmte Zielgruppen keine universelle Entmarginalisierung | |
| schafft. Vielmehr geht es um das Multiplizieren von gesellschaftlichen | |
| Lerneffekten, die durch die Beschäftigung mit spezifischen Bedürfnissen | |
| entstehen. | |
| Durchlässigkeit für andere Perspektiven, überhaupt die Fähigkeit, über den | |
| eigenen Blickwinkel hinaus zu sehen, steht daher beim traditionell | |
| ausverkauften Nachwuchsfestival mehr denn je im Fokus. Gefasst in formal | |
| starke, eigenständige Ansätze. | |
| Geschichte umzuschreiben kann – in den Worten des US-Dichters John Ashbery | |
| – manchmal sein, wie ein Pferd zusammenleimen, und mit diesem Wissen, | |
| dieser Subversivität und diesem Humor gehen Lois Alexander, Caner Teker, | |
| Sasha Amaya, das Juck-Kollektiv sowie Frida Giulia Franceschini dann auch | |
| ans Werk. Geschichte, die vor allem von Siegern (manchmal auch Sieger*innen | |
| undercover) geschrieben wurde, wird bei den Tanztagen umgeschichtet, | |
| umgeschmolzen, auseinandergebogen, in den Achseln gekitzelt. | |
| ## Und sie bewegt sich doch | |
| So hat die feinstofflich bewegliche, in Tanz- und | |
| Selbstverteidigungstechniken geschulte Lois Alexander in „Neptune“ (benannt | |
| nach dem römischen Meerespatriarchen und Planeten-Paten) Eisblöcke um | |
| Ketten gefroren (Bühne: Nina Kay). Das bisschen Schmelzwasser, das von den | |
| hängenden Eisbergen tropft, reicht, um ihre Bewegungsqualität komplett zu | |
| verändern. Was neugierig macht auf einen Zustand in spe nach der Schmelze. | |
| In „Sarabande“ hingegen schmilzt Sasha Amaya nichts ein, sondern | |
| verschweißt verschmitzt Barockaffekte und Tanzfloskeln in eine ihre | |
| Mechaniken ausstellende Spielfigurenkörpersprache. Zugleich wird daraus ein | |
| komisches Tableau lauter Dinge, die man lieb hat, auch wenn man um ihre | |
| Schwächen weiß. Wer die Tanztage besucht und danach wieder auf die Welt | |
| blickt, kann sich schon mal hinreißen lassen zu trällern: Und sie bewegt | |
| sich doch! Verbindend in den Arbeiten von Teker, Franceschini und dem | |
| Juck-Kollektiv ist die Dekonstruktion von männlichkeitsdominierten | |
| Sichtweisen auf den (weiblichen) Körper. Es wird gestoßen, gerungen, | |
| gezaubert – mit Körpern und Techniken, die klarmachen, dass Empowerment | |
| kein Statement, sondern Praxis ist. | |
| Mit etwas weniger (ironischem) Triumph gewürzt, klingen die Ankündigungen | |
| der Stücke in der zweiten Halbzeit der Tanztage: Um den Körper als | |
| unumkehrbaren Fortsetzungsroman wird es etwa bei Amirhossein Mashaherifard | |
| gehen; um den Versuch, Techniken indigener Kulturen und Bühnenrituale zu | |
| verbinden bei Maque Pereyra und House of Living Colours. | |
| Und ganz unironisch klingt auch die Ausschreibung der Sophiensæle: Zum | |
| ersten Mal sucht das von einer Choreografin mitbegründete Haus, das in den | |
| letzten Jahren 60 Prozent Tanz programmiert hat, in der | |
| Anna-Mülter-Nachfolge nach einer Kuratorin in Festanstellung. Mülters | |
| Freelancerinnen-Energie war unbändig bis zur zeitweisen Selbsterschöpfung. | |
| Das muss jetzt anders gestemmt werden. Endlich. | |
| Anm. d. Red.: Aus diesem Artikel wurde mit Einverständnis der Autorin nach | |
| der Veröffentlichung ein Absatz gestrichen, der nach Ansicht der | |
| Choreografin Constanza Macras eine unsachliche Behauptung ihr gegenüber | |
| enthielt. | |
| 14 Jan 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Astrid Kaminski | |
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