# taz.de -- Nachruf auf Jimmy Schulz: Der digitale Aufklärer | |
> Vom Bub am C64 zum Netzpionier im Bundestag: Der | |
> FDP-Bundestagsabgeordnete Jimmy Schulz ist im Alter von nur 51 Jahren | |
> gestorben. | |
Bild: Jimmy Schulz im Bundestag: „Die digitale Aufklärung wartet auf euch. H… | |
Anfang der achtziger Jahre lebt in Ottobrunn bei München ein Bub, der | |
regelmäßig nachmittags die S-Bahn ins Zentrum nimmt. Im Kaufhaus am | |
Marienplatz fährt er in die Elektronikabteilung hoch. Dort steht ein | |
Commodore 64, ein Vorführcomputer, oft bildet sich eine kleine Schlange und | |
jeder Kunde darf nur zehn Minuten an den Rechner. Aber den Bub fesseln | |
Computer wie nichts sonst. Er hat in der siebten Klasse Informatik, und | |
schnell ist klar: Er kann sich verlieren in dieser Welt. | |
Dann, mit 16 Jahren, bekommt er endlich einen C16 von Aldi, für den | |
Englischunterricht programmiert er sich einen Vokabeltrainer. Die Mutter | |
kauft für ihre Arztpraxis einen PC, aber die passende Software wäre teuer. | |
Der Sohn übernimmt: Datenverwaltung, Textverarbeitung, Druckertreiber – | |
alles richtet er ihr auf dem PC ein. Da darf er sich einen Computer | |
aussuchen. „Welchen hättest du wirklich gern?“, fragt seine Mutter. Es wird | |
ein Amiga 2000 mit Farbmonitor und Maus. | |
Die Netzwelt entsteht, und der Bub aus Ottobrunn ist ganz früh dabei. Er | |
macht diese Faszination zum Beruf: Er bastelt, erfindet, gründet, verdient, | |
boomt, crasht und steht wieder auf. Und er denkt nach über diese Welt, | |
darüber, wie viel Freiheit sie braucht und welche Regeln. Jimmy Schulz wird | |
FDP-Mitglied. Als erster Abgeordneter in der Geschichte des Bundestags wird | |
er später eine Rede mit Notizen vom iPad halten. 2018 wird er im Parlament | |
der Vorsitzende des Ausschusses Digitale Agenda. Schulz hat sein Wissen und | |
seine Leidenschaft über das Netz in die Politik getragen. Jetzt, mit nur 51 | |
Jahren, ist er an Krebs gestorben. | |
2009 zog er erstmals in den Bundestag ein, er holte fast 20 Prozent, das | |
beste Zweitstimmenergebnis seiner Partei in Bayern. Eine schwarz-gelbe | |
Regierung übernahm. Jimmy Schulz kämpfte gegen die Vorratsdatenspeicherung. | |
Max Stadler förderte ihn, einer der FDP-Politiker, die das Liberale nicht | |
nur als Freiheit für die Wirtschaft auslegten. | |
## Die Politik war sein gelebter Traum | |
Über das Internet wurde damals im Bundestag so aufgeschlossen gesprochen | |
wie über Veggie-Burger am Stammtisch einer Fleischerei-Innung. Aber es gab | |
eine Enquetekommission Internet und digitale Gesellschaft, und wenn | |
Entwickler und Blogger zu Gast waren, nahmen sie Schulz ernst und er sie. | |
2013 flog die FDP aus dem Bundestag. Schulz machte weiter. Der | |
Parlamentarismus ist etwas Wunderbares, und zwar dann, wenn Abgeordnete ihn | |
wirklich wollen und etwas Eigenes nach Berlin mitbringen. „Ich lebe meinen | |
Traum“, hat er immer wieder gesagt. 2017 kehrte er zurück in den Bundestag. | |
Doch schon im Wahlkampf spürte er Schmerzen. Bald nach der Wahl wurde ihm | |
Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert, wie er später in einem | |
[1][Spiegel-Gespräch] erzählte. 2018 fragte Jimmy Schulz seinen Arzt, ob er | |
Weihnachtsgeschenke für seine Frau und seine drei Kinder besorgen solle. | |
Lohnt sich das noch? Nein, sagte der Arzt. | |
Aber Jimmy Schulz hat nicht aufgegeben. Die Ärzte sagten, er soll doch | |
aufhören, er solle tun, was ihm Spaß macht. „Aber Politik macht mir ja | |
Spaß“, sagte Schulz. | |
## Digitale Aufklärung, frei nach Immanuel Kant | |
Im Februar 2019 hielt er eine Rede, sie ist [2][auf Youtube zu sehen]: eine | |
Münchner Konferenz über technische und gesellschaftliche Trends. Er sagt in | |
ziemlich gutem Englisch, er müsse leider auf Deutsch sprechen, weil das | |
sonst zu viel Konzentration erfordere, durch Krankheit und Chemotherapie | |
sei er zu schwach. Im Hintergrund sieht man ein Foto von seinem lächelnden, | |
kräftigen Gesicht, das ganz anders aussieht als das eingefallene Gesicht | |
des Redners. „Erschreckt nicht, ich bin es wirklich.“ | |
In der Rede wirbt er für digitale Aufklärung, frei nach Immanuel Kant. Den | |
Aufbruch des Menschen aus seiner selbstverschuldeten digitalen | |
Unmündigkeit. Das war Jimmy Schulz: einer, der von Technik Ahnung hat, aber | |
die Digitalisierung nicht technizistisch, sondern gesellschaftlich denkt. | |
Er spricht über die gefühlte Distanz, weil man sein Gegenüber nicht mehr | |
mit eigenen Augen sieht: Deshalb glauben wir Informationen weniger. Deshalb | |
verrohen viele Kontroversen im Netz. Er tritt dafür ein, hart am | |
gesellschaftlichen Konsens zu arbeiten. Dann könnten vielleicht Gesetze | |
folgen, das sei die richtige Reihenfolge, statt mit Gesetzen eine | |
Verständigung der Gesellschaft zu erzwingen. | |
Was die Digitalisierung anbelangt, hat Jimmy Schulz gesagt, ist das Land in | |
der Pubertät. Es muss gemeinsam im Netz erwachsen werden. „Die digitale | |
Aufklärung wartet auf euch. Habt Mut!“ | |
25 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spiegel.de/plus/jimmy-schulz-ueber-seine-krebserkrankung-es-ist… | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=9tsddBwkTz4 | |
## AUTOREN | |
Georg Löwisch | |
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