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# taz.de -- Einwanderer über Abstieg von Bremerhaven: „Irgendwann war der Ge…
> Cafer Isin hat den wirtschaftlichen Niedergang Bremerhavens hautnah
> miterlebt. Heute arbeitet er dort als Sprach- und Kulturmittler.
Bild: Cafer Isin in seiner Stadt: Hier kann man auf kurzem Weg eine Weltreise m…
taz: Herr Isin, Sie sind mit 13 Jahren in Bremerhaven gelandet. Wie hat es
am Anfang mit der Verständigung geklappt?
Cafer Isin: Ich war schon mit sechs Jahren für ein Jahr hier gewesen und
wurde eingeschult. Danach konnten meine Eltern sich lange nicht
entscheiden, wo ich aufwachsen soll, es war ein großes Hin und Her. Nach
dem Militärputsch in der Türkei haben sie mich dann aus Sicherheitsgründen
endgültig hier gelassen. Die Deutschkenntnisse, die ich inzwischen erworben
hatte, waren aber nicht ausreichend, deshalb bin ich die ersten vier Jahre
in die Vorbereitungsklasse gegangen.
Und danach?
Nach der neunten Klasse in der Hauptschule wollte ich zumindest noch die
zehnte Klasse abschließen, bekam aber Probleme mit dem Lehrer. Ich erlebe
es noch heute bei meinen Kindern, dass diese alte Lehrerschaft denkt,
Gastarbeiterkinder können nicht studieren, sondern müssen Dreher oder
Schweißer werden. Bei mir kam irgendeiner auf die Idee, dass eine Lehre als
Maschinenschlosser gut wäre. Die habe ich erfolgreich abgeschlossen und als
Industrieanlagenmechaniker gearbeitet.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit?
Unsere Wohnung hatte noch Kohleöfen und die Toilette war auf dem Flur, aber
ich habe das nicht als unangenehm empfunden. Alles war dicht beieinander,
klein und übersichtlich, hinten hatten wir einen Spielplatz. Ich hatte eine
schöne Kindheit.
Wo haben Sie sich als Jugendlicher rumgetrieben?
Meine Eltern waren damals im Solidaritätsverein Fidef aktiv, da bin ich
irgendwann auch reingegangen. Das war ein politischer Verein, in dem viele
mitgearbeitet haben, die in den 1980er-Jahren aus der Türkei geflüchtet
sind. Als jemand mit Deutschkenntnissen habe ich Briefe und anderes
übersetzt. Mit 19 Jahren wurde ich Vorsitzender des Vereins und es kamen
bundesweite Funktionen dazu. Damals hat sich mein Interesse an sozialer
Arbeit entwickelt. Durch das Vereinsleben hatte ich nicht so viel Zeit für
Discos und was Jugendliche sonst so machen. Und wenn ich mal in die Disco
gehen wollte, musste ich das heimlich machen, weil Papa das nicht wollte.
Welche Bedeutung hatte für Sie als junger Mensch der Hafen?
In den Schulferien haben wir morgens um vier am Arbeitsamt im Hafen auf
Arbeit gewartet. Das prägendste Erlebnis hatte ich gleich in meiner ersten
Schicht auf der Werft. Da kam jemand und hat gesagt, jetzt wollen wir erst
mal frühstücken. Ich dachte, jetzt holt jeder sein Butterbrot raus, aber
die haben erst mal zwei Buddel Bier getrunken.
Haben Sie damals mitgekriegt, dass in Bremerhaven etwas den Bach runter
geht?
Dadurch, dass ich politisch aktiv war, habe ich das bewusster wahrgenommen.
Und es war nicht schön, als die Rickmers Werft kurz nach dem 125-jährigen
Jubiläum, bei dem die Kinder der Beschäftigten noch beschenkt wurden, die
Tore schloss und der Vater arbeitslos wurde. Dann kriselte auch die
Seebeckwerft und anschließend der Fischereihafen. Früher ist man nicht
freiwillig in die Linie 4 gestiegen, die zum Fischereihafen fuhr, so sehr
hat es darin nach Fisch gestunken. Irgendwann war der Geruch weg. Viele
Leute sind weggezogen, weil sie keine Arbeit gefunden haben. Früher
musstest du nur vor einem Betrieb rumlungern, dann hat dich der Chef schon
reingezogen und an die Maschine gestellt, egal wie gut du Deutsch
gesprochen hast. Heute braucht man schon fürs Kloputzen eine Qualifikation.
Wie sind Sie als gelernter Maschinenschlosser später in der
Quartiersmeisterei gelandet?
Maschinenschlosser war ja nicht mein eigener Berufswunsch gewesen. Ich
wollte selbstständig sein, hatte erst eine Versicherungsagentur und später
ein Juweliergeschäft. Dann hat sich die Chance ergeben, über ein vom
Arbeitsamt gefördertes Projekt für zwei Jahre bei der Quartiersmeisterei im
Bremerhavener Stadtteil Lehe anzufangen. Das war mein Ding, da konnte ich
mein Interesse an sozialer Arbeit einbringen.
Wie sah das aus?
Bis dahin fehlte hier in Lehe der Zugang zu den Geschäftsinhabern mit
Migrationshintergrund, den Syrern, Kurden, Türken und anderen. Diesen
Zugang habe ich mit meinem großen Netzwerk ermöglicht. Wir haben sehr viele
Sachen auf den Weg gebracht.
Wie sehen Sie die Probleme hier in Lehe?
Die sind über 30 Jahre gewachsen. Früher sind die Leute von überall zum
Einkaufen nach Lehe gekommen. Irgendwann zogen mehr und mehr Fachgeschäfte
in die jetzige Innenstadt. Dazu kam die wirtschaftliche Situation, in die
Bremerhaven unter anderem durch die Werften-Krise und den Abzug der
Amerikaner geraten ist und schließlich wurde die Verwahrlosung zahlreicher
Immobilien ein Thema.
Hat sich die Situation durch die sogenannte Flüchtlingskrise verschärft?
Die hatte eine positive Wirkung. Die Flüchtlinge sind irgendwann gekommen,
haben sich orientiert und jetzt wollen sie arbeiten. Es ist ja nicht so,
wie es in den Medien manchmal dargestellt wird, dass alle zu Hause sitzen
und unser Sozialsystem schröpfen wollen. Da sie ihr erlerntes Handwerk
wegen des fehlenden Meisterscheins aber oft nicht ausüben dürfen, verkaufen
sie oft Gemüse oder Döner. In der Hafenstraße konnte ich dabei helfen, dass
eine Reihe von Läden an zugewanderte Syrer vermittelt wurden. Dadurch hat
sich die Straße belebt und sind die Leerstände zurückgegangen. Ein
Gewerbetreibender hat zu mir gesagt: Hafenstraße, das ist Kino umsonst,
hier passiert immer etwas. Man kann nicht mit einem Ton Musik machen, erst
wenn viele Töne zusammenkommen, wird es ein Orchester. Hier können Sie auf
kurzem Raum eine Weltreise machen.
Und der leichtere Zugang zum Handwerk würde einen weiteren Auftrieb geben?
Hundertprozentig. Da kommt ein syrischer Flüchtling, der 30 Jahre lang als
Schneider gearbeitet hat und muss hier erst mal einen Meisterschein machen,
bevor er einen Betrieb aufmachen kann. Was zählt, ist das Papier. Ich kenne
Meister mit Papier, die haben keine Ahnung, und ich kenne Leute, die kaum
lesen und schreiben können, die machen einen prima Job.
Wie sieht Ihre Arbeit aus?
Die meisten Zugezogenen kennen die ganzen Strukturen hier nicht. Diese
versuche ich ihnen in meiner Funktion als Sprach- und Kulturmittler
näherzubringen. Dabei bin ich auch so etwas wie ein „Türöffner für
migrantische Betriebe“ für die Kooperationspartner, die im Bremerhavener
Netzwerk Wunderwerft zusammenarbeiten. Durch mein Netzwerk kann ich die
Fachleute unterstützen, Kontakte mit Zugewanderten aufzunehmen. Dabei ist
das Projekt der Wohnungsgesellschaft Stawög sehr hilfreich, leer stehende
Läden in der Hafenstraße als Pop-up-Stores, das heißt für einen Zeitraum,
nach Wahl anzubieten. So können sich künftige Ladenbesitzer ausprobieren,
ohne gleich die volle Härte des Marktes zu spüren.
Und das funktioniert?
Das Bewusstsein hat sich dahingehend entwickelt, dass wir etwas machen
müssen, dass der Leerstand nicht von allein verschwindet, da ist die Stadt
aufgewacht. Es gibt eine Aufbruchstimmung in den Köpfen und auf der Straße,
die ist bloß noch nicht überall angekommen. Wir müssen Begegnungsräume
schaffen, in denen die Menschen mit ihren Ideen und Geschichten
zueinanderkommen.Egal, welcher Herkunft sie sind, egal, warum sie hier
sind. Die Zusammenarbeit zwischen den Leuten, die etwas bewegen wollen,
muss niederschwellig sein und die muss auch auf offene Ohren stoßen.
Wie geht es Ihnen persönlich in Bremerhaven?
Ich bin drei, vier Mal weggezogen, aber diese Stadt zieht mich immer wieder
her. Es ist nicht so eine riesengroße Stadt, in der man verlorengehen kann,
die aber trotzdem viel Energie hat. Wenn man will, kann man hier alles an
Leben und Freude bekommen.
Sehen Sie eine Zukunft für Ihre Kinder in Bremerhaven?
Auf jeden Fall. Das liegt ja auch an mir. Bremerhaven wird nie mehr das
alte sein, aber es wird das neue sein.
Für das alte stehen der Hafen und die Werften, wofür steht das neue?
Dafür, dass Menschen vieler Nationalitäten sich sicher bewegen können. Wenn
man mit offenen Augen nach Bremerhaven kommt, sieht man die Schönheit. Wir
sind eine tolerante, weltoffene Stadt, in der sich etwas bewegt. Der Leher
Butjer* spricht heute in vielen Sprachen.
*Leher Butjer: So wurden die Kinder genannt, die im Stadtteil Lehe wohnten.
24 Nov 2019
## AUTOREN
Ralf Lorenzen
## TAGS
Bremerhaven
Wirtschaft
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Migration
Sozialarbeit
Industrie
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Ungleichheit
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