# taz.de -- Junge bettelnde Männer in der S-Bahn: Am Ende | |
> Mir ist die Begegnung mit jungen Bettlern in der S-Bahn oft unangenehm. | |
> Es ist nicht nur der Umstand, dass sie betteln, es ist, wie sie es tun. | |
Bild: Für manche Menschen ist der Kaffeebecher die letzte Chance, zu Geld zu k… | |
Am Samstag begegneten mir in der S-Bahn nacheinander zwei Bettler. Ich | |
kenne sie schon, ich habe sie schon oft gesehen. Ich habe selber einen | |
Sohn, und ich muss mir manchmal vorstellen, und es ist eine sehr quälende | |
Vorstellung, dass er es ist, der dort eines Tages durch die Bahn zieht. | |
Solche Vorstellungen sind wie ein Zwang, sie lassen sich nicht abschütteln, | |
sie quälen einen, und je weniger man sie haben will, desto mehr suchen sie | |
einen heim. Auch aus diesem Grund ist mir die Begegnung mit diesen jungen | |
bettelnden Männern oft sehr unangenehm. | |
Es ist nicht nur der Umstand, dass sie betteln, es ist vor allem, wie sie | |
betteln, der Zustand ihrer Kleidung, ihr Gang, das Gestammel, immer die | |
gleichen tonlosen Worte, die gekrümmte Hand, der Kaffeebecher, in den die | |
Leute ein Geldstück werfen, die meisten Menschen sehen aber nur weg. Ich | |
selbst werfe manchmal Geld in diese Kaffeebecher, oft aber sehe auch ich | |
weg, wenn ich mein Portemonnaie nicht aus dem vollen Rucksack kramen will. | |
Einer dieser beiden mir vom Sehen bekannten jungen Bettelnden ist sehr viel | |
mehr als der andere in einem schlechten Zustand. Er schlurft gebückt durch | |
die Gänge, er riecht unangenehm, er murmelt mit leerem Blick immer die | |
selben zwei Sätze vor sich hin. Vielleicht ist er süchtig, ziemlich sicher | |
ist er krank. | |
Und ich sehe wieder, es ist ein Zwang, meinen eigenen lieben Sohn durch den | |
Gang schlurfen, und da sitzt dann diese harte, diese erbarmungslose Frau, | |
die nur angewidert ist, von seiner Erscheinung und sich abwendet, ihm nicht | |
einen Cent in sein Kaffeetöpfchen legt, und er erwartet es auch gar nicht, | |
er sieht niemanden an, er stolpert so dahin, leiert seinen Spruch hinunter, | |
merkt kaum mehr, was er tut. Und diese erbarmungslose, angewiderte Frau, | |
das bin ich. | |
Aber manchmal, denke ich, zu meiner Entlastung, manchmal habe ich ihm schon | |
etwas gegeben. Und diesmal, denke ich, da ist das Portemonnaie wirklich | |
sehr tief vergraben. Und was er wohl mit dem Geld tun würde, denke ich, er | |
würde sich vielleicht Drogen beschaffen, Alkohol, was ihn nur früher ins | |
Grab bringt (alles zu meiner Entlastung). Aber das geht mich nichts an, es | |
steht mir nicht zu, über das Geld, das ich ihm noch nicht einmal gegeben | |
habe, für ihn zu verfügen. Und während ich mir alle diese quälenden | |
Gedanken mache, sagt ein Mann auf der anderen Seite des Ganges: „Der will | |
ja gar nicht arbeiten.“ | |
Verblüfft starre ich ihn an. Es sitzen dort vier Menschen, zwei Männer und | |
zwei Frauen, zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Sie sind mir schon | |
vorher aufgefallen, als sie mit sehr vielen Taschen am Jungfernstieg | |
eingestiegen sind, weil sie so laut und angeregt miteinander redeten. Sie | |
wickelten gemeinsam etwas aus Geschenkpapier aus, lasen sich eine | |
Geschenkkarte vor. Und dann, als der bettelnde junge Mann schon | |
vorbeigelaufen war, und er kann es auch gar nicht mehr gehört haben, sagt | |
also dieser Mann, der auf der anderen Seite des Ganges sitzt: „Der will | |
doch gar nicht arbeiten.“ | |
Die Frau ihm gegenüber sieht ihn an und verzieht kurz das Gesicht, aber sie | |
sagt nichts dazu, niemand sagt etwas dazu, auch ich sage nichts dazu, ich | |
sitze ja auf der anderen Seite des Ganges mit ganz anderen Leuten und ich | |
denke nur: Wie kann er das wissen? Wie kann er wissen, dass der junge Mann | |
nicht arbeiten will? Er kennt ihn doch gar nicht, er weiß nichts über ihn. | |
Und es ging natürlich nicht darum, dass er nicht arbeiten kann, denn jeder | |
konnte sehen, dass dieser junge Mensch kaum noch irgendetwas konnte, denn | |
er war so hinüber, so vollkommen am Ende, an diesem Abend in der S1, er | |
lief gar nicht mehr selbst durch die Gänge, es war nur noch ein Geist, der | |
irgendetwas wollte, aber auch das nicht mehr sehr. | |
„Sie müssen ihm ja nichts geben, aber sie müssen nicht noch schlecht über | |
ihn reden!“, sage ich zu dem Mann. Aber leider habe ich das nicht gesagt, | |
das hätte ich sagen sollen, aber ich habe es nicht getan. Drei Obdachlose | |
sind in den letzten Tagen in Hamburg auf der Straße gestorben. Und ich habe | |
nicht einmal so einen Satz sagen können. | |
25 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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