| # taz.de -- Dokumentarfilm von Nick Broomfield: Proto-Hippies auf Glückssuche | |
| > Liebes- und Popgeschichte: Der Film „Marianne & Leonard: Words Of Love“ | |
| > erzählt von der Romanze zwischen Leonard Cohen und Marianne Ihlen. | |
| Bild: So long, lovers: Leonard Cohen und Marianne Ihlen, grobkörnig | |
| Irgendwann steht da Udo Jürgens in der Tür. Keiner weiß, dass es Udo | |
| Jürgens ist oder wer Udo Jürgens überhaupt ist. [1][Leonard Cohen] | |
| jedenfalls nicht, sonst würde er den österreichischen Kollegen wohl nicht | |
| so ignorieren und stattdessen hemmungslos mit Jürgens’ Begleiterin flirten, | |
| die wiederum schmerzhaft augenfällig hingerissen ist von Cohen, der | |
| hingebungsvoll ihre Hand streichelt. | |
| Wahrscheinlich wusste auch der Unbekannte, der damals die Kamera gehalten | |
| hat, nicht, wen er da hinter der Bühne nach einem Cohen-Konzert auf | |
| Filmmaterial bannte. Und vielleicht wusste es nicht einmal Nick Broomfield, | |
| als er im Schneideraum saß und dieses alte, leicht farbstichig gewordene | |
| Material in seinen Dokumentarfilm „Marianne & Leonard – Words of Love“ | |
| montierte. | |
| Wie auch immer, diese kleine Szene aus dem Archiv charakterisiert den | |
| Leonard Cohen, den „Marianne & Leonard“ zu zeichnen versucht, so gut wie | |
| keine andere: Der eine [2][große Songschreiber], Sänger und Frauenheld | |
| lässt den anderen großen Songschreiber, Sänger und Frauenheld ganz | |
| beiläufig links liegen und schnappt sich das Mädchen. | |
| Denn auch, wenn wir den 2016 verstorbenen Cohen eher als ergrauten Elder | |
| Statesman mit Hut, der die unsterblichen Klassiker aus seiner Feder mit | |
| bröselnder Stimme vorträgt, in Erinnerung haben: Es gab mal eine Zeit, da | |
| war der Kanadier, samtener Bariton, dunkle Haarpracht, melancholisches | |
| Lächeln, ein richtiger Popstar. | |
| ## Ein Haus im Aussteigerparadies | |
| Die Frauen liebten Cohen. Und Cohen liebte die Frauen. Dieser innigen | |
| Beziehung konnte selbst der Rückzug in den buddhistischen Glauben und ein | |
| jahrelanges Verschwinden in einem Kloster nichts anhaben. Als Cohen Ende | |
| der nuller Jahre zu einem umjubelten Comeback wieder auf die Bühne stieg, | |
| titelte die Zeit treffend: „Romantiker des Flachlegens“. So sehr Cohen alle | |
| Frauen liebte, am meisten von allen Frauen liebte er Marianne Ihlen. Der | |
| junge hoffnungsvolle Dichter, der damals noch nicht sang, lernte die | |
| Norwegerin 1960 auf Hydra kennen. Die griechische Insel war eine | |
| vibrierende Künstlerkolonie, ein frühes Aussteigerparadies, in dem sich | |
| auch Cohen für wenig Geld ein Haus kaufte. | |
| „Ich war seine griechische Muse, die zu seinen Füßen saß, er war der | |
| Kreative“, erinnert sich Ihlen im Film. Der Begriff Muse mag heute zu | |
| Zeiten von #MeToo und nach mehreren feministischen Revolutionen nicht mehr | |
| zeitgemäß sein, aber wenn man ihn noch einmal verwenden will: Tatsächlich | |
| haben wir Ihlen einen beträchtlichen Teil des Werks von Cohen zu verdanken. | |
| Songs wie „So Long Marianne“, „Bird On the Wire“ und „Hey, That’s N… | |
| to Say Goodbye“ sind direkter Ausfluss der Liebesgeschichte zwischen ihr | |
| und Cohen. | |
| Diese Liebesgeschichte erzählt der englische Filmemacher, der sich neben | |
| politischen Dokumentationen immer wieder der Popmusik gewidmet hat, wie in | |
| „Kurt & Courtney“ oder zuletzt „Whitney: Can I Be Me“, mit den üblichen | |
| Mitteln der Dokumentarbiografie. Mit Material aus den Archiven, von dem | |
| vieles zum ersten Mal zu sehen ist, mit Erinnerungen von Freunden und | |
| Zeitgenossen wie Cohens Musikern, mit Zitaten aus Briefen und Tagebüchern. | |
| Auch Helle Goldman, die Ihlens Biografie geschrieben hat, kommt zu Wort. | |
| Nicht zuletzt war Broomfield selbst Zeuge: Er lernte Cohen und Ihlen in den | |
| frühen Sechzigern auf Hydra kennen, hatte eine kurze Beziehung mit Ihlen, | |
| die ihn, wie er aus dem Off erzählt, mit LSD vertraut machte. | |
| ## Eine Beziehung als Illustration von Zeitgeschichte | |
| „Marianne & Leonard“ ist deshalb – neben der Künstlerbiografie von Leona… | |
| Cohen – vor allem auch eine Liebeserklärung an Ihlen, der Broomfield bis zu | |
| ihrem Lebensende freundschaftlich verbunden blieb. Es ist der Versuch, der | |
| Muse den ihr zustehenden Platz in der Popgeschichte zuzuweisen. Ohne, und | |
| das ist ein Glück, es gleich so aussehen zu lassen, als hätte Cohen seine | |
| große Liebe auf dem Altar der Kunst geopfert. | |
| Doch indem Broomfield die Geschichte dieser Liebe nachzeichnet, erzählt er | |
| mehr als nur pophistorische Anekdoten und die Entstehungsgeschichte von | |
| Songklassikern. Mit der Beziehung zwischen Ihlen und Cohen illustriert er | |
| auch Zeitgeschichte: Die beiden Protagonisten sind, so berühmt der eine | |
| auch werden sollte, typische Kinder ihrer Zeit. Keine Blumenkinder, aber | |
| doch Proto-Hippies auf der Suche nach dem Glück, bevor dieser Lebensentwurf | |
| zur vermarktbaren Ware wurde. | |
| Bis es so weit war: drogeninduzierter Größenwahn, emotionale | |
| Grenzerfahrungen, Beziehungsexperimente und verzweifelte Sinnsuche an | |
| scheinbar unberührten Orten mit besserem Klima als Kanada oder Norwegen. | |
| ## Das Leben im Garten Eden macht nicht glücklich | |
| Folgerichtig spielt Hydra eine Hauptrolle in „Marianne & Leonard“, man mag | |
| sich nicht sattsehen an den zwar grobkörnigen, aber lichtdurchfluteten | |
| Super-8-Aufnahmen, in denen von der Sonne strohblond gebleichtes Kinderhaar | |
| mit dem tiefen Türkis des Mittelmeers einen berauschenden Kontrast bildet. | |
| Doch dass das Leben im Garten Eden den Menschen nicht zwangsläufig | |
| glücklich macht, das zeigt nicht nur die immer freudloser werdende | |
| Beziehung der beiden Hauptfiguren. Broomfield zeichnet den Weg weiterer | |
| Hydra-Bewohner nach, auf die nach dem Auszug aus dem Paradies im echten | |
| Leben nur Misserfolg, Wahnsinn und Freitod warteten. | |
| Auch die großen Liebenden wurden vertrieben. Aber fanden dann doch, weil | |
| der Song so enden musste, im Sterben wieder zusammen. Marianne Ihlen starb | |
| am 28. Juli 2016 im Alter von 81 Jahren. Leonard Cohen folgte ihr gut drei | |
| Monate später. Der [3][letzte Liebesbrief] beschließt diesen Film. Er ist – | |
| natürlich – wie ein Leonard-Cohen-Song zum Weinen schön. | |
| 7 Nov 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Leonard-Cohen/!t5352661 | |
| [2] /Loblieder-auf-Leonard-Cohen/!5032859 | |
| [3] https://www.theguardian.com/music/2019/may/22/leonard-cohen-marianne-ihlen-… | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Winkler | |
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