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# taz.de -- Aktivist Victor Aouizerat im Interview: „Dauerhafte Freiräume!“
> Victor Aouizerat war bei der Volksbühne-Besetzung dabei . Jetzt will er
> um ein Theater herum ein neues Stadtviertel aufbauen.
Bild: „Dauerhafte Freiräume!“, fordert Kunstaktivist Victor Aouizerat, hie…
taz: Herr Aouizerat, Sie waren in den letzten Jahren eine der aktivsten
stadtpolitischen Figuren in Berlin. Warum engagieren Sie sich?
Victor Aouizerat: Die Weltgesellschaft befindet sich in einer überhitzten
Phase. Der westliche Liberalismus ist in einer tiefen Krise. Die Sache kann
gut ausgehen, sie kann aber auch sehr schlecht ausgehen.
Geht es konkreter?
Ein grundlegendes Problem ist die Konzentration des Eigentums. Wir haben
zwar ein demokratisches System in der politischen Repräsentation. Das ist
so weit okay, weil es die Teilhabe aller an der Gestaltung der Zukunft
garantieren will.
Aber?
Die Verfügungsgewalt ist in den Händen von großen Eigentümern. Das
widerspricht der demokratischen Idee, dass die Leute gleichberechtigt an
der Regulation der Zukunft teilhaben. Daraus folgt übrigens auch die
ökologische Krise in Form von externalisierten Folgekosten. All das steht
nicht mit unserem Grundgesetz in Einklang.
Was sind Ihre Forderungen?
Wohnen kann kein Marktgut bleiben, sondern muss ein Grundrecht werden, das
eingeklagt oder selber umgesetzt werden kann. Ich habe ein Modell im Kopf,
bei dem Grundeigentum jedem Menschen immer zukommt. Dieses unveräußerliche
Grundeigentum kann auch als Basis einer Währung dienen. Aus neuen
Grundrechten soll eine neue Form unserer Ökonomie entstehen. Diese wird eng
mit dem Städtebau zusammenhängen.
Sie haben ab 2012 das Volksbegehren für die Erhaltung des Tempelhofer
Feldes mitorganisiert. Wie kam es dazu?
Aus den eben geschilderten Erwägungen heraus. Es ist einfach wichtig, dass
sich die Menschen das Recht zurück erstreiten, demokratisch verfügen zu
können.
Dafür sorgt unsere Berufspolitik, oder nicht?
Die Parteien haben im engen Korsett des Kapitals und unter dem
Schuldenregime der EU fast keine Bewegungsfreiheit mehr. Wir müssen uns
selber befreien. Das ist uns mit dem gewonnenen Volksbegehren für das
Tempelhofer Feld gelungen.
An der Humboldt-Universität haben Sie sich dafür verwendet, dass der
Stadtsoziologe Andrej Holm seine Stelle wiederbekommt. Warum?
Ich finde, Holm wäre ein großartiger Baustaatssekretär im rot-rot-grünen
Senat gewesen. Er hätte die Genossenschaften und vielleicht sogar die
Syndikate dazu befähigt, zu bauen. Ich fand es unfair, aber entlang der
vorherrschenden politischen Logik nachvollziehbar, dass SPD und CDU
versuchten, Holm mit alten SED-Kamellen abzuservieren. Inakzeptabel war
aber, dass man ihn auch noch aus der Uni drängen wollte. Wenn angefangen
wird, Leute auf diese Art kaltzustellen, gibt es keine Wissenschaft mehr.
Wie kam es dazu, dass Sie sich so vehement für Holm engagiert haben?
Zunächst einmal: Ich mag die HU. Es gibt ein tolles wissenschaftliches
Personal und ein paar gute Professoren. Die meisten Studis scheinen das
Studium aber als Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt zu betrachten. Das geht
zu Lasten der Qualität, weil oft niemand etwas in den Seminaren sagt. Viele
haben generell nichts beizutragen. Das hat mich genervt. Als ich dann einen
Anruf einer Kommilitonin bekommen habe, bin ich in die Aktion für Holm
eingestiegen. Die Besetzung der Soziologischen Fakultät hat sich organisch
entwickelt. Es gab eine Vernetzung von Studierenden der FU, HU und TU, weil
wir alle ein Interesse haben, dass solches Lehrpersonal erhalten bleibt.
Wie haben Sie das organisiert?
Wir haben die Fakultät vorübergehend zur Schule umgebaut und damit einen
Ausnahmezustand produziert. Im Keller der Fakultät haben auf der einen
Seite alle geschlafen, auf der anderen Seite des Traktes waren Presse- und
Versammlungsraum untergebracht.
Ich habe in der Zeit, es war Ende 2016, von einem Professor gehört, bei ihm
im Büro würde es nun immer nach Linsensuppe stinken.
Das lag daran, dass wir riesige Töpfe hatten; 10.000 Menschen waren
insgesamt in den sechs Wochen der Besetzung bei uns, die wir alle
bekochten. Es gab viel Unterstützung. Unter den Studis war es
unentschieden.
Und die Aktion endete dann mit welchem Ergebnis?
Mit einem erfolgreichen Ergebnis! Ich glaube, Uni-Präsidentin Sabine Kunze,
die Holm fallengelassen hatte, war wohl davon ausgegangen, dass wir drei
Tage blieben und dann wieder brav nach Hause gingen. Wir wussten, dass die
Achillesferse immer die Ordnung ist, aber wir waren glücklicherweise alle
nicht blöd. Nachdem wir unser Ziel erreicht hatten, Holm als Dozenten zu
erhalten, kehrte die Uni in den Alltag zurück. Jedenfalls: Der Druck von
innen, den wir aufgebaut haben, und jener von außen, haben dazu geführt,
dass Kunze Holm wieder einstellen musste. Es war eine spontane und
gerechtfertigte Aktion. Kunze hat bis heute ihre Anzeigen gegen ihre
eigenen Student*innen nicht zurückgezogen.
Für Sie ging es nach der Holm-Aktion nahtlos mit der Volksbühne weiter?
Ja. Eine Mitarbeiterin der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz kam in unsere
Fakultät und berichtete von der bedrohlichen Lage des Hauses. Sie sagte,
dass sie als Belegschaft selber überlegten, ihr Theater zu besetzen, aber
kaum Erfahrung hätten. Und da wir gerade an unserer Uni in einer lebhaften
Situation waren, haben wir dann angefangen, das zu organisieren.
Wie haben Sie das gemacht?
Als der Kontakt in die Volksbühne hergestellt war, haben wir die
verschiedenen Akteure vernetzt. Nicht alle waren der Ansicht, das Theater
besetzen zu müssen. Da die Einsetzung des neuen Intendanten Chris Dercon
bevorstand – und mit ihm die gesamte Agenda, die letztlich die Auflösung
der Volksbühne als Theater bedeutet hätte –, waren wir uns sicher,
zumindest ein Zeichen setzen zu müssen.
Warum eigentlich?
Dercon mag persönlich ein netter Typ sein, aber er passte überhaupt nicht.
Diese abstruse Personalentscheidung war ein Angriff auf eine gewisse Form
von Kultur. Und wenn farblose Kulturfunktionäre nach ihrem Gusto walten,
kann man nicht verlangen, dass das Publikum die Füße stillhält. Die
Volksbühne hat eine andere Geschichte, ein jüngeres und anderes Publikum
als alle anderen Staatstheater. Dies wollten Teile der SPD eliminieren.
Seit der Demonstration für die Volksbühne am 1. April 2017 wusste die halbe
Stadt, auch die Polizei, dass die Volksbühne demnächst besetzt werden
würde. Bis es geschah, vergingen Monate … Hat Sie die Polizei vor dem
Theater im Sommer 2017 denn nicht abgeschreckt?
Es waren auf unserer Seite sehr viele Leute beteiligt. Und auch die
Unterstützung in der Stadt war breit. Jeder wusste, dass die Einsetzung
Dercons ein Fehler war. Die Szenerie dagegen war optisch martialisch: Dass
Polizeitruppen mit Gewehren und Pistolen ein Theater belagern, um es gegen
Stadtbewohner*innen abzuschotten … unglaublich!
Am Tag der Bundestagswahl 2017 kamen Sie ins Haus. Wie?
Wir sind einfach unbemerkt hineingegangen, ohne etwas kaputt machen zu
müssen. Wie, kann ich leider nicht ausbreiten. Wir haben einen
intelligenten Weg gefunden, denn eine körperliche Auseinandersetzung
wollten wir unbedingt vermeiden.
Wie war es dann in der Volksbühne?
Die Besetzung hat die ersten Tage gut funktioniert, indem wir eine
Theaterparty organisiert haben, die einfach nicht aufgehört hat. Von
überall her kamen Leute zu uns ins Theater. Dadurch war die Situation für
die Truppen nicht unter Kontrolle zu bringen. Wir hatten eine schöne
Zusammenarbeit mit den Berliner Clubs, die ebenfalls verdrängt werden
sollen. Danach haben wir das Gespräch mit dem weiteren Stammpublikum
aufgenommen. Und mit der gesamten Belegschaft.
Haben Sie auch das Gespräch mit dem Senat gesucht?
Ja, es gab Verhandlungen mit dem Kultursenator Klaus Lederer und dessen
Unterhändlern. Ich glaube, dass sie von Anfang an kalte Füße hatten, dass
sie uns nicht mehr loswerden, wenn es so gut weitergeht. Sie haben uns den
Grünen Salon angeboten. Für uns aber wäre ein solcher Deal paradox gewesen.
Es war ja nicht unser Ziel, einen Raum zu übernehmen, sondern das Theater
zu retten.
Dann kam die Räumung …
Es war ein riesiges Polizeiaufgebot mit zwei Hundertschaften. Sie hatten
alles doppelt und dreifach eingezäunt mit Gittern. Es wirkte, als seien sie
auf den Bürgerkrieg vorbereitet. Auf dieses vergiftete Angebot wollten wir
uns auf keinen Fall einlassen, weil das Theatergebäude ansonsten womöglich
wirklich zu Schaden gekommen wäre. Wir ließen uns friedlich hinaustragen.
Theaterbesetzungen sind nicht ganz neu. Was war bei Ihnen anders?
In der Belegschaft hatten viele Angst um ihre Anstellung oder Abfindung.
Damit spielte die Politik auch über das Polizeiaufgebot. Die Belegschaft
beteiligte sich deshalb nur passiv oder gar nicht, obwohl die Initiative
aus deren Reihen gekommen war. In einem offenen Brief hatten sie es als
unerträglich bezeichnet, was sich für sie mit Dercon und der
Umstrukturierung des Hauses verbindet. Es gab zwar also einen offenen
Widerstand, aber keinen organisierten.
Die Besetzung dauerte nur sechs Tage an. Sind Sie traurig, dass es nicht
geklappt hat?
Es hat doch geklappt! Es hat stattgefunden. Man muss aber der Politik
zugute halten, dass es auch für sie eine schwierige Situation war. Denn
Dercon klammerte sich ja fest. Lederer musste als Regierungsmitglied die
frühere SPD-Fehlentscheidung für Dercon erstmal aufrechterhalten. Doch wir
sagten eben: Aber wir müssen es nicht akzeptieren! Wir werden zumindest
dafür sorgen, dass die ganze Welt zuschaut, was die Politik hier vorhat.
Mit dem Ziel, dass Dercon entweder geht oder eben gutes Theater machen
muss. Es war dann für alle eine große Erleichterung, als er endlich
zurücktrat.
Und dann geschieht etwas Erstaunliches. Nach dem Teilerfolg an der
Volksbühne nehmen Sie und Ihre Mitstreiter*innen keine Angebote aus
progressiven Parteien an, die es bei der massenhaften Mobilisierungspower
an der Basis ja gegeben haben müsste, sondern Sie gründen Theatergruppen.
Wie kam es zu diesem Berufswechsel?
Wir hatten für die Besetzung ein Theaterkonzept entwickelt, bei dem wir
Stadtpolitik und Kunst verbinden wollten. Theater ist eine Form, die der
Menschen bedarf und sich damit vom Fernsehen unterscheidet. Theater eignet
sich zudem wirklich ausgezeichnet, um gesellschaftliche Experimente im
Modellversuch zu machen. Und: Uns war aufgefallen, dass das Theater weit
weg ist von den Leuten, die es eigentlich erreichen sollte. Angebote gab es
übrigens keine.
Taugt stadtpolitischer Aktivismus für den Einstieg ins Theater – und falls
ja, warum?
Ich denke schon, dass es hier und heute der richtige Weg war. Das Theater
ist die einzige Kunstform, die in der Lage ist, alle anderen Künste in sich
aufzunehmen: Ein soziales Kunstwerk! Ein Theaterbetrieb gleicht insgesamt
einer kleinen Stadt mit Gewerken, Ensemble, Technik, Theorie. Theatralität
ist außerdem auch in politischen Ritualen und den Institutionen enthalten.
Um die Stadtentwicklung zum Ausdruck zu bringen, kann man also sehr wohl
Theater machen!
Die repräsentativen Funktionen sind altbekannter Bestandteil des Theaters …
… aber wir wollen eben auch eine projektive Funktion einführen.
Und zwar wie?
Indem der Zeitpfeil in die Zukunft verschoben wird – und Zukunft voraus
genommen oder entworfen werden kann. Die Geschichten, die es noch nicht
gibt. Die Ausrichtung des Theaters geht damit nicht nach innen, sondern
nach außen. Letztlich geht es darum, den Verlust der Zukunft nicht
hinzunehmen, wie ich eingangs ja schilderte.
Damit sind Sie nicht allein. Aus der Volksbühnenbesetzung sind mehrere
rivalisierende Gruppen hervorgegangen. Zu nennen wären die Regisseurin
Lydia Dukier mit ihrem Ensemble oder die Buchautorin Sarah Waterfeld mit
ihrer Initiative zur Gentrifizierung. Wie ist diese Zunahme an Theater- und
Politikproduzent*innen erklärlich?
Das ist die Frucht dieser Arbeit. Es gibt zwar in solchen Konstellationen
immer Probleme und persönliche Querelen. Aber es ist doch gelungen, dass
aus der Volksbühne eine ganze Reihe von produktiven Gruppierungen
entstanden ist. Sie haben unterschiedliche Kompetenzen, Verhaltenskodizes
und Zielvorstellungen.
Somit ist eine neue Szene entstanden, die Theater produziert oder dafür
eintritt. Und zwar nach den klassischen Kriterien von Ensemble und
Repertoire. Ist das schon ein Paradigmenwechsel?
Ja, tatsächlich wollten wir zusammen unbedingt ein Repertoire produzieren
und keinen weiteren Beitrag zur Freien Tanzszene oder so. Wir haben in den
letzten zwei Jahren zusammengenommen 23 neue Stücke produziert mit
insgesamt rund 170 Beteiligten, wobei der Kern bei uns etwa 50 Menschen
sind. Ich behaupte, dass wir gerade wirklich dabei sind, eine eigene Form
zu entwickeln, die am Ende weder Theater, noch Film, noch Podcast ist,
sondern diese Medien verschränkt.
Und wie machen Sie das völlig ohne Förderung, ohne Bezahlung, ohne
Investor?
Keiner von uns hat viel Geld im Hintergrund. Es gibt niemanden, der uns
finanziert. Und auch unser Publikum hat kaum Geld. Was die Materialien
angeht, muss man findig sein. Man kann aus nichts wirklich viel machen. Die
Arbeit geht an die Substanz und ist mit persönlichen Risiken verbunden.
Darf ich übersetzen: Irgendwie auf Hartz IV durchkommen – oder eben durch
die Überweisungen der Eltern, für jene aus bürgerlichen Haushalten.
Sagen wir so: Wir haben alle wenig Einkommen. Viele von uns sind an ihre
Grenzen gestoßen und Menschen mit Kindern können diese Arbeit einfach nicht
machen. Eine Familiengründung können wir uns alle nicht leisten. Wir haben
immerhin noch die Befriedigung, dass wir wirksam sind. Wir hatten aber auch
ein paar Menschen aus der Zivilgesellschaft, die uns geholfen haben. Der
Kellerclub in Neukölln hat uns zum Beispiel lange mit festen
Produktionsräumen versorgt. Aus denen wir jetzt ausziehen müssen, weil der
Zalando-Konzern das Haus gekauft hat.
Was brauchen Sie jetzt?
Ein Theater zu schaffen, war zunächst mal ein zentraler Punkt. Es wäre nun
gut, ein ganzes Areal zu haben, auf dem Kulturproduzent*innen nebeneinander
her und zusammenarbeiten können. Dauerhafte Freiräume! Und das Neue dabei
wäre, dass es auch darum geht, Formen von Grundrechten selber zu
produzieren. Letztlich wird es uns darum gehen, ein neues Stadtviertel zu
gründen, das der Kulturproduktion Berlins zugutekommt. Der positiv
verstandene Größenwahn ist dabei mitbedacht.
20 Oct 2019
## AUTOREN
Anselm Lenz
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