# taz.de -- Proteste gegen Brexit: „Und der Haifisch, der hat Zähne“ | |
> Seit zwei Jahren wird in London gegen den Brexit demonstriert. Das | |
> Auftreten der Remainer ist ein Lehrstück in Sachen Protest. | |
Bild: „John“, wie Freier und „Johnson“, wie Freiersohn – britischer H… | |
LONDON taz | Steve Bray ist nicht gekommen. Bei der Westminster Abbey war | |
das Treffen geplant. Ihn würde man am Hut erkennen, den er mit einer | |
Europafahne dekoriert hat, sagte er. Bray ist eine Berühmtheit. Sogar in | |
Deutschland. Er gibt den Brexitgegnern ein Gesicht. Werden Artikel zum | |
britischen EU-Austritt mit Fotos von Brexitgegnern versehen, sehr | |
wahrscheinlich, dass er drauf ist. Weil er vor zwei Jahren den Dauerprotest | |
gegen den Brexit vor den Houses of Parliament in London initiiert hat. | |
Seither stehen er und seine Mitstreiter*innen jeden Tag davor, wenn die | |
Abgeordneten tagen, schwingen die EU-Fahnen, rufen Parolen „Stop the Brexit | |
mess“, „Lead with facts not leave with lies“, „Brexit is Democrazy“ �… | |
verrückt gemachte Demokratie. | |
Zudem hat Bray „Sodem“ gegründet – eine Organisation für die Europäisc… | |
Bewegung. Früher aber, als er noch ein ziviles Leben hatte, war der | |
50-jährige Numismatiker, Experte für Münzen, also auch irgendwie exotisch. | |
Jetzt hat er die Verabredung platzen lassen, zu viel zu tun. Auf der | |
Facebook-Seite von Sodem wird geraten, dass die Aktivisten ihre Kräfte | |
schonen, vor allem so kurz vor dem Finale. Auch will Bray die Labour-Partei | |
dazu bringen, ein zweites Referendum zu befürworten und sich dabei klar zur | |
EU zu bekennen. Das ist nicht ganz einfach bei der in Sachen Brexit | |
zerstrittenen Oppositionspartei. „You can’t stop a Tory Brexit with a | |
Labour Brexit“, steht auf einem Plakat, das die, die für die EU sind, | |
Corbyn, dem wankelmütigen Führer der Labour-Partei, vor die Nase halten. | |
## Die Zeit läuft ab | |
Statt Bray ist jetzt aber Jim Burscough aufgetaucht. Das war nicht | |
abgesprochen. Aus Manchester ist der, und immer, wenn er in London sei, | |
geselle er sich zu den EU-Verfechtern vor dem Parlament und zeige, dass er | |
ein offenes Land will, keins, das sich einigelt in einer abhanden gekommen | |
Größe. | |
Heute steht er erst mal allein da. Er steht auf den Stufen vor dem Denkmal | |
für George V., der König war, als das Britische Empire groß und die | |
Forderung nach Mitbestimmung stark waren, und schwenkt seine kleine | |
Europafahne, die an einem dünnen, langen Stab hängt und deshalb weit | |
herausragt. Manchmal stellt er die Fahnenstange auch neben sich, als wäre | |
sie eine Standarte. Im ersten Augenblick wird er für Bray gehalten. „I am | |
not wearing a hat“, sagt er. Er habe doch keinen Hut auf, wie könne man ihn | |
da verwechseln. | |
Er ist eben gerade in London, da wolle er zeigen, wofür er steht. Und weil | |
Freitag ist, also FFF-Tag, Fridays-for-Future-Tag, ziert seine Europafahne | |
in der Mitte auch deren Erkennungszeichen: die Sanduhr. Zeit läuft ab. Es | |
wird immer enger. Und er, sagt er später, werde immer radikaler. | |
Erst jedoch, erklärt er, was er von Boris Johnson hält: ein großes Kind sei | |
der, ein „Arturo Ui wie bei Brecht“, ein „Kandidat wie bei Flaubert“ �… | |
Mensch der falschen Versprechungen, der Lügen und des schmutzigen Geldes. | |
„Ich finde allerdings, er ist ein schlechter Schauspieler. Man sieht, wenn | |
er Angst hat.“ Ein schlechter Schauspieler – es wirkt, als sei das für | |
Burscough der Gipfel. | |
## Mit britischem Humor und lautem Gesang | |
Eine freche Parole der Brexitgegner zeigt, was sie vom neuen Tory-Chef | |
halten: „Get your Johnson out of our Democray“ – Sorg dafür, dass dein | |
Johnson aus unserer Demokratie verschwindet. Nur wird hier auch mit „john“ | |
gespielt, und das heißt umgangssprachlich Klo, Freier, Unterhose. Sorg | |
dafür, dass dein Freiersohn aus unserer Demokratie verschwindet. Britischer | |
Humor halt – schwer verständlich für Leute vom Kontinent. | |
Jim Burscough ist ein Schöngeist und erwärmt sich mehr für Literatur, | |
Geschichte, Musik, Poesie und weniger für griffige Parolen. Denn während er | |
auf den Stufen vor George V. steht, erklärt er, warum er nicht aufgibt, | |
nicht aufhört, an die Macht des Protests zu glauben: „Vor 200 Jahren | |
wollten Arbeiter in Manchester wählen und durften nicht. Also haben sie | |
gegen das Verbot demonstriert. Der Protest wurde blutig niedergeschlagen. | |
Das war das Peterloo-Massaker. Das Wahlrecht haben sie dann aber doch bald | |
bekommen.“ | |
Und dann geht er, wie um die Toten zu ehren, einen Schritt nach vorne und | |
stimmt die Marseillaise an: „Allons enfants de la Patrie / Le jour de | |
gloire est arrivé / Contre nous de la tyrannie …“ Sein blaues Hemd, so blau | |
wie die Europafahne, ist aus der Hose gerutscht, sein behaarter Bauch lugt | |
hervor. | |
Er singt einige Strophen der Hymne mit seiner voluminösen Tenorstimme, und | |
eine Frau, die sich vorhin auf die Stufen vor George V. gesetzt hat, steht | |
auf und singt den Refrain mit. „Aux armes, citoyens / Formez vos bataillons | |
/ Marchons, marchons“, dann bricht sie ab, sagt „aber ich weiß, was bei der | |
Französischen Revolution dann geschah: Chaos.“ Und nach einer Pause: „Ach, | |
manchmal müsse man Unordnung schaffen, damit eine neue Ordnung entsteht, | |
das sang auch Leonard Cohen.“ Dann geht sie vondannen. | |
## „Die Waliser singen, sobald es Publikum gibt“ | |
Es irritiert, dass alle so belesen und kulturell bewandert sind. Und | |
Burscough verschärft die Irritation noch, weil er, für den diese Stufen vor | |
George V. eine Bühne mit großem Publikum sind, nach der Marseillaise ein | |
neues Lied angestimmt, „Jerusalem“ von William Blake – Englands | |
patriotischstes Lied. Kerzengerade steht er da, die rechte Hand an der | |
Fahnenstange, die linke an der Hosennaht. Er singt es bis zum letzten Wort. | |
„Ein wenig umstritten sei es“, irgendwie patriotisch, antimodern und | |
sozialistisch in einem, sagt er. Später beim Nachlesen steht da noch, dass | |
auch die Suffragetten es gesungen hätten und auf der Hochzeit von William | |
und Kate wurde es gespielt. | |
Burscough aber ist schon einen Schritt weiter und hat „Freude schöner | |
Götter Funken“ angestimmt. Nur, da hat er den Text auf Deutsch doch nicht | |
bis zum Schluss parat, die EU-Hymne läppert auf den Stufen vor George V. | |
aus, und das, obwohl Burscough nicht schlecht deutsch spricht, schließlich | |
hat er Sprachen studiert, aber im Moment sei er arbeitslos. Er hat als | |
Englischlehrer gearbeitet, Englisch als Fremdsprache – ein Zero-hour-Job. | |
Und das bedeute, dass man nie weiß, wann und wie viel Arbeit man habe. Auf | |
die Frage, ob er in Wirklichkeit gar nicht Lehrer, sondern Sänger sei, | |
meint er. „Sänger nicht, ich bin Waliser. Die singen, sobald es Publikum | |
gibt.“ | |
Es sei nicht schwierig, mit Walisern zu singen, aber schwierig, Lieder zu | |
Ende zu bringen, weil die Waliser die Texte nicht kennen. Sagt es und | |
stimmt „Und der Haifisch, der hat Zähne / und die trägt er im Gesicht“, an | |
und springt alsbald zum Ende: „Denn die einen sind im Dunkeln / Und die | |
andern sind im Licht / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht | |
man nicht“. Leute, die um die Statue herum stehen, applaudieren. | |
Da passiert etwas: Eine Frau, graublond, füllig und mit einem schönen | |
Lachen, das ansteckt, steht unten vor den Stufen zu George V., steigt nach | |
kurzem Zögern hoch, öffnet ihre Handtasche, holt ein buntes Tuch raus, | |
zieht die Teleskopstange, an der das Tuch hängt, auseinander und schwenkt | |
nun ebenfalls eine Europafahne – kombiniert mit dem Union Jack. | |
## Wie hält man das durch? | |
Ist das jetzt inszeniert? Nein, was für ein Gedanke. Josie Whiteley heißt | |
sie, ist aus Yorkshire und ebenfalls zu Besuch in London. „Ich bin eine | |
EU-Bürgerin. Ich will nicht, dass man mir meinen EU-Pass wegnimmt“, sagt | |
sie. An ihrer Fahnen hängen unzählige Geschenkbänder, auf denen Namen | |
stehen. Es seien die von Freunden und Bekannten, die auch gerne | |
demonstrieren würden, aber nicht können. „Mit mir stehen 120 Menschen | |
hier“, sagt sie und dann verheddern sich Fahnen und Bänder in ihren Haaren, | |
weil eine Windböe in sie hineinfährt. „Huch, I am being attacked by my | |
flag“, sie lacht – oh, die Fahne greift mich an. | |
Whiteley arbeite als Beraterin im Bildungsbereich und beobachte mit | |
Entsetzen, was alles im Argen liege. Den Brexit hält sie für ein Programm, | |
das nur den mächtigen Reichen dient, die damit noch mehr Geld machen | |
wollen. Es entsetzt sie so sehr, dass sie dagegen protestieren will: „I am | |
not going to be violent, but I have a right to protest.“ | |
Wie halten Sie das nur aus? Zwei Jahre schon. Wie halten Sie das durch? Und | |
Burscough antwortet, dass er ein Plakat sah, auf dem „Hoffnung ist Kraft“ | |
stand. Im Vietnamkrieg hätten die Demos auch was verändert. „Es begeistert | |
mich immer, Leute zu sehen, die widerstehen. Man kann sich einsam fühlen, | |
kann an Geld oder Probleme denken, ich bin arbeitslos, aber wenn ich Leute | |
sehe, die protestieren, gibt mir das Hoffnung, und lässt mich freier denken | |
und sprechen“, sagt er. „Die Weiße Rose, kennen Sie die?, ja sicher, Sie | |
sind Deutsche.“ Die Weiße Rose jedenfalls ist sein Vorbild. Wie die ihren | |
Widerstand zeigten, das gefällt ihm. | |
Eine ganze Weile stehen die beiden vor der Statue. Leute kommen vorbei, | |
sagen ihnen, dass sie das gut finden, machen Fotos, hören zu, gehen wieder. | |
Ob sie schon mal attackiert wurden? Er nicht, antwortet Burscough. | |
Und auf die Frage, ob er immer radikaler werde, je älter er wird, antwortet | |
Burscough. „Ja, schon. Radikaler, und ungeduldiger“. Dann zögert er, „man | |
könnte sagen, das liegt an meiner ökonomischen Situation, aber ich hoffe, | |
dass ich es auch wäre, wenn es anders liefe.“ Und sowieso, sagt er noch, | |
„radikal ist in England ein besonderes Wort“, es hätte mit extremistisch | |
nichts zu tun, radikal stehe im Zusammenhang mit Veränderungen, die gute | |
Entwicklungen in Gang setzten. „Radikal ist positiv.“ | |
18 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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