# taz.de -- Unterwegs in einem überfüllten Zug: Die Welt im Brennglas | |
> Durchsage des Zugführers: „An alle, die stehen: Bitte verlassen Sie den | |
> Zug. Wir fahren sonst nicht weiter.“ Ein Raunen geht durch den Zug. Und | |
> jetzt? | |
Bild: Ein wiederkehrendes Phänomen: Überfüllter Zug, hier in Hamburg im Jahr… | |
Ich sitze in einem Abteil. Ich sitze in einem Experiment. Ich stelle mir | |
vor, dass nur dieses Abteil durch die Welt gischt. Als wäre da nur der Zug | |
und die Welt. Wie in „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, wo es nur | |
die Loks und die Insel Lummerland gibt. | |
Ich sitze schon seit Stunden in diesem Zug, der weit aus dem Süden nach | |
Hamburg fährt. Es ist ein Sonntag nach einem Brückentag. Der Zug ist voll. | |
Draußen in den Gängen stehen die Menschen. Ich bin froh, einen Platz zu | |
haben, in einem Sechser-Abteil, als „Sonderabteil“ in der Leuchtanzeige | |
beschriftet. Als wäre dieses Abteil wirklich eine Fantasie. | |
Im Zug sind die Anzeigen für die Reservierungen ausgefallen. Wir sechs im | |
Abteil hoffen, dass niemand zusteigt, der hier reserviert hat. Dann kommt | |
die nächste Station: Eine Frau mit riesigem Koffer bleibt vor unserem | |
Abteil stehen: „Wagen 6, Platz 86. Sehr schön, das ist meiner.“ Wir alle | |
haben den gleichen Gedanken: Hoffentlich ist es nicht mein Platz. | |
Die Frau neben mir hat die Niete gezogen. 86. Wie in einem Spiel verlässt | |
sie die Welt. | |
Die Passagierin kommt mit dem Koffer rein und schaut auffordernd einen | |
jungen Mann an. Er wuchtet ihren Koffer hoch. Sie setzt sich und presst die | |
Lippen aufeinander. Ich spüre, wie unsympathisch mir ihre rechthaberische | |
Art ist, dass ihr ein Stück dieser Welt gehört, nur weil sie es reserviert | |
hat. | |
Eine Durchsage ertönt nun: „Wir fahren noch nicht los“, sagt der Zugführe… | |
„Der Zug ist zu voll. Er stellt ein Sicherheitsrisiko dar. Ich bitte alle | |
Reisenden, die stehen, auszusteigen.“ | |
Ein Raunen geht durch die Gänge. Die Menschen schauen erschrocken. Als | |
würden sie, wenn sie aussteigen, tatsächlich in ein Lummerland katapultiert | |
werden, wo es nichts gibt, außer dem wegfahrenden Zug. Unsere Welt teilt | |
sich nun in drei Kategorien: Die Menschen mit Reservierung. Die Menschen | |
ohne Reservierung mit einem Platz. Die Menschen in den Gängen – die | |
Unerwünschten. | |
Vor unserem Abteil im Gang steht eine junge Frau. Sie schaut ängstlich. „Wo | |
soll ich denn jetzt hin“, sagt sie. Es ist Sonntagnachmittag. Draußen | |
regnet es. Niemand steigt aus. Wieder kommt die Durchsage: „An alle, die | |
stehen. Bitte verlassen Sie den Zug. Wir fahren sonst nicht weiter.“ | |
„Vielleicht steige ich aus“, überlegt auf einmal eine Frau mit feinem | |
Mantel neben mir. „Ich muss eh noch umsteigen. Vielleicht kann ich das ja | |
schon von hier. Dann sind wir eine weniger.“ „Seien Sie lieber vorsichtig�… | |
sagt die Frau mit der Reservierung. „Wer weiß, ob noch andere Züge fahren.�… | |
„Was passiert denn, wenn niemand aussteigt?“, frage ich. „Dann rufen sie | |
die Polizei. Die zieht die Menschen aus den Gängen“, sagt die Frau mit | |
Reservierung. | |
Zwischen unseren Sitzen im Abteil ist eine Holzablage, breit genug für | |
jemanden zum Sitzen. Ich schaue die junge Frau im Gang an: „Hier, setz dich | |
doch zu uns rein. Dann musst du nicht raus.“ Die Frau kommt dazu, wir | |
rücken zusammen. „Ich war noch nie zu siebt unterwegs“, sagt die Frau mit | |
der Reservierung. Sie lacht. Die Stimmung im Abteil entspannt sich. | |
Schokolade geht rum. Wir gefallen uns darin, nett zueinander zu sein, als | |
hätten wir dem System so eins auswischen können. | |
Doch der Zug steht. Keiner geht. Und deswegen geht es nicht voran. Als wäre | |
diese Szene eine Metapher für große Fragen der Gesellschaft: Wer nimmt | |
persönliche Einbuße für das Weiterkommen der Gemeinschaft in Kauf? Wenn nur | |
jeder an sich denkt, leiden am Ende alle darunter. Doch alle warten ab. | |
Keiner traut sich mehr, auf Toilette zu gehen. Als könnte einem der Platz | |
unter dem Hintern weggezogen werden, sobald er nicht mehr beschützt wird. | |
„Ich gehe“, sagt die Frau im Mantel neben mir plötzlich. Die anderen | |
schauen sie ungläubig an, als wäre sie blöd oder etwas naiv. | |
„Doch“, sagt sie fest. „Ich gehe. Sonst wird es ja nicht besser, sonst ge… | |
ja gar nichts los.“ Sie betritt den Flur. Sofort schlüpft jemand aus dem | |
Gang auf ihren Platz. Ich bin beeindruckt. Die Frau macht deutlich, dass | |
jedes Anrecht auch ein willkürliches ist. Dass draußen nicht Lummerland | |
ist. Draußen ist das Leben, mit dem wir alle in unserer eigenen kleinen | |
Welt verbunden sind. | |
11 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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