| # taz.de -- Streik in Frankreichs Krankenhäusern: Notfall Notaufnahme | |
| > Weniger Betten, zu wenig PflegerInnen und ÄrztInnen, aber mehr | |
| > PatientInnen: In Frankreichs Notaufnahmen streikt das Personal – | |
| > zumindest symbolisch. | |
| Bild: Bis die PatientInnen an den Tropf kommen, können Stunden ohne jede Hilfe… | |
| Paris taz | An der Fassade des Pariser Krankenhauses Saint-Antoine, unweit | |
| der Bastille, hängen aus Betttüchern gefertigte Spruchbänder mit der | |
| Aufschrift: „En grève!“ („Im Streik!“). Doch alle paar Minuten fährt … | |
| SAMU-Ambulanzwagen am Eingang der Notaufnahme „Urgences“ vor. Andere | |
| Patienten können noch eigenhändig in die Notaufnahme kommen, am Empfang | |
| sehen sie weitere Hinweise darauf, dass hier [1][das Personal streikt]. Mit | |
| Filzstift steht es auf der weißen Arbeitskleidung der Beschäftigten | |
| geschrieben, die hier vorübereilen. Das Personal der Notaufnahme ist | |
| offiziell im Streik – trotzdem arbeiten die Beschäftigten mehr denn je. | |
| Wie es wäre, würden sie ernsthaft die Arbeit niederlegen? Das wollen sich | |
| weder die Patienten noch die Behörden ausmalen. Der mehr symbolisch | |
| wirkende Streik wird in Frankreich sehr ernst genommen, in den | |
| französischen Medien erhält er ein fast durchwegs wohlwollendes Echo. Die | |
| an der Qualität der Pflege interessierten BürgerInnen haben Verständnis für | |
| die Anliegen, für die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen, die | |
| zugleich bessere Aufnahmebedingungen garantieren sollen. | |
| In Saint-Antoine hat der [2][Streik vor einem halben Jahr begonnen]. Es | |
| ging zuerst um Aggressionen, denen das Personal seitens entnervter | |
| Patienten oder deren Angehörigen ausgesetzt ist. Da es an verfügbaren | |
| Betten mangelt, liegen die Neuankommenden oft bis zu acht Stunden und | |
| länger auf Bahren, bis sich jemand um sie kümmert. | |
| Auch hinsichtlich der Zahl der Beschäftigten sind die Notfallstationen | |
| praktisch überall in Frankreich vor allem in der Nacht und am Wochenenden | |
| unterbesetzt. Absolute Priorität für die Ärzte und Pflegefachleute sind die | |
| wirklichen Notfälle, in denen es häufig um Leben und Tod geht. Die anderen | |
| müssen sich gedulden. | |
| ## In der Notaufnahme verstorben | |
| Gelegentlich berichten Frankreichs Lokalzeitungen sogar von Fällen, in | |
| denen Patienten nach langem Warten in der Notaufnahme verstorben sind, ohne | |
| einen Arzt gesehen zu haben. „Die Notaufnahme ist selber zum Notfall | |
| geworden“, erklärt die in Saint-Antoine als Hilfspflegerin beschäftigte | |
| Candice Lafarge. | |
| Die 33-jährige verrät, dass ihr Gehalt nach zwölf Jahren unermüdlichen | |
| Einsatzes mit 1.500 Euro im Monat nur knapp über dem gesetzlichen | |
| Minimallohn liege. Für sie ist das der Hauptgrund für den Personalmangel. | |
| Viele ihrer KollegInnen gingen deshalb lieber in private Kliniken oder | |
| Altersheime, wo sie mehr verdienten, sagt Lafarge. | |
| KollegInnen, die in den Privatsektor wechseln oder gleich den Beruf an den | |
| Nagel hängen: Diese Situation kennt auch der diplomierte Krankenpfleger | |
| Pierre Schwob. Er macht im Krankenhaus Beaujon in Clichy bei Paris fast | |
| ausschließlich Nachtdienst. Jetzt sitzt er in einem Café und sieht bleich | |
| und ermüdet aus. „In meiner Notfallabteilung bin ich der Einzige, der es | |
| acht Jahren ausgehalten hat“, sagt er. | |
| Er gehört wie Candice Lafarge zum Kollektiv Inter-Urgences, das diesen | |
| Streik koordiniert. „Wenn ältere Menschen mehrere Stunden ohne Betreuung | |
| auf der Bahre liegen, weil wir kein Bett für sie haben, ist das eine Form | |
| von institutioneller Misshandlung“, schimpft Schwob. | |
| ## 10.000 zusätzliche Arbeitsstellen | |
| Auch er erachtet es als vorrangig, die Pflegeberufe im öffentlichen Dienst | |
| aufzuwerten. Dazu müssten die Löhne um 300 Euro im Monat erhöht werden. „In | |
| vielen Abteilungen gibt es zwar Stellen, doch sie können mangels | |
| Bewerbungen nicht besetzt werden“, sagt Schwob. Trotz des Mangels an | |
| BewerberInnen fordert das Kollektiv für ganz Frankreich 10.000 zusätzliche | |
| Arbeitsstellen für die Notaufnahmen. | |
| Außerdem wollen die Streikenden erreichen, dass die existierenden | |
| Aufnahmekapazitäten nicht noch weiter abgebaut werden. Diese seien im | |
| Rahmen der Kostensenkungen und Fusionen von Abteilungen in der Provinz in | |
| Frankreich in den vergangenen zwanzig Jahren um 100.000 Betten reduziert | |
| worden, so Schwob. Ein offizieller Bericht über die | |
| Gesundheitseinrichtungen Frankreichs mit Zahlen aus dem Jahr 2017 bestätigt | |
| den Bettenrückgang. In der gleichen Zeit hat sich die Patientenzahl Schwob | |
| zufolge praktisch verdoppelt. Zu den eigentlichen medizinischen Notfällen | |
| kämen Kranke, die keinen Hausarzt haben oder in einer Arztpraxis keinen | |
| Termin bekommen konnten, sagt Lafarge. | |
| Die Regierung möchte zunächst vor allem die Nachfrage drosseln. Die | |
| französische Gesundheitsministerin Agnès Buzyn, selbst ehemalige | |
| Medizinerin, versuchte den Streikenden bereits in kleinen Schritten | |
| entgegen zu kommen. Den Nachtdienst leistenden PflegerInnen will sie eine | |
| monatliche Prämie von 100 Euro gewähren. Zudem hat sie im Sommer einen | |
| Zusatzkredit von 70 Millionen Euro freigestellt, der es jedoch nur gerade | |
| erlaubt hat, ferienbedingte Abwesenheiten durch Angestellte mit | |
| Zeitverträgen zu kompensieren. | |
| ## Diagnose via Internet | |
| Im Gegenzug möchte sie aber den Zugang zu den überfüllten Notfallstationen | |
| einschränken und dafür sorgen, dass für die besonders Gefährdeten die | |
| Wartezeit ganz weg fällt. Andere Personen, die nicht unbedingt als Notfälle | |
| einzustufen sind, sollen entweder zu einem frei praktizierenden Arzt | |
| geschickt oder in gewissen Fällen via Internet diagnostiziert werden. | |
| Das wäre neu. Bisher betrachten die FranzösInnen die kostenlose Aufnahme in | |
| der Notfall-Abteilung als unverbrüchliches Recht. Zuletzt hat Buzyn von | |
| einem „12-Punkte-Plan“ gesprochen, der in vier Jahren 750 Millionen Euro | |
| kosten soll. Ihre Priorität bleibt es, möglichst viele Patienten im Voraus | |
| in andere Zweige der Medizin umleiten, um Engpässe und Kosten im | |
| Krankenhaus zu vermeiden. | |
| Die Streikenden sind von der Machbarkeit und auch der Finanzierung dieser | |
| Vorschläge nicht überzeugt. Seit Anfang September unterstützt die | |
| Association des médecins urgentistes (AMUF) das Kollektiv Inter-Urgences. | |
| Deren Vorsitzender ist der aus den Medien bekannte Notfallarzt Patrick | |
| Pelloux. | |
| ## „Nächstenliebe und die Humanität“ | |
| Er wünscht ein Reform des Gesundheitswesens insgesamt: „Es braucht globale | |
| Lösungsansätze. Die Notfallstationen sind nicht das einzige Problem“, sagte | |
| Pelloux. Ihn ärgert besonders, dass die Regierung immer an die | |
| „Nächstenliebe und die Humanität“ appelliert habe, um zu Mehrarbeit | |
| anzuspornen: „Einer Pflegerin, die eigentlich vier Patienten betreuen | |
| sollte, wird gesagt, sie könne doch auch sechs übernehmen. Natürlich wird | |
| sie nicht nein sagen. Sie wird es tun, aber um den Preis einer beruflichen | |
| Erschöpfung.“ | |
| Inter-Urgences plant weitere Aktionen, um sich an die Öffentlichkeit zu | |
| wenden. Die Regierung kommt dadurch weiter unter Druck, denn die | |
| Streikenden erinnern ihre Patienten an ihr gemeinsames Interesse. Am | |
| Eingang der Notfallstation von Mülhausen im Elsass etwa werden die | |
| Eintretenden von einem Schild begrüßt, auf dem steht: „Sie müssen nicht | |
| warten, weil wir im Streik sind – Wir sind im Streik, weil Sie warten | |
| müssen.“ | |
| 23 Sep 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/gesundheitspolitik_intern… | |
| [2] https://www.nzz.ch/international/frankreich-streik-im-gesundheitssektor-spi… | |
| ## AUTOREN | |
| Rudolf Balmer | |
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