| # taz.de -- Auf Wolfstour in der Lausitz: Auf Spurensuche | |
| > Wölfe sind scheu. Obwohl es 33 Rudel in der Lausitz gibt, ist es oftmals | |
| > Zufall, wenn man einem Wolf begegnet. Mit Experten unterwegs. | |
| Bild: Wölfe sind in freier Wildbahn nur selten zu sehen | |
| Eine Kreuzkröte rätscht ihren Paarungsruf von der Uferböschung, die | |
| Singdrossel trällert. Rechts neben dem Kraftwerk Schwarze Pumpe geht die | |
| Sonne als roter Ball auf und spiegelt sich auf dem Bergener See in der | |
| alten Tagebaulandschaft. In dem Morgenkonzert hört Naturführer Karsten | |
| Nitsch ein Zirpen heraus wie von einer Grille. „Das Blaukehlchen“, sagt er, | |
| legt den bärtigen Kopf schräg, lauscht in das Gebüsch am Abhang zum See. | |
| „Naturführer“ passt nicht zu Karsten Nitsch, eher Naturvermittler. | |
| Naturversteher. Oder Liebhaber. „Wenn die anderen in die Disco gefahren | |
| sind, bin ich in den Wald gegangen“, sagt er, mittlerweile 57 Jahre alt. In | |
| der DDR musste er Elektromonteur werden und konnte erst nach dem Mauerfall | |
| verwildern. „Ich hatte Haare bis hier“, sagt Nitsch und deutet mit flacher | |
| Hand an die rechte Gesäßbacke. | |
| In Wald, Steppe, Spree und dem, was die Natur sonst noch in der Lausitz zu | |
| bieten hat, ist er noch immer unterwegs. „Ich bin draußen, und die Leutchen | |
| kommen mit“, sagt Nitsch. Auch zum [1][Wolf], der an diesem Morgen noch | |
| nicht aufgetaucht ist. Auf dem Zweig einer Birke am Ufer entdeckt Nitsch | |
| einen spatzengroßen Vogel, dessen blaue Brustfedern im Nordwind plustern. | |
| „Die sind seit zwei Jahren hier.“ Nitsch hat beobachtet, wie die seltenen | |
| Blaukehlchen sich angesiedelt haben, wie die Wiedehopfe, Seeadler, | |
| Kreuzkröten und auch die Wölfe in der Lausitz heimisch werden. „Der Wolf | |
| ist zu mir gekommen“, sagt Nitsch. „Aber der Mistkäfer ist mir genauso | |
| wichtig.“ | |
| Karsten Nitsch fährt mit den Wolfsbesuchern immer zuerst mal zur | |
| Aussichtsplattform Bergener See in der alten Tagebaulandschaft nördlich von | |
| Hoyerswerda. Wenn schon wolf watching, dann sollen die Leute auch die | |
| Chance haben, mal einen Wolf zu sehen. Die Besucher können vom Seeufer | |
| ihren Blick weit schweifen lassen über Sand, Wasser, Gestrüpp. | |
| Ein Mann in Tarnfleckhosen und wattierter grüner Jacke hat schon ein | |
| Spektiv aufgebaut, ein baumstammdickes Fernrohr. Auch mit bloßem Auge | |
| erkennen Naturbeobachter vom Aussichtspunkt jede Bewegung auf einer | |
| sandigen Landbrücke, die die Wasserlandschaft zerteilt. Die Wölfe aus dem | |
| Knappenroder Rudel laufen hier oft durch die kniehohen Gräser, sonst auch | |
| mal Wildschweine und Rothirsche. Die Menschen am Ufer sind offenbar weit | |
| genug entfernt, dass sie die Tiere nicht stören. Zwei Tage bevor wir auf | |
| die Wölfe in der Morgendämmerung warten, ist ein Rudel mit sechs Wölfen | |
| über den schwarzgrauen Sand getrabt. | |
| „Man sollte hier nicht herfahren mit dem Ziel, einen Wolf zu sehen“, sagt | |
| Stephan Kaasche. Er bietet ebenso wie Karsten Nitsch Wolfstouren in der | |
| Lausitz an, manchmal führen die beiden zusammen Gruppen von 12, 15 Leuten | |
| aus Belgien, Holland, der Schweiz durch die Lausitz, erklären den | |
| Besuchern, wie Wölfe leben, jagen, sich paaren und verhalten. Sie bringen | |
| die Menschen in die Spuren von Wölfen, zeigen, messen und deuten die | |
| Fährten im Sand und entdecken mit ihren Besucherinnen die dicken Würste aus | |
| Haaren, Knochensplittern, Kot an den Wegkreuzungen. | |
| Kaasche spricht auch im staatlichen Auftrag für den Wolf vor Schulklassen | |
| oder Bürgerversammlungen. „Überall da, wo ihr schon mal ein Reh seht, kann | |
| ein Wolf sein“, erzählt Kaasche den Schülerinnen und Schülern einer 8. | |
| Klasse, die in die Wolfsscheune im Erlichthof in Rietschen gekommen ist. | |
| Das Kontaktbüro „Wolfsregion Lausitz“ informiert dort über den Wolf. | |
| „Iiiihh“, rufen einige der Schülerinnen, als Kaasche ein Glas mit | |
| Wolfslosung herumgibt, eine mit Wildschweinhaaren durchsetzte | |
| gräulich-braune und längst erstarrte Wurst. Kaasche argumentiert auch dann | |
| gelassen, wenn mal wieder ein Wolfsfeind, ein Skeptiker im Publikum sitzt. | |
| Die erzählen, auch zwanzig Jahre nachdem wieder Wölfe in der Lausitz leben, | |
| dass nun die Waldkindergärten geschlossen werden müssten und Kinder nicht | |
| mehr allein in den Wald gehen können. Kinder, die in den Wald gehen, wissen | |
| hingegen, dass Wölfe extrem gute Sinne haben und sehr vorsichtig sind. Wenn | |
| sie Menschen wahrnehmen, verschwinden sie. Sollten sich Mensch und Wolf | |
| doch einmal begegnen, verharren die Wölfe, schauen, checken und drehen dann | |
| ab. | |
| 33 Rudel leben in der Lausitz, also 33 Familienverbände aus Mutter und | |
| Vater Wolf, vier bis sechs Welpen aus dem Wurf im Frühjahr und oft ein, | |
| zwei weiblichen Jungwölfen aus dem Jahr zuvor. Die älteren Geschwister | |
| helfen bei der Aufzucht. Seit dem Frühjahr 2000 ziehen Wolfspaare wieder | |
| Welpen in der Lausitz auf, zuvor lebten schon einzelne Wölfe in der Region | |
| im Osten Sachsens. | |
| Die sächsischen Jungwölfe und aus Polen zugewanderte Wölfe haben sich dann | |
| in den vergangenen 19 Jahren zunächst Reviere in der dünn besiedelten | |
| Lausitz gesucht. Ihre Nachfahren und deren Junge leben mittlerweile auf | |
| Truppenübungsplätzen in Brandenburg und Niedersachsen, ziehen an Berlin | |
| vorbei nach Mecklenburg, besiedeln die Waldinseln zwischen den | |
| Schweinemastanlagen nahe der holländischen Grenze. | |
| Wölfe brauchen keine Wildnis und keine menschenleeren Gebiete, sie folgen | |
| Menschen seit der Steinzeit. Aber Menschen brauchen den Sehnsuchtsort | |
| Wildnis. In der Lausitz entsteht eine neue Wildnis, nachdem die | |
| Braunkohlebagger und Panzer auf den ehemaligen Militärflächen ruhen. | |
| Ebenen wie in der Savanne erstrecken sich bis zum Horizont. Aus Sanddünen | |
| ragen Kiefern, Birken brechen durch den Schotter von Bahngleisen. An | |
| manchen Stellen sind die Bagger und Panzer schon so lange fort, dass | |
| spargeldünne Eichen im Schutz von Besenginster wachsen. Seeadler und | |
| Schwarzmilane kreisen über dem wüsten Land. Das obertonartige Ooouuup der | |
| Wiedehopfe ertönt im Naturschutzgroßprojekt Lausitzer Seenland, das wie | |
| eine nacheiszeitliche Versuchsfläche einen Blick in die europäische | |
| Naturgeschichte gewährt. Noch immer mehr eine Brache als üppige Wildnis. | |
| ## Das Wirtshaus „Zum Hammer“ | |
| Der Wolf ist nur ein Tier unter den vielen wilden Tieren in der Lausitz, | |
| den Fischottern, Minks, Kranichen und Kreuzkröten. Aber der Wolf hat | |
| Bewegung in die Natur und in die Region gebracht. „Fährtenleser und | |
| Wolfsfreunde kommen eigentlich das ganze Jahr“, sagt Ruth Holz, Wirtin des | |
| Gasthauses Zum Hammer in Neustadt an der Spree. | |
| Seit 1725 betreibt ihre Familie das Wirtshaus Zum Hammer, sie ist dort | |
| geboren, ebenso wie ihre Tochter Franziska und deren noch kleine Söhne, die | |
| alle zusammen im Anbau hinter dem Wirtshaus leben. | |
| „Die Jungs sind mit Klappmesser in den Truppenübungsplatz“, erzählt Ruth | |
| Holz und deutet mit dem Kopf hinter das Haus. „Unter der | |
| Hochspannungsleitung haben sie Wolfsspuren entdeckt“, sagt sie. „Da war uns | |
| schon so ein bisschen mulmig“, sagt Holz und winkt dann ab, als wäre sie in | |
| ihre eigene Gedankenfalle getappt. Sie erinnert sich gut, wie Gastraum und | |
| Festsaal voll mit Menschen waren, die 2001, 2002, aufgeregt und manche | |
| voller Angst über den Wolf hinterm Haus reden wollten. | |
| Nachts hörten sie die Wölfin Sunny heulen. „Was waren das für hitzige | |
| Debatten!“, sagt Holz. „So ist der Mensch – immer zuerst Angst vor dem | |
| Neuen und dem Fremden.“ Damals kamen noch Jagdtouristen aus | |
| Westdeutschland, die im Landesforst auf Jagd gingen. Heute wohnt auch mal | |
| tagelang ein japanisches Fernsehteam im Hammer, das den Wolf filmen will. | |
| „Und die Naturfreaks, denen ist ja egal, ob es regnet, die kommen auch im | |
| November.“ | |
| Nach der Braunkohle wird der Tourismus eine der wichtigsten | |
| Wirtschaftszweige in der Lausitz zwischen Sachsen und Brandenburg sein. Der | |
| Wolf beflügelt schon jetzt den Tourismus. Ein 45 Kilometer langer | |
| „Wolfsradweg“ verbindet das Kraftwerk Boxberg mit dem Lausitzer | |
| Findlingspark, führt durch Wiesen und Wälder entlang von Teichen zur | |
| historischen Erlichthof-Siedlung mit der Wolfsscheune und erklärt unterwegs | |
| alles über den Wolf. | |
| ## Der Wolf, ein Touristenmagnet | |
| Es gibt Wolfsschokolade aus der Schokoladenmanufaktur, Wolfsschmaus im | |
| Gasthaus, Gästezimmer „Zum Wilden Wolf“, Wolfsgeschirr in der | |
| Keramikwerkstatt, Wolfsheuler in der Schnapsflasche. „Der Wolf zieht“, sagt | |
| Vanessa Ludwig vom Kontaktbüro Wolfsregion Lausitz. „Er ist ein | |
| Touristenmagnet.“ | |
| Was machen die Besucher, wenn sie einen Wolf sehen? „Es ist sehr schwer, | |
| einen Wolf zu sehen“, sagt Stephan Kaasche. „Und ihn von einem Hund zu | |
| unterscheiden.“ Die meisten Menschen sehen die Wölfe zufällig vom Auto | |
| heraus. Da läuft einer am Waldrand. Ein Wolf quert eine Straße. | |
| „Du musst dich entspannt in der Natur bewegen“, sagt Karsten Nitsch. Ruhig | |
| sein, nicht zu viel herumlaufen, eher sitzen, warten und sich über alle | |
| Begegnungen und Sichtungen von Tieren freuen. Und wenn doch ein Wolf auf | |
| dem Weg auftaucht, den Anblick genießen und sich dann bemerkbar machen. | |
| Klatschen, die Arme heben und sich größer machen. | |
| Am Bergener See steigt ein Seeadler in der Morgendämmerung aus dem Wald | |
| auf, fliegt einen Bogen und gleitet dann einen Moment lang auf Augenhöhe am | |
| Ufer entlang, bevor er hinaus auf den See fliegt. | |
| 7 Sep 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrike Fokken | |
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