# taz.de -- Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg: Der Ersatz-Hundertmorgenwald | |
> Die Sehnsucht nach der kindlichen Unschuld wird in Form von Nostalgie | |
> zelebriert. Deshalb gehen die Menschen zu den Karl-May-Festpielen. | |
Bild: Alte Helden: Szene aus der diesjährigen Aufführung „Unter Geiern“ i… | |
Mein Vater war ein großer Karl-May-Fan. Er war auch ein großer | |
Freddy-Quinn-Fan, aber das ist eine andere Geschichte. Mein Vater las | |
einzig und allein Bücher von Karl May, sehr zum Ärger meiner Mutter, die | |
ihn immer wieder versuchte, zu in ihren Augen „richtiger“ Literatur zu | |
bekehren. Für meinen Vater kam das nicht in Frage, er las, wenn er las, nur | |
Karl May. Er hat auch nie ein einziges meiner Bücher gelesen. | |
Ich denke, man soll die Menschen nicht bekehren, wenn sie niemandem | |
schaden, als allerhöchstens sich selbst. Mein Vater hatte Gründe, Karl May | |
zu lieben, die so sehr mit seiner Lebensgeschichte verknüpft sind, dass sie | |
in einen anderen Text gehören. | |
Mein Vater war ein Romantiker, er liebte die Fantasiewelten, er liebte auch | |
„schöne“ Reportagen über Inseln, Steppen, ferne Länder. Aber er liebte | |
nicht das Reisen und deshalb reiste er auch nicht. Er las Karl May. Ich | |
habe meinem Vater einmal ein reich bebildertes Buch über das echte Leben | |
der amerikanischen Ureinwohner geschenkt, aber das hat ihn auch nicht | |
interessiert. Er sehnte sich allein nach dem Ort, den man vielleicht mit | |
dem Hundertmorgenwald aus „Pu der Bär“ vergleichen kann. | |
Wenn der kleine Christopher Robin sich von diesem Ort verabschieden muss, | |
weil er zukünftig einen anderen Ort betreten wird, den Ort der Bildung, | |
dann musste ich an dieser Stelle beim Lesen immer weinen. Zu schmerzlich | |
ist der Abschied von der Unschuld. Denn die Unschuld beruht auf der | |
Unwissenheit. | |
Ich habe mir mal eine Menge Ärger eingehandelt, als ich auf die gereizte | |
Bemerkung eines Menschen, er wünsche sich, einfach nur einkaufen gehen zu | |
können, ohne darüber nachdenken zu müssen, wie die Dinge hergestellt | |
würden, meinte, das hätten sich die Menschen im Nationalsozialismus auch | |
gewünscht, und viele hätten einfach Dinge nicht wissen wollen, weil es | |
einfacher ist. Es ist einfacher, zu leben, wenn man die Zusammenhänge nicht | |
kennt. Es ist einfacher zu leben, in Unschuld wie ein Kind. | |
Am Sonntag gab es in Bad Segeberg die letzte diesjährige Aufführung der | |
Karl-May-Festspiele. Ich wäre gerne einmal mit meinem Vater dort | |
hingefahren. Es hätte ihm sehr viel Freude gemacht, glaube ich, aber er | |
reiste nun mal nicht gern, und so hat es sich nicht ergeben. | |
Es gab in diesem Jahr auch Vorwürfe, und vielleicht hat es die schon immer | |
gegeben, gegen die falsche, klischeehaft verkitschte Darstellung von | |
amerikanischen Ureinwohnern. Eine Professorin für Amerikanistik, Mita | |
Banerjee, ist der Ansicht, dass die Festspiele in der Art nicht mehr | |
stattfinden könnten. | |
Und in welcher Art sollten sie stattfinden? Wir leben in einer Zeit, in der | |
in Kitas diskutiert wird, ob es noch in Ordnung ist, dass Kinder zum | |
Fasching als „Indianer“ verkleidet kommen. Dass selbst Vorschulkinder schon | |
aus dem Hundertmorgenwald vertrieben werden sollen, erregte die Menschheit | |
jeder Kommentarspalte. | |
Aber wie steht es nun, mit diesem Wissen, mit dieser Aufklärung, und wie | |
soll man sich verhalten? Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass es eine Art | |
Ersatz-Hundertmorgenwald für Erwachsene gibt, man nennt ihn NOSTALGIE. Die | |
Sehnsucht nach der kindlichen Unschuld wird in Form von Nostalgie | |
zelebriert, alte Helden, alte Filme, alte Bücher, alles, was uns als Kinder | |
so begeistert hat, das feiern wir, weil wir uns auf diese Art wohlfühlen | |
wollen, geborgen, wie damals, als die Abenteuer noch unschuldig waren. | |
Die Karl-May-Festspiele sind ein Ersatz-Hundertmorgenwald. Die Menschen | |
gehen dort hin, und sie fühlen sich wohl. Sie wissen sicher, die meisten, | |
denke ich, dass es sich um ein Märchen handelt, aber sie wollen es, für | |
diesen wohligen Moment, vergessen. Sie wollen die Verantwortung für die | |
Realität abgeben. Die Sehnsucht ist verständlich. Die Frage ist nur, was | |
ist der Preis und können wir uns diesen Preis leisten? Global gedacht, | |
moralisch. Ist es das wert? Schadet es überhaupt? Und wem konkret? | |
„You can’t stay in your corner of the forest waiting for others to come to | |
you. You have to go to them sometimes.“(A.A. Milne: Winnie Puuh) | |
11 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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