# taz.de -- 100. Todestag Karl May: Unsterblich im Winnetouland | |
> In der DDR war er lange verpönt. Umso mehr stachelte Karl May die | |
> Fantasie seiner Bewunderer in der sächsischen Heimat an. Eine | |
> Spurensuche. | |
Bild: „Eine Aura, die weiterwirken wird“: Dakota-Indianer-Wachsfigur im Kar… | |
HOHENSTEIN-ERNSTTHAL/RADEBEUL taz | „Karl May lebt!“, schreit es von der | |
Fahne. „Karl May lebt!“, ruft ein Plakat am Torweg. „Karl May lebt“, | |
wiederholt es der Zettel im Fenster. Nur die Kehrmaschine, die | |
vorüberkriecht, verkündet keine Botschaft. Als ob sie hier in | |
Hohenstein-Ernstthal nicht wahrhaben wollten, dass ihr Sohn schon seit | |
hundert Jahren tot ist. In der Butze, schmal wie ein Handtuch, kam der | |
Vater von Winnetou zur Welt, heute ist sie ein Museum – und ein Tempel, aus | |
dem es unablässig summt: „Karl May lebt!“ | |
„Da ist ’ne Aura, da ist ’ne Spannung vorhanden, die wirkt und weiterwirk… | |
wird“, hebt André Neubert an. Trüge er nicht das weiße Hemd, sondern ein | |
Lederwams, man könnte glauben, Old Shatterhand redet. An Wuchs und Kraft | |
steht er ihm in nichts nach, und selbst seine sächsische Zunge stört nicht. | |
Doch Neubert ist kein Landvermesser in den Rocky Mountains, sondern | |
Museumsleiter im Erzgebirge. Der 52-Jährige vermisst keine Eisenbahntrasse, | |
er vermisst die Existenz von Karl May. | |
Dieses Leben begann hier in dem Haus unweit der Kirche. Tafeln mit dem | |
Konterfei von May alias Old Shatterhand prangen an jedem dritten Haus in | |
Hohenstein-Ernstthal, erzählen, wo sich der kleine May Bücher lieh, wo er | |
Kartoffelschalen erbettelte und wo er den Gesangsverein leitete. | |
Im Zentrum dieser Topografie blickt an der Kirche May selbst von einer | |
Säule. Ein Professorengesicht mit Oberlippenbart, und die Lippen so | |
gespitzt, als wollte er noch etwas mitteilen. Doch seine wichtigste | |
Botschaft steht in der Säule gemeißelt: „Es sei Friede“. Das ist der | |
letzte, größte Wunsch von Old Shatterhand, Winnetou, Kara Ben Nemsi und Dr. | |
Karl May, Sohn mittelloser Weber, der über sieben Jahre in sächsischen | |
Zuchthäusern zubrachte, bevor er in seine Abenteuerwelt aufbrach, mit | |
Erzählungen zurückkam und Rekordauflagen erzielte. | |
## Ins Japanische übersetzt | |
André Neubert muss sich im Karl-May-Haus beständig bücken. Die Treppe | |
ächzt, als er, vorbei an der Winnetou-Büste, nach oben klettert. „Mit den | |
Namen Winnetou und Karl May kann jeder etwas anfangen“, fährt er fort. Ob | |
man den Sachsen nun mag oder nicht. Neben Mozarts „Zauberflöte“ ist der | |
Winnetou-Zyklus der meistgespielte Stoff auf deutschen Freilichtbühnen, | |
über 300.000 Besucher allein 2011 in Bad Segeberg. | |
Und wenn in Deutschland trotz allem das Interesse nachlassen sollte – | |
vielleicht wird der edle Indianer dann die Chinesen anrühren? „Das wäre | |
eine Milliardenauflage“, frohlockt Neubert. Nächste Woche komme der | |
japanische Übersetzer, und die Bahasa-Indonesia-Übersetzungen lassen | |
hoffen. Neubert bleibt vor einer Vitrine stehen. Wie zum Beweis bietet sie | |
lauter frische Druckware zum Karl-May-Jahr 2012 feil. May auf allen | |
Deckeln, zumeist als Old Shatterhand mit Filzhut und Henrystutzen. | |
Man stelle sich Goethe als Faust, Thomas Mann als Hans Castorp und Grass | |
mit Blechtrommel vor. Karl May ist ganz und gar in seinen Helden | |
hineingekrochen. Und die Verwandlung wirkt. „Ein Dutzend Bücher, das geht | |
rund“, meldet sich Neubert zu Wort. Als ob er es selbst nicht glaubte, | |
sinniert er: „Man denkt, Karl May ist ausgelutscht. Ist er aber nicht.“ | |
Karl May lebt! Nur Kojoten und Hundesöhne können behaupten, er sei tot. | |
„Karl May lebt?“ Ein grauhaariger Herr steht im Museumsshop, wo die | |
grüngoldenen Bände wie stille Regimenter warten. Er spottet: „Ich seh ihn | |
aber nicht!“ – „Der ist gerade auf großer Reise“, entgegnet Mitarbeite… | |
Heike Graupner kess. Ein – Kojote? Hier? I wo. Herr Georgi erweist sich als | |
Fachmann. Er könnte seinen Winnetou im Schlaf runterbeten. Umso mehr treibt | |
ihn die Frage um: „Wer kann mir etwas zum Buch ’Hadschi Halef Omar im | |
Wilden Westen‘ sagen?“ Autor sei ein gewisser Karl Hohenstein, offenbar ein | |
Pseudonym. Frau Graupner muss passen. Sie schickt Georgi zu André Neubert | |
hinauf. | |
## Neumexiko oder Oberlungwitz? | |
Im Frühlingsdunst verschwimmen die Hügel. Sind das die Berge von Neumexiko, | |
wo Old Shatterhand und Winnetou Blutsbrüder wurden? Nein, da hinten liegt | |
Oberlungwitz, die Strumpfstadt. „Sie können erwähnen, dass Kinder und | |
Jugendliche im Karl-May-Jahr freien Eintritt bekommen“, war der Wunsch | |
André Neuberts. Die junge Generation hat solche Anreize bitter nötig. | |
Über den Fluren der Karl-May-Grundschule liegt eine seltsame Stille. | |
„Warnstreik!“, klärt ein Plakat auf. Oben sitzt Lutz Krauße in seinem Bü… | |
Der Leiter der einzigen Karl-May- Schule weltweit kommt schnell zur Sache. | |
„Die Frage, was die Kinder lesen, stellt sich gar nicht“, macht Krauße | |
klar. Viel wichtiger sei, dass sie überhaupt noch lesen. Und Karl May sei | |
für Erst- und Zweitklässler ein doch eher hartes Brot. | |
Krauße seufzt. Allgemein lasse die Lesefähigkeit zu wünschen übrig. „Die | |
Medienlandschaft hat sich so sehr verändert“, wirbt Krauße um Verständnis. | |
Es scheint, als hätten die Kinder vom Feuerwasser gekostet, das einst die | |
Apatschen zermürbte. Sparte vor hundert Jahren der Weber – stolz, endlich | |
lesen zu können – seine Groschen auf, um mit Old Shatterhand in die Ferne | |
zu reisen, winken seine Nachkommen müde ab. „Wir versuchen das auf dem | |
heimatkundlichen Weg“, erläutert Krauße. | |
Karl Mays Kindheit, überhaupt das Leben früher, damit könne man Kinder | |
erreichen. Zudem gebe es fächerübergreifenden Unterricht, wo man May | |
regelmäßig thematisiere, und demnächst fahren drei Klassen zur Villa | |
„Shatterhand“ nach Radebeul. „So versuchen wir, den Namen Karl May ein | |
bisschen aufzupeppen“, fasst Krauße zusammen. | |
Der Fluss glänzt in der Sonne. Ist das der Canadian River? Nein, es ist die | |
Elbe bei Dresden. Die Autobahnbrücke ist das Nadelöhr der A4. Und dennoch, | |
wenn bei René Wagner im nahen Radebeul das Telefon klingelt, dann öffnet | |
sich ein Spalt zum Wilden Westen. Die „Old-Shatterhand-Melodie“ erklingt so | |
laut, als hätte sich ein Filmorchester in die Bibliothek geschlichen. | |
## Auferstehung in den 80ern | |
Hier in der Villa „Shatterhand“ schließt sich der Kreis. Der Junge aus | |
Hohenstein-Ernstthal ist durch seine Bücher reich geworden. Die Villa hat | |
er sich zur Residenz erkoren. Am Sims ließ er mit goldenen Lettern Villa | |
„Shatterhand“ anbringen. Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi ritten hier | |
ein, stellten ihre Büchsen ab und gingen in Rente. Ihr Alter Ego Karl May | |
wurde hier aber auch von seinen Feinden verfolgt. Seine Abenteuerwelt sei | |
nur herbeifantasiert, behaupteten sie. Neumexiko? Habe er nie betreten. Die | |
Apatschen? Nie gesehen. | |
Dabei kann man eine Weltreise machen, ohne sich vom Stuhl zu erheben. | |
DDR-Bürger wissen das noch. Die fantastische Kraft Karl Mays hat hier | |
besonders gewirkt. René Wagner hat als SED-Genosse die letzte Auferstehung | |
Karl Mays persönlich miterlebt, er hat gesehen, wie sich der städtische | |
Kinderhort 1985 in die Villa „Shatterhand“ zurückverwandelt hat, auf Gehei… | |
Erich Honeckers. Danach wurde „Winnetou“ in Viertelmillionauflage gedruckt, | |
und die Bände gingen trotzdem nur unterm Ladentisch weg. | |
Wagner, 62 Jahre alt, seit 1987 Chef der Villa „Shatterhand“ und damit der | |
Statthalter Karl Mays, hat in die Dachkammer geladen, wo Tomahawks und | |
Friedenspfeifen griffbereit liegen. May selbst habe ja Freundschaft, | |
Pazifismus und die Achtung vor fremden Kulturen gepredigt, umreißt Wagner | |
das Wirken des Hausherrn. „Klar schneiden in allen seinen Werken die | |
Deutschen, gelinde gesagt, nicht schlecht ab“, räumt er ein. „Aber was bei | |
May an Werten vermittelt wird, das vermissen heute die Leute.“ | |
60.000 Besucher finden jährlich hierher. Welches Literaturmuseum könne | |
solchen Andrang vermelden? „Wenig für unseren Anspruch!“, setzt Wagner | |
hinzu. Deswegen werde gebaut, ein Haus für Museumspädagogik, ein | |
Besucherzentrum und ein Erlebnispfad. Außerdem wird die „Villa Bärenfett“ | |
saniert, das Blockhaus mit der Sammlung über die Indianer. Dann könnte man | |
sich wieder den Zahlen annähern wie nach der Wende, als 145.000 Besucher | |
kamen. | |
Unten füllt sich die Villa mit Besuchern. Vor dem Ausgang stehen hinter | |
Glas Silberbüchse, Bärentöter und Henrystutzen. Und Karl May? Der schläft | |
in einem griechischen Tempel auf dem Friedhof Radebeul-Ost. Einen | |
Gewehrschuss von hier entfernt. Apropos Schuss. Am Sterbetag könnten Old | |
Shatterhand und Winnetou geritten kommen, Büchsen in der Hand und vor dem | |
Grab ein Salut abfeuern. | |
Die Rentner an den Gräbern würden die Pflanzhölzer wegwerfen, von den | |
Stiefmütterchen aufblicken und fragen: Karl May lebt? Und die beiden Kerle | |
würden feixen: Vielleicht nicht direkt. Aber richtig tot ist er auch noch | |
nicht. | |
30 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
Thomas Gerlach | |
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Bad Segeberg | |
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