# taz.de -- Casting am Kalkberg: Entscheidung zwischen Schlägerei und Tanz | |
> Für die jährlich stattfindenden Karl-May-Spiele in Bad Segeberg sucht die | |
> Kalkberg GmbH in einem Casting 35 Statisten. BewerberInnen zeigen dort, | |
> dass sie in der Lage sind, glaubhaft Cowboys, Indianer und Soldaten | |
> darzustellen. Ein Selbstversuch | |
Bild: Sie haben es geschafft: Statisten bei den Karl-May-Spielen | |
BAD SEGEBERG taz| Karl May war ein Hochstapler. Seine Betrügereien brachten | |
ihn bis ins Zuchthaus. Davon lasse ich mich nicht beeindrucken. Im | |
Gegenteil: Ich lasse mich inspirieren. Ohne meine Identität als Journalist | |
preiszugeben, gehe ich durch die Tore des Indian Village in Bad Segeberg, | |
um beim Casting der Karl-May-Spiele mitzumachen. | |
Zusammen mit mir drücken sich noch etwa hundert weitere Menschen durch die | |
Tore. Heraus aus dem tristen Bad Segeberg, hinein in den Wilden Westen – | |
Saloons, Tipis und Planwagen umzingeln das Indian Village. Aus großen Boxen | |
ertönt Country-Musik – Texas Lightning. | |
Ronny läuft neben mir. Er ist ein alter Hase im Showbiz. Ob ich zum ersten | |
Mal hier sei, fragt er und nimmt einen tiefen Zug von seiner | |
Selbstgedrehten. „Ja“, sage ich kleinlaut. Er nickt und schiebt mit dem | |
Zeigefinger seinen schwarzen Cowboyhut hoch; die Absätze seiner | |
Cowboystiefel klacken laut auf dem Asphalt. „Ich bin zum 23. Mal hier“, | |
sagt er und schnippst seine Zigarette davon. | |
Neben ihm hüpft seine Freundin Uma von einem Bein auf das andere. Ihr ist | |
kalt. Die Fransen ihrer Lederjacke hüpfen mit. „Uma hier. Die war sogar mal | |
einen Nachmittag beim Großstadtrevier“, sagt Ronny und wartet auf ein | |
gebührendes Echo meinerseits. Als ich nichts erwidere, schiebt er | |
hinterher: „Das ist ’ne ganz andere Liga. Da gibt’s ’n Fuffi. Für nur … | |
Nachmittag. Das musst du erst mal verdienen.“ | |
Kurz darauf bin ich nur noch eine Nummer in der Casting-Mühle. Namentlich | |
die Nummer 12. Auf der Rückseite des großen gelben Zettels mit der Nummer | |
wird nach sensiblen Daten gefragt: Konfektionsgröße? Adresse? | |
Beschäftigung? Bühnenerfahrung? Hier kann ich also endlich mit meiner | |
Karriere im Kindertheater glänzen. | |
Nummer 1 fragt mich, ob ich wisse, was uns erwartet. Ich zucke mit den | |
Schultern. „Keine Ahnung!“ Die Mittzwanzigerin ist nervös. Sie möchte ger… | |
reiten. Nummer 45 klinkt sich ein, „das mit dem Reiten war schon. Heute is’ | |
kein Reiten mehr“, sagt sie. „Du kannst dich zwischen Schlägerei und Tanz | |
entscheiden.“ Nummer 1 überlegt: „Ich find Kloppen schöner.“ Da sind wir | |
uns einig. | |
Die Mittvierzigerin hinter mir in der Schlange ist nervös. „Meinste, dass | |
die Frauen auch so dolle hauen müssen“, fragt sie mich. Wo ist Ronny, wenn | |
man ihn braucht? Wir stehen vor der Station „Schlägerei“, zwei Stuntmänner | |
reißen Witze auf ungarisch, während die Teilnehmer darauf warten, dass es | |
los geht. | |
„Du musst ja gar nicht richtig hauen. Du musst nur antäuschen“, beruhige | |
ich sie. Es gilt, eine Schlagabfolge zu absolvieren. Während die Frau | |
hinter mir weiter plappert, hoffe ich nur, dass mich das NDR-Filmteam nicht | |
vor die Linse bekommt. | |
Der junge Mann vor mir zieht hektisch seine Jacke und seinen Schal aus | |
bevor es los geht. Der Stuntman wehrt mit Müh und Not einen Tritt in die | |
Lendengegend ab. „Langsam, langsam“, brüllt Steve, der Stuntchef. Das | |
Filmteam ist mittendrin. Der Teilnehmer macht laute Geräusche, während er | |
schlägt. „Piff“, „Paff“, „Disch“. Wie bei Batman damals. Als das g… | |
vorbei ist, krickelt Steve etwas auf die Rückseite des gelben Zettels. | |
Jetzt bin ich dran. Das sollte ja wohl nicht so schwer sein. Und überhaupt: | |
Ich habe jahrelang Karate gelernt. Bis ich zwölf wurde. Also: Schlag | |
einstecken, zurück taumeln, Tritt Richtung Weichteile. Schlagabfolge | |
vergessen. Noch mal von vorne. Der Stuntman stellt sich wieder breitbeinig | |
hin wie ein Torwart, der, anstatt Bälle, Schläge fangen möchte. | |
Steve brüllt „langsam, langsam“, die anderen Teilnehmer gucken wie Autos. | |
Beim zweiten Mal klappt das Ganze. Steve nimmt sich meinen Zettel und | |
krickelt auch den voll. Zwei Sterne mit Strichen darunter. Das ist bestimmt | |
gut, denke ich. | |
Vor Jahren habe ich einen Partnertanz-Kurs, zu dem meine Eltern mich | |
gezwungen haben, abgebrochen. Da habe ich mir geschworen, nie wieder | |
nüchtern zu tanzen. Auf der Veranda steht der Choreograph und schreit | |
lautmalerisch im Takt, während vor ihm rund zehn Leute durcheinander | |
stolpern. „Aaah, links, aaah, rechts! Oberkörper! Kreis! Und tschak und | |
tschak!“, feuert er die Tanzenden an. „Ich kann gar nicht tanzen“, sagt | |
Nummer 5 neben mir missmutig. „Aber wenn ich das jetzt nicht mache, kann | |
ich die Festspiele ja gleich vergessen.“ Der kleine, blasse Mann stellt | |
seinen Regenschirm zur Seite und geht entschlossen auf die Tanzgruppe zu. | |
Ich schaue ihm hinterher. Ach, was soll’s? | |
Während die vorherige Gruppe gedemütigt das Schlachtfeld räumt, nehme ich | |
Aufstellung neben Nummer 5 und Abschied von meiner Würde. Wir grinsen uns | |
an – zum Weinen reicht es noch nicht. Und dann geht es auch schon los. Der | |
Choreograph tanzt geschmeidig wie eine Katze vor uns her. Ich hingegen | |
rumpele von einem Tanzschritt zum nächsten. „Und Schritt und ran und | |
Schritt und ran. Dadadi, dadada“, tönt der Choreograph schon wieder. | |
Lautmalerei hilft mir jetzt auch nicht weiter. Fertig geübt – er macht die | |
Musik an und es geht ums Ganze. | |
Ich hab die Hälfte schon wieder vergessen und orientiere mich an dem | |
Mädchen vor mir. Das macht es auch nicht besser. Wie ein angeschossenes | |
Tier stolpere ich über die Tanzfläche. Gute Nachricht: Alle anderen machen | |
es nicht viel besser. Schlechte Nachricht: Das Filmteam ist in meinem | |
Augenwinkel aufgetaucht. „Und noch mal!“ Gefühlte 28 Durchgänge haben wir | |
schon hinter uns. Als es endlich vorbei ist, schwöre ich mir ein weiteres | |
Mal, nie, nie wieder nüchtern zu tanzen. | |
Schlussendlich wird noch ein Foto gemacht und auf die Nummer geklebt. Dann | |
geht es zum Produktionschef. Nummer 5 und ich stehen in der Schlange. Was | |
wir zusammen durchgemacht haben, hat uns zusammengeschweißt. „Ich glaube, | |
das reicht bei mir nicht“, sagt er und runzelt die Stirn. Er kommt aus | |
Lübeck. | |
Fünf Wochen vorher beginnen die Proben – jeden Tag mehrere Stunden. Und | |
dann kommen noch 72 Vorstellungen dazu. 1.500 Euro gibt es dafür. Was Ronny | |
wohl dazu sagt? Der Produktionschef mustert meinen Zettel und dann mich, | |
hinter ihm ist eine Kamera aufgebaut, die mich filmt. | |
Die Kollegin neben ihm schaut sich ebenfalls den Zettel an. „Deine Chancen | |
stehen nicht schlecht. Aber der Bart, der muss wahrscheinlich ab. Indianer | |
haben ja keine Bärte.“ Jetzt reicht’s! | |
Karl May konnte am Ende seines Lebens Fantasie und Wirklichkeit nicht mehr | |
auseinanderhalten. Er hatte sich in seine Romanwelt hineingesponnen. So | |
weit will ich es nicht kommen lassen. Im Norddeutschland des 21. | |
Jahrhunderts ist kein Platz für einen wie Old-Shatterhand. Ich gestehe also | |
dem Produktionschef meinen Schwindel und verlasse das Indian Village. | |
Und der Bart, der bleibt sowieso dran. | |
4 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Timo Robben | |
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Bad Segeberg | |
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