# taz.de -- Bildungsgerechtigkeit durch Youtube: Bruchrechnen für alle! | |
> Lernvideos können Bildungsgerechtigkeit schaffen: Erfahrungen eines | |
> Mathelehrers, der aus Versehen zum YouTuber wurde. | |
Bild: Aller Anfang ist schwer | |
Als ich vor vier Jahren mein erstes Lernvideo aufnahm, war das alles andere | |
als professionell. In der rechten Hand den Füller, in der linken Hand das | |
Smartphone. Verwackelte Bilder, schlechter Ton, ein grausames Licht und | |
eine komische Perspektive – alles Mist, aber von der Idee war ich | |
überzeugt! | |
Ich wollte die gesamte Schulmathematik von Klasse 1 bis Klasse 10 – von der | |
Grundschule bis zum Realschulabschluss mit allen Themen, Problemen und | |
Besonderheiten für meine Schüler zugänglich machen. Sie sollten die | |
Möglichkeit haben, immer dann auf die Videos zuzugreifen, wenn sie es | |
wollten. Das Lernen für Klassenarbeiten, das Anfertigen von Hausaufgaben, | |
die Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen und das Nacharbeiten von | |
Wissenslücken – Videos schienen mir dafür gut geeignet zu sein. | |
Damals, als ich noch Lehrer an einer Hauptschule war, sah ich viele | |
Schüler, die mit der richtigen Förderung deutlich bessere Leistungen hätten | |
erbringen können, doch die entsprechende Förderung oder Unterstützung | |
fehlte. Man muss einfach wertfrei anerkennen, dass es Elternhäuser gibt, | |
die nicht in der Lage sind, ihre Kinder in schulischen Dingen zu | |
unterstützen. Ein Kind aus einem akademischen Haushalt hat in schulischen | |
Fragen vermutlich mehr Unterstützungsmöglichkeiten von zu Hause als Kinder | |
mit anderen häuslichen Bedingungen – dafür kann das Kind aber nichts! | |
Wenn das Geld zu Hause knapp ist, dann ist auch professionelle Nachhilfe | |
keine Option. Kosten zwischen 50 und 100 Euro im Monat, pro Kind, | |
wohlgemerkt, sind in diesem Bereich nicht unüblich. Natürlich gibt es | |
Unterstützung vom Staat, aber es gibt auch eine große Gruppe von Menschen, | |
die ein paar Euro zu viel verdienen und keine Förderung erhalten, obwohl | |
das Geld auch bei ihnen knapp ist. | |
## Lernvideos gegen soziale Ungerechtigkeit | |
Dieser sozialen Ungerechtigkeit kann mit Lernvideos entgegengewirkt werden. | |
Jeder kann sich die Videos anschauen. Es ist weder eine Anmeldung noch eine | |
Registrierung nötig, und ein Abspielgerät, das Smartphone, ist ohnehin | |
immer verfügbar. | |
Aller Anfang ist schwer! Ich hatte noch nie ein Video produziert, sowohl | |
von der Technik als auch vom Upload hatte ich keine Ahnung. „Thumbnail, | |
Keywords, Klickrate und Playlists“, das waren alles Begriffe, die ich nicht | |
kannte. Learning by Doing war angesagt, ich hatte niemanden, den ich fragen | |
konnte. Misserfolge gehörten dazu: Wenn man ein komplettes Video | |
eingesprochen und durchgerechnet hat und dann merkt, dass man vergessen | |
hat, auf „Aufnehmen“ zu drücken – das frustriert! | |
Die eigene Lernkurve war steil: Ich wurde schneller und entspannter. Las | |
ich zu Beginn noch jedes Wort vom Script ab, so spreche ich heute frei. Für | |
die ersten Videos brauchte ich Stunden, heute schaffe ich es deutlich | |
schneller. | |
## Kollegen zweifeln, Eltern danken | |
Von einigen Lehrerkollegen erntete ich Hohn und Spott für meine Bemühungen. | |
„Wie kann man sich nur so zur Schau stellen?“, hieß es. „Das gehört ins | |
Klassenzimmer an die Tafel und nicht ins Internet!“, fanden manche. Oder | |
auch: „Das ist doch auch nur Frontalunterricht in HD.“ | |
Von Schülern und Eltern hingegen bekam ich von Beginn an viel Zuspruch. | |
Elternteile bedankten sich persönlich oder per E-Mail für die frei | |
zugängliche Nachhilfe. Und in den Kommentaren unter den Videos häufte sich | |
Lob: „Ehrenmann“, „Endlich mal keine Fünf in Mathe“, „Du erklärst e… | |
dass ich es verstehe“, „Besser als mein Lehrer!“ oder: „Wegen dir bin i… | |
nicht sitzengeblieben.“ | |
Und obwohl ich die Videos zunächst nur für meine Schüler parallel zum | |
Unterricht produzierte, erreichte ich zu meiner Überraschung schnell mehr | |
Zuschauer, als ich Schüler hatte. | |
Wir hatten eigentlich innerhalb meines Mathekurses vereinbart, dass die | |
Links zu den Videos nur intern genutzt werden sollten. Doch die Schüler | |
gaben sie einfach an Schüler anderer Schulen weiter! „Herr Schmidt, chill | |
mal, ist doch super, wenn sie auch anderen helfen!“, sagten meine Schüler, | |
als ich sie darauf ansprach. | |
Das Teilen von Inhalten war für meine Schüler alltäglich, ich hatte es bis | |
zu diesem Zeitpunkt gar nicht in Betracht gezogen. Öfffentlich stellen | |
schadet doch nicht, war der Rat meiner Schüler. Ich befolgte ihn. | |
## Nach vier Jahren 200.000 Follower | |
Niemals hätte ich geahnt, dass ich [1][vier Jahre später in 1.800 | |
Lernvideos über 20 Millionen Menschen Grundlagen der Mathematik] erklären | |
würde und dass sich über 200.000 Menschen meine „Follower“ nennen. | |
Doch warum liegen meine Lernvideos bei YouTube und nicht auf dem | |
Schulserver oder einem Bildungsserver? Ist eine kommerzielle Plattform, die | |
darauf ausgelegt ist, dass die Zuschauer möglichst lange Videos schauen, | |
nicht die falsche Umgebung für pädagogische Inhalte? | |
Der Rat für kulturelle Bildung hat in seinem aktuellen Bericht beschrieben, | |
dass sich die „klassische Bildungskonstellation von Lehren, Lernen und | |
Wissen mit der Digitalisierung grundlegend verändert.“ Das bedeutet: | |
YouTube ist heute „Leitmedium und digitaler Kulturort von Jugendlichen“. 86 | |
Prozent der befragten 12- bis 19-Jährigen nutzen YouTube. Und 73 Prozent | |
der Befragten lernen für Arbeiten mit Lernvideos. | |
Sicher wäre ein bundesweiter Bildungsserver mit geprüften Lerninhalten die | |
bessere Wahl. Möglicherweise könnte man Lernvideos direkt mit | |
Übungsaufgaben verbinden. Allerdings wäre ein Bildungsserver vermutlich | |
niemals so cool wie YouTube. | |
## Ein Klick vom Musik- zum Mathevideo | |
Vermutlich liegt genau darin der Erfolg dieser Lernmethode: YouTube bietet | |
Musik, Unterhaltung, Comedy, Beauty und eben auch Bildung an. Bin ich | |
sowieso auf der Plattform unterwegs, ist es nur ein Klick bis zum | |
Mathevideo. Diese kurzen Wege sind wahrscheinlich ein Puzzleteil des | |
Erfolgs von Lernvideos. | |
Ein weiterer Faktor, der aus meiner Sicht nicht zu unterschätzen ist, ist | |
eine alte Weisheit von meinem Lehrer: Wenn es auf der Beziehungsebene nicht | |
stimmt, dann funktioniert es auf der Sachebene auch nicht. Wir alle hatten | |
vermutlich viele richtig tolle Lehrer in unserem Schulleben. Sie konnten | |
uns für ihr Fach begeistern, sie waren cool, darum erschien man auch gerne | |
zum Unterricht. Wir kennen aber vermutlich alle auch den ein oder anderen, | |
der nicht so gut in seinem Job war. | |
In der Schule ist man diesem „Setting“, wie man neudeutsch sagt, | |
ausgeliefert. Klar konnte man mit klassischer Nachhilfe auf eine andere | |
Person ausweichen, aber das eben auch nur mit dem passenden finanziellen | |
Hintergrund. | |
Auf YouTube haben dagegen alle die Wahl: Wenn mir der eine YouTube-Lehrer | |
nicht passt, dann suche ich mir eben einen anderen. Jeder kann seinen | |
passenden Lehrer oder seine Lehrerin finden, kostenlos und ohne | |
persönlichen Rechtfertigungsdruck. | |
Gute Lernvideos könnten auch ganzen Schulen bei alltäglichen Problemen | |
helfen. Vielerorts herrscht Lehrermangel, oder es gibt krankheitsbedingten | |
Unterrichtsausfall. Mithilfe von Videos könnte die Qualität von fachfremdem | |
Vertretungsunterricht verbessert werden. Videos könnten auch eine | |
Unterstützung in der Einarbeitungsphase von Kollegen bieten, die als | |
Quereinsteiger in den Schuldienst kommen. | |
Alle Eltern wissen vermutlich nur zu gut, welche Dramen sich beim | |
heimischen Lernen zwischen Kind und Elternteil abspielen können. Lernen sie | |
aber zusammen mit einem Video, dann werden sie zu Lernpartnern. Im Zweifel | |
ist an Missverständnissen und Verständnisproblemen dann der (nicht | |
körperlich anwesende) Lehrer im Video schuld – und zu Hause herrscht | |
Frieden. | |
## Kein Allheilmittel für schulische Probleme | |
Lernvideos sind nicht als Konkurrenzveranstaltung zum Unterricht zu | |
betrachten, wie Kritiker dieser Methode häufig bemängeln. Schule und das | |
schulische Miteinander bleiben unerlässlich! Weder sind Videos ein | |
Allheilmittel für sämtliche schulischen Probleme, noch sind sie besser oder | |
schlechter als andere Methoden. Sie können aber eine wertvolle Ergänzung | |
zum Unterricht und die Grundlage neuer pädagogischer Konzepte sein. | |
„Flipped Classroom“ heißt eines dieser Konzepte: Als Hausaufgabe sehen sich | |
die Schüler ein Lernvideo an. Der Unterricht beginnt ohne größere | |
Erklärungen des Lehrers, da alle Schüler schon mit den Inhalt vertraut | |
sind. Dadurch entsteht mehr echte Lernzeit. Die Schüler arbeiten allein | |
oder in Gruppen an Aufgaben verschiedener Niveaustufen, der Lehrer hat mehr | |
Zeit, sich um die einzelnen Schülerfragen zu kümmern. | |
Lernvideos können dazu beitragen, dass der Unterricht individualisierter | |
auf die Anforderungsprofile der Schüler zugeschnitten ist. So können mit | |
dem richtigen Pool an Videos problemlos alle Schüler einer Klasse, auch die | |
inklusiv beschulten, an einer Thematik arbeiten. | |
Doch auf dem Weg dorthin gibt es noch viel zu tun! Wir brauchen mehr mutige | |
Menschen, die sich auf die neue Methode und das neue Medium einlassen. Es | |
müssten dabei gar nicht zwingend Lehrer sein, die bereit sind, Lernvideos | |
in entsprechender Qualität zu produzieren. Auf YouTube mangelt es nicht an | |
der Masse, allerdings fehlt so etwas wie ein Qualitätssiegel. | |
Zwar können Likes oder Dislikes sowie die Kommentare unter einem Video | |
schon etwas über die Qualität aussagen, doch wäre es besser, Lernvideos mit | |
einem Prüfzeichen zu versehen, sodass sich die Zuschauer darauf verlassen | |
können, dass der Inhalt auch richtig erklärt wird. Dazu bräuchte es | |
allerdings erst einmal eine bundesweite Initiative, die sich mit dem Thema | |
Bildungscloud und Lernvideos auseinandersetzt. Wir brauchen dafür auch | |
keine 16 Landeslösungen, sondern nur eine gute Lösung für die ganze | |
Republik. | |
Was würde es schon kosten, wenn jedes Bundesland ein paar Lehrer | |
freistellen würde, um Lernvideos für eine öffentliche Cloud zu produzieren? | |
Man stelle sich vor, wie schnell das gesamte Schulwissen kostenlos und | |
werbefrei für jedermann und überall zur Verfügung stehen könnte. Arbeitslos | |
würden wir Lehrerinnen und Lehrer dadurch nicht. Aber wir hätten eine | |
digitale Unterstützung, die uns viele Möglichkeiten eröffnet. | |
Unsere Schüler ergreifen die Chance schon – auch wir Pädagogen sollten den | |
Mut haben, sie zu ergreifen. | |
6 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/c/lehrerschmidt%C2%ADvideos | |
## AUTOREN | |
Kai Schmidt | |
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