| # taz.de -- Neues Album von Bon Iver: So extrovertiert war er selten | |
| > Bon Iver ist als Band zusammengewachsen und Songwriter Justin Vernon | |
| > traut sich mehr. Das Album „i,i“ wartet mit bombastischem Prog Folk auf. | |
| Bild: Neben Introvertiertem gibt’s auch politische Themen bei Bon Iver | |
| Manche müssen sich so oft zerbrechen, bis sie ganz sind. Justin Vernon | |
| scheint so ein Künstler zu sein. Schon im Titel seines jüngsten Albums | |
| dividiert sich der US-Singer-Songwriter auseinander, steht neben und doch | |
| näher bei sich als jemals in seiner Karriere zuvor: „i,i“ heißt das Werk, | |
| ohne Leerzeichen. | |
| Viele haben sich bislang die Klarstellung gespart, dass dieses vergangene | |
| Woche sehr unvermittelt digital erschienene neue Album nicht allein von | |
| Vernon stammt, sondern von der Band Bon Iver. War der „gute Winter“ – hier | |
| in US-amerikanischer Unkenntnis des Französischen ausgesprochen – doch | |
| zunächst kaum mehr als ein Pseudonym des Sängers. | |
| Auch wenn Bon Iver inzwischen mehr sind als nur die gestalterischen Ideen | |
| Vernons, mindestens ein Projekt, eine Band sogar, so stehen seine | |
| künstlerische Präsenz, sein so oft zum Falsett frisierter Bariton bislang | |
| beherrschend über allem musikalischen Material. Spätestens diesmal aber | |
| habe sich das geändert, erklärte Vernon. Deutlicher als je zuvor seien dies | |
| die Aufnahmen einer Band, sagt er. Eine Entwicklung, die das Thema des | |
| Albums bestimmt: ich und die anderen. | |
| „Living in a lonesome way / Had me looking otherways“, croont der | |
| einstmalige Eremit gleich nach dem kryptischen Intro. Diese anderen Wege, | |
| die „i,i“ einschlägt, sind jedoch keine neuen. Sie führen nicht weiter ins | |
| Unbekannte, sondern kreuz und quer durch die schillernd-bunte | |
| Folktronic-Datasphäre, die Bon Iver bereits mit den ersten drei Alben | |
| angelegt haben. Vorbei an Festplatten voll R&B-Beats, durch das lyrische | |
| Dickicht eines tickernden Unterbewusstseins, zu bekifften | |
| Akustikgitarrenabenden, ausgepolstert mit orchestrierten Arrangements, | |
| gekühlt von klaren Klavierlinien. Einmal reißt sogar ein Saxofonsolo den | |
| Sound an sich. | |
| ## Schlafwandlerisch intoniert | |
| Eine musikalische Materialschlacht voll Prunk und Bombast. Ist das Prog | |
| Folk im 21. Jahrhundert? Und durch alles segelt seine Stimme. Vernon | |
| frakturiert sie mit weniger postmodernem Gusto (wer bin ich, und wenn ja, | |
| wie viele?) als noch auf dem Vorgängeralbum „22, A Million“. Doch er | |
| steuert sie weiterhin souverän wie einen Lenkdrachen bei gutem Wind. | |
| Die erste Singleauskopplung, „Hey, Ma“, schwelgt vergleichsweise | |
| zurückgenommen. Weniger Drama, mehr auf Streicher gebetteter Dream Pop. So | |
| wattiert wie die frühkindlichen Erinnerungen zwischen Badestunde und | |
| Mama-Rufen, um die es hier geht. Doch im Gegensatz zu so gewohnt | |
| introvertierten Themen singt Vernon im Folgenden überraschend von konkreten | |
| Dingen, die sich auch außerhalb seines Gehirns abspielen: Obdachlosigkeit, | |
| Klimawandel und Trump. So extrovertiert hat man diesen lyrisch oft so | |
| verschlossenen Mann selten gehört. | |
| Dabei cruisen Bon Iver so lässig im eigenen Sound, dass man das Gerede von | |
| der zusammengewachsenen Band gerne glaubt. Vernons Hörerinnen und Hörer der | |
| frühen Stunden haben die kreative Verschnaufpause womöglich nötig. Seit er, | |
| noch als Teenager im heimischen Wisconsin, in den späten 90ern in der | |
| Vollholzmelancholie herzensschwerer Barden wie Bonnie „Prince“ Billy oder | |
| Sam Beam von Iron & Wine vorfühlte, hat er mit atemberaubender | |
| Geschwindigkeit Genre-Idiome zerstört. | |
| Wo der Stromanschluss Dylan noch „Judas“-Rufe einbrachte, weitete Vernons | |
| Wildern in Elektronik und R&B seine frühere Folk-Hörerschaft rasant aus. | |
| Der melancholische Grundton hielt sensible Folkies bei der Stange, der | |
| impressionistische Umgang mit elektronischen Sounds und die mysteriösen | |
| Texte machten reichlich Ohren neugierig. Bis Kanye West und Eminem im | |
| Fanblock standen und zwei Grammys im Regal. | |
| Inzwischen ist das musikalische Feld so offen, dass Bon Iver andere | |
| Erweiterungen suchen. Mit wissenschaftlichem Eifer passen Nerds die | |
| Lightshow der vielschichtigen Musik an. Auftritte sollen bloß keine | |
| aneinandergereihten Songs bieten, sondern zu einer ästhetischen Umgebung | |
| verwachsen, einem sensuellen 360-Grad-Spektakel wie es seelenverwandte | |
| Bands wie die Flaming Lips seit Langem anstreben. Allein wird Vernon das | |
| nicht schaffen. Mit einer Band an der Seite, die seine Ideen so | |
| schlafwandlerisch intoniert, durchaus. | |
| 15 Aug 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Gregor Kessler | |
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