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# taz.de -- Diskuswerfer Christoph Harting: In der Zwischenzeit
> Diskus-Olympiasieger Christoph Harting scheint die Zeit zu den nächsten
> Sommerspielen in Tokio zu vertrödeln. Doch das könnte auch täuschen.
Bild: Hau weg das Teil: Christoph Harting im Juli 2019
Kienbaum taz | Es ist heiß. Ein paar Athleten trinken ihren
Nachmittagskaffee in demütiger Stille im Trainingszentrum Kienbaum. Hier,
eine knappe Autostunde von der Hauptstadt entfernt, werden Gewichte
gestemmt, Zeiten und Trainingsinhalte optimiert. Nach den schweren
Einheiten liegt eine bleierne Ruhe über dem Gelände, eine Trägheit, die nur
vom Auftritt Christoph Hartings durchbrochen wird. Er ist schon von Weitem
zu hören, wie er die Cafeteria betritt und spaßeshalber drauflossächselt.
Der Diskusriese, 2,07 Meter groß, treibt Schabernack mit dem Barmann,
ordert nach einem kleinen Wortgefecht zwei Apfeltaschen, die er später wie
zwei Pralinés verspeist, und einen übergroßen kalten Kaffee („Cold Brew“…
dessen Vorzüge der starke Mann anpreist. Harting lässt anschreiben. Über 60
Euro sind schon zusammengekommen. „So viel, echt?“, fragt Harting und
schlendert in aller Gemütsruhe hinunter zum See.
Es ist schön auf dem Steg. Rechter Hand planschen ein paar Badende, im
Wasser huschen immer wieder kleine Rotfedern vorbei, eine Wespe fliegt eine
erbeutete Spinne aus. Es sind Szenen wie aus einem Urlaubsidyll, nur dass
es hier, im „Olympischen und Paralympischen Trainingszentrum für
Deutschland“, nicht um einen chilligen Nachmittag am See geht.
Christoph Harting, 29, bereitet sich auf die Deutschen Meisterschaften der
Leichtathleten vor. Sie steigen am Wochenende im Berliner Olympiastadion,
im Rahmen der sogenannten „Berlin Finals“, die insgesamt zehn
Meisterschaften in einem handlichen, medial gut verwertbaren Paket bündeln.
Bahnradsportlerinnen kämpfen ebenso um Medaillen wie Bogenschützen oder
Boxer. 202 Entscheidungen sind anberaumt, und das Fernsehen verspricht,
dieses nationale Kleinst-Olympia zwanzig Stunden lang live zu übertragen.
ARD und ZDF setzen Randsportarten in Szene, es handelt sich um notorisch
zu-kurz Gekommene, was man von Christoph Harting nicht wirklich sagen kann.
Er weiß sich – auf seine spezielle Art – zu inszenieren. Vor Kurzem hat er
der Sport-Bild eines seiner wenigen Interviews gegeben, und darin finden
sich Sätze, die so wohl nur dieser Typ mit dem wild wuchernden roten
Vollbart sagen kann. „Ich empfehle jedem 13-, 14-, 15-jährigen, niemals
Leistungssport zu machen.“
Und: „Ich würde heute einen anderen Weg gehen. Mit 12 hatte ich die Wahl
zwischen Sportschule und Mathe-Gymnasium. Ich Vollidiot habe mich für die
Sportschule, später für Diskus entschieden.“
## Meister Rotbart hadert
Was ist das: kokett, provokant, verschroben? Gibt es für ihn überhaupt noch
ein richtiges Leben im falschen? Was nach anderthalb Stunden entspannter
Plauderei am See klar wird: Meister Rotbart meint es ernst mit seiner
Kritik. Aber sein Hadern mit sich und der Situation ist kein Dementi seiner
Karriere, sondern eher das Bedauern eines Privilegierten, der sich mit dem
Erfahrungsschatz aus fast zwei Jahrzehnten High-End-Leistungssport ausmalen
kann, dass auch etwas anderes aus ihm hätte werden können als ein
Kraftprotz, der eine Zwei-Kilo-Scheibe im Ring wahnsinnig schnell
beschleunigt. Er hat aber nun einmal mit dem Werfen angefangen, jetzt macht
er trotz diverser Zipperlein weiter und arbeitet an seinem Ziel, das Ding
80 Meter weit segeln zu lassen, in Weltrekord-Regionen.
Er wird die 80 Meter wahrscheinlich niemals schaffen, aber es ist ein
schönes Ziel, dem man folgen kann wie ein Jünger seinem Yogi. Er folge
einem Ideal, sagt Christoph Harting, der Idealist. Es ist etwas, auf das er
hinarbeiten kann und von dem der Rest der Szene gern mal sagt: Der spinnt
doch, dieser Deutsche.
Und jetzt wirklich mal: hampelt auf dem Siegerpodest von Rio de Janeiro
herum, als leide er an ADHS, vergeigt eine Olympia-Pressekonferenz in
grandioser Manier und lässt es allgemein an der „nötigen Ernsthaftigkeit“,
wie unter anderem auch sein Trainer Torsten Lönnfors beklagt, fehlen. Darf
der das? Was ist los mit dem?
Als Arrogantling und Vaterlandsverräter wurde Christoph Harting nach den
Sommerspielen 2016 gescholten, und wer annimmt, dieser Shitstorm deutscher
Spießbürger habe ihn nicht gejuckt, liegt ziemlich falsch. „Ich bin
ungemocht“, sagt er und beklagt sich darüber, dass sich die Presse gerne
mal lustig mache über seine mittelprächtige Form, sein Scheitern. Christoph
Harting hat zwar in dieser Saison schon einmal über 66 Meter geworfen, aber
er mühte sich doch sichtlich, konstant weit zu werfen. Die Agenturen
berichteten meist über eine „ordentliche Leistung“, aber was sie sehen
wollen, ist natürlich ein „bombastischer Wurf“, den dieser „Modellathlet
heraushaut“.
## Der Coup von Rio
Nach seinem Olympiasieg kam nicht mehr viel. Er verpasste die Teilnahme an
der Weltmeisterschaft in London, und bei der Europameisterschaft in Berlin
knallte er den Diskus dreimal ins Fangnetz, das, wie sich später
herausstellte, nicht regelkonform aufgestellt worden war. Er sei bei dieser
EM, die sein Bruder Robert als Bühne für den [1][Ausstieg aus dem
Leistungssport] nutzte, in Topform gewesen, aber er, die „Riesenwaffe“,
habe „keine Munition“ zum Verschießen gehabt. Dumm gelaufen.
Sein Auftritt geriet zum Rohrkrepierer, während sein Bruder von
Sport-Deutschland noch einmal herzlich umarmt wurde. Wer die Rivalität zu
seinem großen Bruder überinterpretiert, würde sagen: Das war eine doppelte
Niederlage.
Für Insider kommt es nicht überraschend, dass Christoph Harting seit dem
Coup von Rio nicht richtig in Schwung kommt. Er ist vielleicht so etwas wie
ein Olympiawerfer mit dem speziellen Vierjahresfokus. Al Oerter, der
US-Amerikaner, ist sein Vorbild. Der wurde vier Mal Olympiasieger, und
zwischen den Großereignissen nahm sich Oerter gern mal eine Auszeit. Auf
diese Weise konnte er auch im sportlich hohen Alter, mit 43, noch
verblüffend weit werfen: 69,46 Meter. Bei Dreharbeiten hat der „sanfte
Riese, der größer als das Leben“ war, wie Oerters Frau einmal sagte,
angeblich sogar 74,67 Meter geworfen, weiter als der anabolikagestählte
Weltrekordler Jürgen Schult (74,08 Meter).
## Innere Distanz zum eigenen Tun
Christoph Harting sagt, er werde alles versuchen, um in diese Dimensionen
zu kommen, aber wenn es ohne Doping nicht gehe, dann gehe es eben nicht. Da
die olympische Saison jetzt schon, ein Jahr vor den Spielen in Tokio,
beginne, werde auch wieder ein Medienboykott mit der intensiven
Vorbereitung einhergehen, verkündet Harting. Er wird sich einigeln,
negative Einflüsse ausklammern und auch ein wenig gegen seine Natur
ankämpfen. Sein Trainer Torsten Lönnfors, der nur zu gut weiß, wie
Christoph Harting tickt, hat einmal gesagt, dass sein Schützling die Lasten
des Leistungssports nicht unbedingt auf sich nehme, um sich für irgendwen
und irgendwas zu zerreißen, „Sport ist für ihn nicht Lebensinhalt, sondern
Teil des Lebens“.
Diese innere Distanz zum eigenen Tun ist für Außenstehende manchmal zu
viel. Sie wollen nicht verstehen, dass Harting sich sozialen Medien
verweigert. Sie sagen: Wie kann man nur diese Chance der Selbstvermarktung
liegen lassen? Warum schadet er sich selbst? Er sagt: Was soll ich auf
diesen Werbeplattformen wie Facebook, Twitter oder Instagram, die nichts
von Datenschutz halten. Dritte sagen: Er will halt alles anders machen als
Medienliebling Robert.
Vom Sonnenschutz seilt sich eine Spinne auf den Kopf des Reporters ab,
Harting schnipst sie weg mit der Bemerkung: „Such dir Freunde!“ In Kienbaum
hat er sich vor den Meisterschaften auf eigene Kosten eingemietet. Eine
Woche Vollpension im Einzelzimmer ist für den Sportpolizisten bei einem
Preis von 260 Euro erschwinglich, aber es überrascht doch, dass ein
Olympiasieger, der in einer der größten Volkswirtschaften lebt, für diese
Maßnahme selber aufkommen muss. „Man sollte eigentlich annehmen, dass ich
einen Leistungsstand erreicht habe, wo der Deutsche Leichtathletik-Verband
sagt, er übernimmt die Kosten“, findet Harting. Aber die Sache mit der
Förderung ist kompliziert, gerade in einem olympischen, also tendenziell
armen Sport.
2015, sagt Harting, sei das erste Jahr gewesen, in dem er plus/minus null
herausgekommen sei. Man investiere viel mehr in den Sport, als man
herausbekommt, und das gelte für alles. Aber der Status des Selbstzahlers
sei eigentlich ganz okay, denn der motiviere ihn. Ob die Motivation für die
Meisterschaft in Berlin schon ausreicht, ist fraglich. Aber was soll’s. Die
Spiele in Tokio beginnen für Christoph Harting eh erst in 362 Tagen. Dann
braucht er im Ring wieder einen Al-Oerter-Moment.
3 Aug 2019
## LINKS
[1] /Olympiasieger-Robert-Harting-hoert-auf/!5521388
## AUTOREN
Markus Völker
## TAGS
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