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# taz.de -- Kaschmir verliert Autonomie: Indien zündelt am Pulverfass
> Indiens hindunationalistische Regierung zerschlägt den Bundesstaat Jammu
> und Kaschmir. Sie stellt die Opposition unter Hausarrest.
Bild: Patrouille in Jammu. Das Land könnte in eine Krise stürzen
Delhi taz | Indien hat am Montag die [1][Artikel 370 und 35A der indischen
Verfassung aufgehoben], die dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir Autonomie
gewähren. Ziel ist es, den immer wieder von Unruhen erschütterten Staat zu
teilen und voll in die Indische Union zu integrieren. Das gab Innenminister
Amit Shah am Morgen bekannt. Laut Shah sollen Jammu und Kaschmir von Ladakh
getrennt und als separate „Unionsterritorien“ direkt von Neu-Delhi regiert
werden. Damit beendet die hindunationalistische Regierung von
Premierminister Narendra Modi 70 Jahre erklärter Politik gegenüber dem
zwischen Indien und Pakistan umstrittenen Staat – mit dramatischen Folgen.
Am Sonntag waren wegen des zu erwartenden Widerstands alle relevanten
Oppositionsführer*innen in Kaschmir unter Hausarrest gestellt, ein totales
Versammlungsverbot verhängt und alle Kommunikationskanäle blockiert worden.
„Möge Allah uns retten“, twitterte Omar Abdullah von der Kongress-Partei.
Der ehemalige Ministerpräsident des Staates sprach von einer
„schockierenden Entscheidung“ und einem „totalen Betrug an dem Vertrauen,
das die Menschen in Kaschmir in Indien gesetzte hatten“.
Der Verfassungsartikel 370 von 1949 ist eine „vorläufige Bestimmung“ der
indischen Verfassung, die dem Staat Jammu und Kaschmir außer in Fragen der
Außen-und Verteidigungspolitik sowie Kommunikation Unabhängigkeit gewährt.
Artikel 35A wurde 1954 in die Verfassung aufgenommen und erlaubt es dem
lokalen Parlament festzulegen, wer Bürger des Staates ist und wer dort Land
besitzen und Regierungsämter erhalten kann.
„Heute ist der dunkelste Tag in der indischen Demokratie“, sagte Mehbooba
Mufti von der Demokratischen Volkspartei (PDP), die noch bis 2018 in einer
Koalitionsregierung mit Modis BJP Ministerpräsidentin in Kaschmir war. Sie
und Sajjad Gani Lone, Präsident der Jammu und Kaschmir Volkskonferenz, der
2014 Modi unterstützt hatte, stehen ebenfalls unter Hausarrest. Mufti warf
der Regierung „finstere“ Machenschaften vor und sagte, Neu-Delhi wolle die
„Demografie Jammus und Kaschmirs“ verändern.
## Folgen einer blutigen Kolonialgeschichte
In der Tat erfüllt der als Hardliner bekannte neue Innenminister Amit Shah
mit der Aufhebung der Autonomie des Staates ein alte Forderung der
politischen Rechten in Indien. Der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), die
ideologische Vorfeldorganisation der regierenden Bharatiya Janata Partei
(BJP), hat die Islamisierung Kaschmirs (die bereits im 13. Jahrhundert
begann) nie akzeptiert und betrachtet die Region als Reich der Göttin
Saraswati.
In einem 1947 veröffentlichen RSS-Papier mit dem Titel „Zur Bedeutung
Kaschmirs“ heißt es, Kaschmir könne „Millionen Menschen aus Indien
aufnehmen. So kann eine Mehrheit in eine Minderheit verwandelt werden. […]
Aber vor allem hat Kaschmir für uns historische Bedeutung. Vor nicht einmal
tausend Jahren war es ein Sitz der Hindu-Kultur und des -Wissens.“
Doch ob Ideologie die Probleme Kaschmirs lösen kann, ist fraglich. Der
Konflikt um Kaschmir, um das die Atommächte Indien und Pakistan bereits
drei Mal Krieg geführt haben, ist eine Folge des Zusammenbruches des
britischen Kolonialreichs und der damit einhergehenden Teilung Indiens.
Pakistans Premierminister Imran Khan twitterte am Sonntag, Indiens
„aggressive Aktionen“ hätten „das Potenzial, die Region in eine Krise zu
stürzen“. Offenbar hatte Khan kürzlich bei seinem Besuch in Washington
US-Präsident Donald Trump davon überzeugt, seine Vermittlerdienste in
Kaschmir anzubieten, was wütende Reaktionen in Neu-Delhi zur Folge hatte.
Indien lehnte bisher jede Vermittlung strikt ab.
Mit der [2][Unabhängigkeit 1947] hatten die Fürstenstaaten in
Britisch-Indien die Wahl, dem muslimischen Pakistan oder dem als säkular
konzipierten Indien beizutreten. Der hinduistische Maharadscha von Kaschmir
wählte Indien, obwohl die Mehrheit seiner Bevölkerung muslimisch war.
Pakistan besetzte daraufhin Teile Kaschmirs, verlor aber den Krieg mit
Indien. Seitdem ist der Staat geteilt. Weil Pakistan Kaschmir für „die
offene Rechnung der Teilung“ hält, unterstützt es seitdem Separatisten, die
das Kaschmir-Tal regelmäßig mit Gewalt überziehen.
## Vergessene Geschichten der religiösen Minderheiten
Die dort kämpfenden Terrorgruppen Lashkar-e-Taiba (LeT) und
Jaish-e-Mohammad (JeM) waren auch für die Attentate auf das Parlament in
Neu-Delhi 2001 und die Stadt Mumbai 2008 verantwortlich. Anfang dieses
Jahres starben bei einem Attentat der JeM auf einen Konvoi der indische
Armee in Kaschmir 40 Soldaten. Indien reagierte zum ersten Mal mit einem
Raketenangriff auf vermeintliche Terrorlager in Pakistan, was eine radikale
Abkehr von der bisherigen Politik darstellte. Die hatte wegen der
Nuklearwaffen in beiden Ländern und der damit verbundenen Gefahr eines
Atomkrieges stets auf Diplomatie gesetzt.
Völlig an den Rand gedrängt wurden in der blutigen Geschichte Kaschmirs
nicht nur muslimische Gruppen, die sich für die Unabhängigkeit („azadi“)
von Indien und Pakistan einsetzen, sondern auch die nichtmuslimischen
Regionen, das buddhistische Ladakh und das hinduistisch geprägte Jammu.
„Die Menschen in Ladakh wollten seit Langem, dass die Region von der
Dominanz Kaschmirs befreit wird“, sagte Jamyang Tsering Namgyal, ein
Abgeordneter der BJP aus Ladakh.
Vergangene Woche war, wohl in Vorbereitung auf die jetzige Entscheidung,
die traditionelle Amarnath Yatra, eine hinduistische Pilgerreise zu einem
Schrein des Gottes Shiva zwischen Jammu und Srinagar abgesagt worden. Als
Grund wurde angegeben, es bestehe die Gefahr eines Terrorangriffs.
„Abgrenzung bedeutet, dass das Zentrum der Macht von Kaschmir nach Jammu
verlagert wird. Vielen Dank Amit Shah“, jubelte der Verteidigungs-Analyst
Abhijit Iyer-Mitra aus Delhi. Teile und herrsche also. Doch was dies für
die Zukunft der Muslime in Kaschmir bedeutet, ist derzeit unklar. „Wenn die
Kaschmirer unsere Bürger und ihre Parteien unsere Partner sind, müssen
nicht die moderaten Kräfte eingebunden werden, wenn wir Terroristen und
Separatisten bekämpfen wollen?“, fragt der Abgeordnete der oppositionellen
Kongress-Partei, Shashi Tharoor. „Wenn wir sie entfremden, wer bleibt dann
noch übrig?“
5 Aug 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Britta Petersen
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Schwerpunkt Islamistischer Terror
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