| # taz.de -- Jüdische Geschichte: Mittelalter pur an der Gera | |
| > Das jüdische Erbe von Erfurt: Seit 2014 stehen die historischen Stätten | |
| > auf der deutschen Vorschlagsliste für künftige Welterbestätten. | |
| Bild: Blick vom Tum der Ägidenkirche auf die Altstadt von Erfurt | |
| Sie tranken und sangen, tanzten Foxtrott oder Charleston. Im Ballsaal des | |
| früheren „Döblerschen Kaffeehauses“ amüsierten sich die Menschen unterm | |
| Hakenkreuz in Saus und Braus. Das Orchester spielte dazu. Was die | |
| Nationalsozialisten und Antisemiten nicht wussten: Sie feierten in einer | |
| mittelalterlichen Synagoge. | |
| Der dekorativ bemalte Tanzsaal im ersten Stock ist als zeitgeschichtliches | |
| Dokument heute Bestandteil des Museums Alte Synagoge. Bis zur | |
| Wiederentdeckung in den 1990er Jahren war der jüdische Tempel im Herzen der | |
| Erfurter Altstadt aus dem öffentlichen Bewusstsein so gut wie verschwunden. | |
| Nach dem Pogrom von 1349 wurde er erst in einen Speicher umgebaut, im 19. | |
| Jahrhundert in ein Wirtshaus mit Parkett, Empore und Kegelbahn. | |
| „Der Fremdnutzung ist es zu verdanken, dass das Gotteshaus die Jahrhunderte | |
| und neuzeitliche Modernisierungsmaßnahmen überlebt hat“, sagt Maria | |
| Stürzebecher, die das mittelalterliche jüdische Erbe für die Stadt zum | |
| Unesco-Welterbe befördern will. | |
| Die Alte Synagoge ist über 900 Jahre alt und die älteste erhaltene aus dem | |
| Mittelalter in Europa. „Zur Zeit der Wende war sie von allen Seiten | |
| zugebaut“, erinnert sich die gebürtige Erfurterin. Denkmalpfleger wussten | |
| von ihrer Existenz, kannten aber nicht die genaue Lage. | |
| ## Der geborgen Brautschatz | |
| Als ein Investor das Gebäude von der Treuhand kaufen wollte, nutzte die | |
| Stadt 1998 ihr Vorkaufsrecht. Wenig später wurden bei | |
| Restaurierungsarbeiten die Rosette, gotische Fenster und Spuren von Säulen | |
| gefunden. Eine Sensation. Vom Fundament bis zum Dach war pures Mittelalter | |
| erhalten geblieben. | |
| Im Gewölbekeller des vor zehn Jahren eröffneten Museums wartet eine weitere | |
| Sensation: der Brautschatz, der 1998 zufällig bei Bauarbeiten im Quartier | |
| gefunden wurde. „Vermutlich wurde er während des Pogroms 1349 von | |
| wohlhabenden Juden vergraben“, sagt die Kunsthistorikerin, die auch | |
| Kuratorin der Alten Synagoge ist. Der gut dreißig Kilo schwere „Erfurter | |
| Schatz“ ist in Vitrinen ausgestellt, hauptsächlich Silbermünzen und | |
| filigrane gotische Goldschmiedearbeiten wie Broschen, Ringe, | |
| Gürtelschließen und Gewandbesatz sowie ein Konvolut hebräischer | |
| Handschriften. | |
| Eine Rarität ist der fein gearbeitete goldene Hochzeitsring, dessen Kopf | |
| wohl den Tempel in Jerusalem darstellt. Auf den Dachflächen ist auf | |
| Hebräisch „masel tow“ eingraviert – viel Glück für das Brautpaar. Weni… | |
| Schritte entfernt fließt die Gera munter unter der Krämerbrücke hindurch. | |
| Wie Schwalbennester kleben an ihr die restaurierten Fachwerkhäuser, in | |
| denen einmal Händler ihren Kram verkauften. | |
| Heute versorgen Läden und Cafés auf dem Erfurter Wahrzeichen die | |
| Besucherströme mit ausgefallenen Souvenirs und köstlichen Häppchen. Im | |
| Sommer ist der geteilte Fluss ein cooles Erfrischungsbad für heißgelaufene | |
| Füße. Steinstufen führen ins Wasser, auf denen man ausruhen und die Seelen | |
| baumeln lassen kann. | |
| Schon kommt man dem jüdischen Erbe erneut auf die Spur. Denn wo eine | |
| Synagoge, ist auch eine Mikwe, das rituelle Tauchbad. Bei den | |
| Überschwemmungen von 2006 brach hier die Ufermauer, was zu archäologischen | |
| Grabungen und zum Fund des Wasserbeckens führte. Im kleinen Park auf der | |
| Anhöhe erlaubt ein Schaukasten den Blick hinunter ins Ritualbad. Aber erst | |
| bei einer Führung offenbart sich der intime Charakter des Ortes, an dem | |
| Gläubige sich nach dem Kontakt mit Tod oder Blut reinigten. Mit diesem Fund | |
| kam 2007 die Idee für den Unesco-Titel auf. Seit 2014 stehen die | |
| historischen Stätten auf der deutschen Vorschlagsliste für künftige | |
| Welterbestätten. 2021 wird der Antrag eingereicht. | |
| ## Das steinerne Archiv | |
| Der wichtigste Bestandteil eines jüdischen Viertels ist der Friedhof, der | |
| im Mittelalter außerhalb der Stadt lag und bis Mitte des 15. Jahrhunderts | |
| genutzt wurde. Aus Mangel an Baumaterial wurden die Grabsteine im ganzen | |
| Stadtgebiet verwendet, umgenutzt, verbaut und dadurch gerettet. „Die | |
| Überlieferung verdanken wir der Verfolgung“, sagt die Beauftragte für das | |
| Unesco-Welterbe. Das klinge paradox, so Stürzebecher. „Doch im historischen | |
| Erbe materialisieren sich Schuld und Verdienst.“ Ohne die Pogrome wäre das | |
| jüdische Erbe im Laufe der Zeit untergegangen, abgenutzt, zerstört und | |
| vergessen worden. | |
| Die ältesten und schönsten mittelalterlichen Grabsteine sind heute im | |
| Schaudepot im Keller des „Steinernen Hauses“ zu bestaunen. Gut 110 Platten | |
| sind sorgfältig restauriert, die älteste datiert von 1244. Die hebräischen | |
| Inschriften sind ungewöhnlich gut erhalten. Der teils poetische Inhalt mit | |
| bewegenden Lebensgeschichten ist bei einer Führung zu erfahren. Das | |
| gotische Steinhaus ergänzt die Ritualbauwerke im Unesco-Vorhaben um ein | |
| bürgerliches Gebäude mit einer farbig bemalten Balkendecke im Obergeschoss. | |
| Es lässt sich spätestens seit dem 13. Jahrhundert einem jüdischen Besitzer | |
| zuordnen. | |
| „Der Friedhof ist sogar wichtiger als die Synagoge“, sagt Rabbiner | |
| Alexander Nachama. Beten könne man schließlich überall. Doch ein | |
| geschützter Platz für die Toten ist nach jüdischem Verständnis | |
| existenziell. Der junge Rabbiner steht der Gemeinde in Thüringen seit 2018 | |
| vor. Die Neue Synagoge ist ihr Zentrum, der einzige Synagogenbau der DDR. | |
| „Wir sind eine kleine Gemeinde, die schrumpft“, sagt er. Das sei der Trend. | |
| In Erfurt gab es 1942 keine Juden mehr. Während der DDR zählte die Gemeinde | |
| 28 Mitglieder, jetzt sind es rund 800. Die meisten stammen aus Russland, | |
| die nach dem Zerfall der Sowjetunion kamen. „Die Möglichkeit, an das | |
| Judentum anzuknüpfen, setzt eine Synagoge, einen Rabbiner und ein | |
| Gebetsbuch voraus“, sagt Nachama. Doch das Wissen über die Religion sei zu | |
| oft verloren gegangen. Das Welterbe-Projekt sieht der Rabbiner positiv. „Es | |
| zeigt, dass das jüdische Leben nicht erst kürzlich entstanden ist, sondern | |
| 900 Jahre zurückverfolgbar ist.“ Ihm hafte nichts Exotisches an. | |
| Über das mittelalterliche Erbe hinaus lassen sich in Erfurt weitere | |
| Berührungspunkte finden, die das Netzwerk „Jüdisches Leben“ bilden. Der | |
| Neue Jüdische Friedhof im Süden der Stadt gehört dazu. Kaum tritt der | |
| Besucher von der verkehrsreichen Hauptstraße durch das Portal, empfängt ihn | |
| die Ruhe des ewigen Schlafes. Eine breite Lindenallee führt zur Trauerhalle | |
| hinauf, einem byzantinisch-maurischen Bau. Links und rechts gehen die mit | |
| Efeu bewachsenen Grabfelder ab. | |
| Auf dem parkähnlichen Gottesacker erstrecken sich auf einem Areal von | |
| anderthalb Hektar Gräber ab 1878 bis in die Jetztzeit. „Schalom“ begrüßt | |
| Annelie Hubrich zu ihrer Führung. Das Wort ist ein unter Juden üblicher | |
| Gruß, bedeutet aber auch Frieden und Sicherheit. „Das ist, was man von | |
| seiner letzten Ruhestätte erwartet“, sagt sie. Seit 2011 dokumentiert und | |
| erforscht die zierliche dynamische Frau die Grabstellen im „Haus des | |
| Lebens“. | |
| Für Hubrich ist es ein steinernes Archiv. Es birgt an die 1.000 nie | |
| geschändete Gräber mit meist stehenden Grabsteinen – verwitterte, bemooste, | |
| unversehrte, geklebte, abgestrahlte, die wie neu wirken, solche mit | |
| deutschen, hebräischen und russischen Inschriften. „Der Friedhof ist das | |
| Gedächtnis wider das Vergessen“, sagt die Hobby-Dokumentarin, die vor allem | |
| die Schicksale der Toten erforscht. So deuten etwa Fehlstellen in den | |
| Gräberreihen, unbenutzte Grabstellen und Gedenkschriften auf die Folgen des | |
| Holocausts. | |
| ## Berührende Symbolik | |
| Viele Stelen zeigen eingemeißelte Davidsterne, Mohnblumen, Fische oder die | |
| segnenden Hände. Die sich berührenden Daumen und Zeigefinger bilden ein | |
| Dreieck, wobei Ring- und kleiner Finger gemeinsam abgespreizt werden. „Das | |
| ist das Zeichen für einen jüdischen Priester oder Cohen“, sagt die | |
| ehrenamtliche Wächterin der Gräber. Die Geste ist aber noch aus einem | |
| anderen Kontext gut bekannt – aus der Filmserie „Star Trek: Enterprise“. | |
| Sie war das Markenzeichen von Mr. Spock, dem Außenseiter aus Vulkanien, der | |
| in den 1960er Jahren zusammen mit Captain Kirk durch die Galaxien flog. Der | |
| amerikanische Schauspieler Leonard Nimoy (1931–2015) spielte den | |
| Wissenschaftsoffizier und etablierte den kultig gewordenen Gruß des | |
| Außerirdischen, der seine Wurzeln im Judentum hat. | |
| Eine berührende Symbolik findet sich noch in der Trauerhalle. Am Eingang | |
| befinden sich mit Wasser gefüllte Steinbecken, mit dem sich die Lebenden | |
| nach der Feier den Tod abwaschen. „Wir sind noch nicht dran“, erklärt | |
| Hubrich. Und sie meint: Lebe jetzt. Denn deine Zeit ist begrenzt. | |
| Nach dem Neuen Jüdischen Friedhof schlägt der Bogen der Geschichte am | |
| Erinnerungsort Topf & Söhne brutal zu. „Stets gern für Sie beschäftigt“ | |
| steht heute an der Fassade des ehemaligen Verwaltungsgebäudes des Erfurter | |
| Familienunternehmens, das während der Nazi-Zeit Hochleistungsöfen für | |
| Konzentrations- und Vernichtungslager wie Buchenwald und Auschwitz | |
| produzierte. Die Grußformel aus einem fast normalen Geschäftsbrief eines | |
| fast normalen Großunternehmens, in dem sich die Prokuristen 1943 der | |
| Bauleitung der Waffen-SS empfahlen. | |
| Die Ausstellung dokumentiert am Originalschauplatz, welche Rolle die | |
| Feuerungstechnische Maschinenfabrik beim Massenmord an Juden, spielte und | |
| fragt nach den Motiven der Akteure. „Aus den Dokumenten geht hervor, dass | |
| sie genau wussten, dass die Öfen der Vernichtung von Menschen dienten“, | |
| sagt Rebekka Schubert, die das Gelände als politisch-historischen Lernort | |
| versteht. Denn viele der Fragen lassen sich in die Gegenwart übertragen: | |
| Warum machten sie mit? Warum diese Unmenschlichkeit? Wieso dieser Eifer, | |
| nach immer noch effizienteren Lösungen zu suchen? „Ihre Haltung war: nur | |
| nicht hinterfragen“, sagt die Museumspädagogin. | |
| Das Unternehmen produzierte seit 1914 Feuerbestattungsöfen für städtische | |
| Krematorien. Mit 1.150 Beschäftigten erreichte die Belegschaft 1939 ihren | |
| höchsten Stand. Nicht wenige wurden zu Mitwissern und Mittätern – | |
| Ingenieure, Kaufleute, Facharbeiter, Monteure. | |
| Topf & Söhne war eines von zwölf zivilen Unternehmen, die eine | |
| Schlüsselrolle beim Bau der Krematorien für Todesfabriken spielten, | |
| Massenverbrennungstechnik und Belüftungsanlagen für Gaskammern herstellten. | |
| Auf drei Etagen wird gezeigt, wie banal alltäglich die Ingenieure der | |
| „Endlösung“ ehrgeizig und vorbehaltlos an Lösungen arbeiteten, um die | |
| Beseitigung von Millionen Leichen zu perfektionieren, sie möglichst | |
| effektiv, kostengünstig und unauffällig beiseitezuschaffen – geräuschlos, | |
| geruchlos, sauber. | |
| Das Beunruhigende sei, sagt Schubert, dass weder die Firmeninhaber noch die | |
| Mitarbeiter fanatische Nationalsozialisten oder Antisemiten waren. Sie | |
| handelten weder auf Befehl noch unter Druck, sondern freiwillig, in | |
| völliger Abwesenheit von Mitmenschlichkeit und Zivilcourage. Aus den | |
| Fenstern der Ingenieursetage kann man zum Ettersberg hinübersehen – zum | |
| Glockenturm, der an das dortige KZ Buchenwald erinnert. | |
| Aus alten Briefen lässt sich nachvollziehen, wie einfach es ist, | |
| unmoralisch zu handeln, wenn der gesetzliche Rahmen erst einmal kaputt ist. | |
| Deshalb ist für die Museumspädagogin Schubert die Betriebsstätte des | |
| Holocausts ein wichtiger Ort der politischen Bildung, der Toleranz und der | |
| Mitmenschlichkeit. „Wenn wir uns heute die Frage nach der Verantwortung | |
| unseres Tuns stellen“, sagt sie, „dann hat die Ausstellung viel erreicht.“ | |
| 28 Jul 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Beate Schümann | |
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