# taz.de -- Jazz-Festival in Kopenhagen: Etwas ist Jazz im Staate Dänemark | |
> Wer sich mit dem Rad auf eine Stadtrundfahrt durch die dänische | |
> Hauptstadt begibt, erlebt während des 41. Copenhagen Jazz Festivals | |
> vielerlei Rausch. | |
Bild: Weniger ist mehr? Ach was, mehr ist mehr! „Hess is More“ heißt die B… | |
Wärme, Sonne, Sommerleichtigkeit in Kopenhagen. Draußen am Nyhavn platzen | |
die Restaurantterrassen vor den bunten Giebelhäusern aus dem 18. | |
Jahrhundert aus allen Nähten. Drinnen wird die Luft knapp. In der kleinen | |
Kantine der Kunsthal Charlottenborg, einer ehemaligen königlichen Residenz | |
direkt am Kanal, trübt eine Nebelmaschine die Sicht im Kerzenlicht. Die | |
Vorhänge sind zugezogen. Das Publikum ist schon beim zweiten Drink | |
angekommen, dabei hat der Abend noch gar nicht richtig begonnen. Dann | |
beginnt ein Musiker an einem Synthesizer herumzuschrauben, ein anderer | |
spielt einen monotonen Bass-Rhythmus; Perkussionisten, Bläser, Gitarristen | |
betreten den Raum. | |
Auf dem Programm: Jazz. Jedenfalls das, was Mikkel Hess davon versteht. Von | |
dessen Band Hess is More ist man Konzerte mit performativem Charakter | |
gewohnt. Doch was der Mann für die diesjährige Ausgabe des Copenhagen Jazz | |
Festivals vorhat, ist selbst für ihn, diesen fantasievollen Schlagzeuger | |
mit grauem Schnauzer, Neuland: An allen zehn Abenden des Festivals | |
hintereinander gibt Hess mit Septett plus Gästen Konzerte in der Apollo | |
Kantine. Danach stehen allabendlich in der Bar nebenan Jamsessions an, dazu | |
kommen Auftritte im Tagesprogramm, einige davon mit seinen älteren Brüdern | |
Nikolaj und Emil Hess, ebenfalls professionelle Jazzmusiker. | |
Das Motto der Abende: „Apollonian Circles“. Apoll, der Gott des Lichts und | |
der Künste, könnte auch der Schutzheilige dieses Festivals sein, das seit | |
40 Jahren immer Anfang Juli die Kulturszene der dänischen Hauptstadt | |
aufleuchten lässt. Was in den letzten Jahren zu einem der größten | |
Jazzfestivals Europas heranwuchs, begann schon 1979 mit großen Namen wie | |
Weather Report und Ella Fitzgerald. Mittlerweile findet das Festival an 100 | |
verschiedenen Locations statt, insgesamt sind es mehr als 1.200 Konzerte. | |
Die Stars 2019: Gregory Porter, Gilberto Gil, Joshua Redman und Kruder & | |
Dorfmeister. | |
620.000 Menschen wohnen in den 15 Bezirken Kopenhagens, 250.000 Besucher | |
hat das Copenhagen Jazz Festival. Dem über die ganze Stadt verteilten | |
Festival ist schwer zu entkommen – gespielt wird in Kirchen, Museen, Parks | |
und auf dem Wasser. Die meisten Konzerte kosten umgerechnet weniger als 15 | |
Euro Eintritt, etliche sind gar gratis. | |
## Miles Davis’ Drummerin | |
So spielt Marilyn Mazur, eine dänische Jazzlegende, am Freitagnachmittag | |
Open Air im Kongens Have. Mazur ist die einzige Frau, die je fest in Miles | |
Davis’ Band spielte, doch seit einigen Jahren ist sie mit einer rein | |
weiblichen Band unterwegs. Dabei bringt sie afrikanisch Angehauchtes, | |
Latin, nordische Folklore, Free und Ambient zusammen. Keine leicht | |
verdauliche Sommerkost, doch das Kopenhagener Publikum ist in Scharen in | |
den Park gekommen – und bleibt. In den königlichen Parks ist das Radfahren | |
strengstens untersagt. Doch außerhalb der Hecken geht es nicht ohne: Wer | |
das Festival in all seinen Facetten erfahren will, erlebt per Velo eine | |
friedlich-alternative Stadtrundfahrt. | |
In der beschaulichen Wohngegend Fredriksberg im Westen sind die | |
Livemusik-Cafés schon am frühen Mittwochnachmittag bis auf den letzten | |
Platz gefüllt. Also weiter auf Radwegen in Fußgängerzonen-Breite. | |
„Rad-Rambos“, wie sie die deutsche Boulevardpresse gern schimpft, gibt es | |
in Kopenhagen nicht. Es ist genug Platz zum Überholen, Handsignale beim | |
Bremsen und Abbiegen sind trotzdem unerlässlich. Zwischendurch lässt man | |
sich von freundlichen Rentnern in hier selten gesehener Warnweste | |
abwechselnd auf Englisch und Deutsch beraten und saust am Vergnügungspark | |
Tivoli vorbei Richtung Innenstadt. | |
Der Innenhof des Kulturzentrums Studenterhuset mutet mit seinen orangerot | |
getünchten Wänden südländisch an. Außentemperaturen von 24 Grad befördern | |
das mediterrane Flair. Unter einem weißen Sonnendach tritt hier der | |
Trompeter Tobias Wiklund auf. Der 33-jährige Schwede lebt in Kopenhagen, in | |
der hiesigen Jazzszene fand er Mitstreiter wie Simon Toldam, der seinem | |
billig wirkenden Siebziger-Jahre-Keyboard unfassbare Klänge entlockt. | |
Toldams Instrument klingt wie eine Geisterbahnorgel und liefert damit den | |
ätherischen Gegenpol zur sensationellen Performance des ganz in schwarz | |
gekleideten Wiklund. Der spielt das Kornett, das nur durch den etwas | |
dunkleren Klang von einer Trompete zu unterscheiden ist. Der Bandleader | |
beherrscht einen dunklen Swing, wie man ihn in den schwärzesten Spelunken | |
der Südstaaten erwartet, irgendwo zwischen Duke Ellington und Sun Ra. Ein | |
grandioses Konzert, voller beständig spürbarer Tradition, die doch immer | |
wieder durch kurze avantgardistische Sequenzen gebrochen wird. | |
## Verboten: Pinkeln und Koks | |
Zur Avantgarde zählte man sich jahrzehntelang auch im Osten der Stadt. Hier | |
liegt die 1971 von Hausbesetzern gegründete Freistadt Christiania. „You are | |
now entering the EU“, verkündet ein Tor demjenigen, der das Gelände | |
verlässt. Hasch und Gras in allen Darreichungsformen waren so gängig wie | |
andernorts Smørrebrød. Mittlerweile haben die rund tausend Bewohner dem | |
Staat das Gelände abgekauft, und doch wird das alternative Idyll die | |
dunklen Schatten nicht los. Immer wieder kam es zu Gewalttaten, 2016 gab es | |
einen Toten. Die Bewohner warfen die Dealer hinaus, doch die kamen wieder – | |
nur sind ihre Verkaufsstände heute kleiner und mobiler. | |
Den im parkartigen Gelände errichteten Schildern nach zu urteilen, fürchtet | |
man heute Wildpinkler mehr als Junkies, und doch sind die | |
Selbstverständlichkeiten in Christiania anders. Im dortigen Club Loppen | |
fordert auch anno 2019 noch ein Plakat: „No Hard Drugs“. Darunter wird | |
erläutert: Kokain zählt dazu. Das nächtliche Konzert des britischen | |
Drummers Yussef Dayes ist allerdings auch ohne Rauschmittel ein Trip – | |
dafür sorgen schon die hohen Temperaturen im scheunenartigen Loppen. Dayes, | |
der zu den hippsten Musikern der Londoner Szene zählt, spielt einen rauen, | |
jazzifizierten Funk mit roughen Break Beaks. Für die komplett | |
improvisierten Zugaben nimmt er sich fast eine Stunde Zeit. | |
Ähnlich viel Ekstase bieten die apollinischen Exkursionen des eingangs | |
schon erwähnten Mikkel Hess am Nyhavn. Der Drummer ist inzwischen fast am | |
Ende seines 10-Nächte-Marathons, die letzten Konzerte werden martialisch | |
als „End Game“ angekündigt. Hess und seine acht Mitstreiter haben die | |
übliche Jazz-Konzertordnung einmal umgedreht: Die Band sitzt, das Publikum | |
steht. Noch. Denn während draußen die Sonne untergeht, bitten Hess Is More | |
einzelne Gäste an den raumfüllenden Dinnertisch. Wein fließt, die Musik | |
wird langsam lauter. | |
Im Folgenden werden die MusikerInnen dann auf die Stühle springen, das | |
Tischtuch zwischen den Kerzen besetzen und darauf liegen. Vermutlich hält | |
nur skandinavische Reserviertheit das Publikum davon ab, es ihnen | |
nachzutun, denn der Sound ist maximal tanzbar: Disco, Funk, Krautrock und | |
elektronische Spielereien sorgen für Enthusiasmus, wie ihn sonst LCD | |
Soundsystem oder Giorgio Moroder hervorzurufen verstehen. Zum Schluss | |
werden die Kerzen ausgepustet, eine nach der anderen. Das Kopenhagener Jazz | |
Festival ist vorbei, das Leihrad muss zurück, der Autor auch. Die | |
Impressionen bleiben von einem musikalischen Rausch, der zehn Tage lang | |
anhielt. | |
15 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Jan Paersch | |
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