# taz.de -- Überfüllte Gefängnisse in Nigeria: Sozialarbeit statt Haft | |
> Nigerias Knäste sind voll, Gerichte überlastet, und mutmaßliche Täter | |
> warten jahrelang auf den Prozess. Im Bundesstaat Oyo ändert sich das. | |
Bild: Die Juristin Aderonke Ige hat den Community Service mit aufgebaut | |
Ibadan taz | Der Mann, der ein langärmeliges schwarzes Hemd und Shorts | |
trägt, fällt auf dem weitläufigen Gelände des Iyaganku-Gerichts in der | |
Millionenstadt Ibadan im Bundesstaat Oyo nicht auf. Alte, hohe Bäume sorgen | |
für Schatten. Überall sind einzelne Bürotrakte gebaut worden. | |
Der Mann kennt seinen Weg genau. Jeden Nachmittag steht er kurz vor 14 Uhr | |
vor der Tür, an der „Community Service“ steht. Dort erhält er einen | |
Handbesen, eine Sense und ein blaues Hemdchen. Als er es überstreift, | |
blickt er etwas angewidert. Auf der Rückseite steht „Community Service | |
Offender“. Er ist nach Einschätzung der Justiz straffällig geworden. Ein | |
Richter kam zu dem Ergebnis, dass er Geld gestohlen oder unterschlagen hat. | |
Genau lässt sich das nicht rekonstruieren. Seinen Namen möchte er nicht | |
nennen, aus Angst, von Bekannten erkannt zu werden oder sich seine Zukunft | |
zu verbauen. | |
Über das Urteil ärgert er sich auch Wochen später noch. „Eine Mitarbeiterin | |
von mir hat das Geld genommen. Als ich das merkte, ist sie zur Polizei | |
gegangen und hat gesagt, sie hätte mir Geld gegeben. Ich bin unschuldig“, | |
beteuert er. Drei Sätze später klingt er jedoch schon versöhnlicher. | |
Immerhin muss er die Strafe nicht im Gefängnis absitzen, sondern leistet | |
drei Monate lang Sozialstunden ab. Überprüft wird das am Gericht von vier | |
Mitarbeitern der Abteilung Community Service. | |
Für die alternative Form von Bestrafung macht sich die Anwältin Aderonke | |
Ige schon seit Jahren stark. Früher arbeitete sie für das Caritas-Komitee | |
für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden (JDPC). Die Organisation hat in | |
Oyo eine lange Tradition der Gefängnisseelsorge. „Im Laufe der Zeit | |
stellten wir aber fest, dass es nicht nur um Beratung und die Übergabe von | |
Spenden geht“, sagt sie, „stattdessen beobachteten wir, dass die | |
Gefängnisse immer voller wurden. Es kam zu Ausbrüchen von Epidemien. Die | |
Häftlinge bekamen Tuberkulose und infizierten andere. Die | |
Gesundheitsfürsorge funktionierte nicht und das Essen war viel zu knapp.“ | |
## Eine alte Tradition | |
So entstand die Idee, Menschen, die etwa Lebensmittel gestohlen oder einen | |
Streit angezettelt hatten, nicht mehr zu Haftstrafen, sondern zu | |
gemeinnütziger Arbeit zu verurteilen. Diese wird bisher meist auf dem | |
Gerichtsgelände abgeleistet, damit die Bevölkerung sich langsam an diese | |
Form der Bestrafung gewöhnt und nicht misstrauisch wird. Dabei knüpft es an | |
eine alte Tradition an. | |
Bei den Yoruba, der größten ethnischen Gruppe im Südwesten Nigerias, | |
mussten Verbrecher bei kleineren Delikten meist Gras um den Königspalast | |
schneiden, wurden aber nicht eingesperrt. Bis die Idee jedoch umgesetzt | |
werden konnte, waren lange Verhandlungen, Gesetzesentwürfe, eine | |
Justizreform und vor allem viel Lobbyarbeit nötig. Zu den ersten | |
Verurteilungen zu Sozialstunden kam es im Juli 2017. Bis Januar 2019 haben | |
diese mittlerweile 124 Menschen abgeleistet. Noch sind die Gefängnisse also | |
weiterhin voll. | |
Das größte Gefängnis im Bundesstaat liegt etwas versteckt mitten in Ibadan. | |
Der Bau von Agodi ist mattgelb, Fensterrahmen und Türen sind grün | |
gestrichen. Es dauert lange, bis sich die Tür öffnet und alle Besucher | |
kontrolliert worden sind. Besonders groß ist an diesem Nachmittag die | |
Sorge, dass Handys oder Kameras für verdeckte Aufnahmen eingeschmuggelt | |
werden. Nach den Kontrollen ist es vor allem eine große Tafel, die für | |
Aufmerksamkeit sorgt. Darauf steht, dass in dem Gefängnis, das für 390 | |
Menschen Platz hat, aktuell 1.189 inhaftiert sind. Außerdem sind nur 159 | |
überhaupt verurteilt. | |
Mitunter warten Insassen jahrelang auf ihren Prozess, vor allem, wenn Geld | |
und Kontakte fehlen. „Einen Rechtsbeistand zu finden, ist schwierig“, sagt | |
Aderonke Ige. Im ganzen Land sind zwar Rechtsberatungen eingeführt worden. | |
Doch davon profitieren längst nicht alle. Rechtsanwälte wollen wiederum | |
nicht kostenlos arbeiten. Was die Haft zusätzlich unerträglich macht, sind | |
die hygienischen Bedingungen. „Statt Toiletten mussten die Männer Eimer | |
nutzen“, so Ige. Im vergangenen Jahr saßen nach Schätzungen mehrerer | |
nichtstaatlicher Organisationen gut 72.000 Menschen in Haft. Das sind bei | |
etwa 200 Millionen Einwohnern zwar nur 37 je Hunderttausend (in | |
Deutschland: 75 je 100.000). Etwa 80 Prozent davon aber warteten auf ihren | |
Prozess. | |
Die Wartezeiten kritisiert auch Collins Okeke, der für die Organisation | |
Human Rights Law Service (Hurilaws) arbeitet. „Wir haben einige | |
Herausforderungen, was die Einhaltung der Menschenrechte in Gefängnissen | |
angeht.“ Besonders betroffen seien genau jene Menschen, die in | |
Untersuchungshaft sitzen. „Dafür gibt es in den Gesetzen keine | |
Vorkehrungen. Sie sind diejenigen, die am meisten leiden. Manchmal warten | |
sie länger auf das Verfahren, als die maximale Haftstrafe eigentlich | |
dauert“, kritisiert der Jurist. | |
An diesen Nachmittag ist der Männertrakt Tabu, nur ein kurzer Blick in den | |
Frauenbereich wird genehmigt. Ein gutes Dutzend Frauen sitzen in einem | |
kleinen Raum, eine stellt aus Plastikperlen Schlüsselanhänger her. | |
Gespräche sind nicht möglich. Etwas später kommen im Eingangsbereich neue | |
Häftlinge an. Sie alle müssen einen Moment auf dem Boden knien. | |
Das ist dem Mann mit dem schwarzen Hemd erspart geblieben. Er steht | |
mittlerweile auf einem Hocker und fegt Spinnweben aus den Ecken. Obwohl | |
sein Status durch das blaues Hemdchen überall erkennbar ist, nimmt ihn | |
niemand groß wahr oder starrt ihn an. Für einen Moment unterbricht er die | |
Arbeit und sagt: „Ich hatte natürlich Angst, selbst ins Gefängnis zu | |
kommen.“ Abschreckend sind nicht nur die schlechten Haftbedingungen, der | |
mangelnde Platz oder das knappe Essen. Es sind vor allem die Kontakte zu | |
echten Verbrechern. „Wenn dann jemand aus der Haft entlassen wird, ist aus | |
einem netten Menschen ein schlechter geworden. In Gefängnissen lernt man | |
einfach nichts Gutes.“ | |
## Motivation und Unterstützung | |
Amtsrichterin Olumide Ogunrin hat im High Court of Justice etwas außerhalb | |
des Zentrums von Ibadan ein großes Büro im zweiten Stock. Von hier aus | |
überblickt sie die ganze Stadt. Vor dem großen Gebäude, das etwas außerhalb | |
liegt, steht die moderne Form einer riesigen Justitia, die in Gold | |
angestrichen ist. Hier koordiniert Olumide Ogunrin den Community Service | |
für den gesamten Bundesstaat Oyo. 25 Mitarbeiter hat sie, deren Büros an | |
die verschiedenen Amtsgerichte angegliedert sind. „Ich selbst habe 2014 zum | |
ersten Mal davon gehört. Das System ist neu und existiert so in Westafrika | |
nicht.“ Doch obwohl es noch am Anfang steht, hält sie es schon jetzt für | |
ein Erfolgsmodell. | |
„Zum ersten Mal kommen Menschen, die einen Bagatelldiebstahl begehen, nicht | |
mit richtigen Kriminellen in Kontakt“, sagt Ogunrin. Stattdessen übernehmen | |
die Mitarbeiter vom Community Service die Rolle von Sozialarbeitern. „Sie | |
hören zu, geben Tipps für die Zeit danach, und vor allem motivieren sie.“ | |
Das Klischee der zerrütteten Familie und schwierigen Kindheit möchte die | |
Juristin eigentlich nicht bedienen. Dennoch erlebt sie, dass gerade jungen | |
Männern, die kleine Straftaten begehen, Vorbilder und Unterstützung fehlen. | |
„Ich kann mich gut an eine Gruppe junger Männer erinnern. Sie sind früh von | |
zu Hause weggegangen, lebten auf der Straße und hatten nichts zu tun. Nach | |
und nach sind sie zu Kleinkriminellen geworden. Bei Gesprächen haben wir | |
festgestellt, dass sie nie geglaubt haben, irgendetwas aus ihrem Leben | |
machen zu können.“ | |
Geht es nach Olumide Ogunrin, wird es nicht bei den Sozialstunden bleiben. | |
Erklärtes Ziel ist es, anschließend bei der Jobsuche zu helfen oder eine | |
Ausbildung zu ermöglichen. „Das Programm lässt sich auf jeden Fall | |
ausbauen, damit Menschen wieder eine Perspektive bekommen.“ | |
Diese hat der Mann im schwarzen Hemd schon. Er erzählt von seinem Geschäft, | |
um das er sich wieder voll kümmern kann, wenn er nicht mehr täglich zum | |
Iyaganku-Gericht muss. Da er abends zu seiner Frau und den vier Kindern | |
nach Hause gehen kann, würden seine Kunden zum Glück nichts vom Community | |
Service merken. Er ist sich sicher: Noch einmal wird er nicht verurteilt | |
werden. „Ich will meinen Kindern doch ein guter Vater sein. Sie sollen | |
einen guten Charakter entwickeln.“ | |
5 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
## TAGS | |
Nigeria | |
Justiz | |
Strafvollzug | |
Nigeria | |
Nigeria | |
Nigeria | |
Nigeria | |
Nigeria | |
Nigeria | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Polizeigewalt in Nigeria: Brutale Polizeieinheit aufgelöst | |
Gegen die Brutalität der Polizeieinheit SARS hatte sich massiver Protest | |
geregt. Jetzt löst die Regierung sie auf – behält aber die Polizisten. | |
UN-Welttoilettentag am 19. November: Das Geschäft mit dem Geschäft | |
Toiletten sind in Nigeria ein großer Luxus – nicht einmal die Hälfte der | |
Bevölkerung hat eine eigene zu Hause. Auch öffentliche WCs sind Mangelware. | |
Kampf gegen Boko Haram: Betteln in Nigeria verboten | |
In Maiduguri in Nigerias Boko-Haram-Kriegsgebiet ist Betteln auf der Straße | |
aus Sicherheitsgründen verboten. Bettler sollen Kredite aufnehmen. | |
Bahn fahren in Nigeria: Sichere Ankunft statt Entführung | |
In Nigeria werden Züge immer beliebter. Für viele Passagiere sind die | |
Straßen der Grund: Dort ist es wegen alltäglicher Überfälle viel zu | |
gefährlich. | |
Nigerias Präsident beginnt neue Amtszeit: Vier weitere Jahre „Baba go slow“ | |
Nigerias wiedergewählter Präsident Muhammadu Buhari wird für seine zweite | |
Amtszeit vereidigt. Gefeiert wird aber nicht. | |
Polizisten vergewaltigen in Nigeria: Tatort Nachtklub | |
Eine Razzia gegen einen Nachtklub in Nigerias Hauptstadt endet mit | |
Vergewaltigungen in der U-Haft. Jetzt ermittelt die Polizei gegen sich | |
selbst. |