# taz.de -- „Nuestro Tiempo“ von Carlos Reygadas: Die Gesetze der Kampfstie… | |
> Der Film „Nuestro Tiempo“ von Carlos Reygadas erzählt vom Ende einer | |
> offenen Beziehung. Er ist eine waghalsige Annäherung an die Liebe. | |
Bild: Bei aller Traurigkeit des Filmes entsteht eine Art kathartische Paarthera… | |
Es sind Bilder wie diese, die Filme von Carlos Reygadas unvergesslich | |
werden lassen: Eine Frau fährt mit einem Pick-up durch eine karge | |
Landschaft. Ihre Miene ist regungslos, fast versteinert läuft ihr Blick in | |
die Leere voraus. Sie holt ihr Handy heraus, legt es unentschlossen wieder | |
zurück. Dann ein Schnitt ins Innere des Motors. Surrende Keilriemen, | |
donnernde Zylinder, Close-ups einer Maschine, deren einziger Zweck darin | |
besteht, zwecklos zu funktionieren. | |
Oder: Ein Mann wird von einem Verwandten nach Geld für ein neues Auto | |
gefragt. Es wird verhandelt, wie viel das Auto koste, warum er gerade ihn | |
frage, was er mit dem Auto vorhabe. Doch der Blick des Mannes wandert | |
langsam auf eine baumbestandene Anhöhe. Pappeln wiegen sich im Wind, | |
unregelmäßig wogen die Äste in den Böen und ergeben ein fließendes Muster, | |
das von einem nahenden Ereignis zeugt. | |
Innen- und Außenleben, in „Nuestro Tiempo“ gibt es keinen Unterschied. Die | |
Frau und der Mann sind ein Paar, sie sind es in doppelter Hinsicht. Sie | |
heißen im Film Juan und Ester Diaz und sie heißen ansonsten Carlos Reygadas | |
und Natalia López. Der neue Film des mexikanischen Regisseurs Reygadas ist | |
eine schonungslose Autofiktion: Gemeinsam mit seiner Frau Natalia schlüpft | |
er in die Rolle des Ehepaars Juan und Ester Diaz. | |
Die beiden besitzen eine profitable Farm mitten in Mexiko, auf der sie | |
renommierte Kampfstiere züchten und mit ihren drei Kindern leben. Ester | |
führt die Geschäfte, Juan ist eigentlich erfolgreicher Schriftsteller, | |
kümmert sich aber meist um die Selektion der bestialischen Wesen. Es geht | |
ihnen gut, sie haben ihre individuellen Träume verwirklicht, auch in der | |
Liebe, wie es scheint. Sie [1][führen eine offene Beziehung], wollen | |
Freiheit finden, abseits von Besitzdenken und Eifersucht. | |
## Traum beendet | |
Was „Nuestro Tiempo“ dann erzählt, ist das Ende dieses Traums. In | |
behutsamen 175 Minuten fällt das gemeinsame Leben von Juan und Ester | |
auseinander, Schicht für Schicht wird abgetragen, Wort für Wort entkernt. | |
Selten war die komplexe, emotionale Bandbreite einer langjährigen | |
Paarbeziehung intensiver in einem Film zu erleben, sicherlich auch, weil es | |
ein wirkliches Ehepaar ist, das sich ohne Scheu vor der Kamera | |
fiktionalisiert. | |
Doch das Ende der Beziehung ist so unvermeidlich wie universell gültig: Du | |
bist du und ich bin ich. Das „Wir“ ist abwesend. Gleichwohl wohnt „Nuestro | |
Tiempo“ etwas zutiefst Feierliches inne, denn Reygadas feiert den Verfall | |
menschlicher Bindungen mit den Mitteln des Kinos, wie es vor ihm | |
wahrscheinlich nur Ingmar Bergman getan hat. | |
Alles beginnt mit ein paar Drinks bei Sonnenuntergang. Juan und Ester | |
lernen den US-amerikanischen Viehzüchter Phil (Phil Burgers) kennen. Der | |
Neuling wirbt um Juans Gunst und schließlich heuern sie den – wie sie sagen | |
– „Gringo“ an, um ihn auf der Farm anzulernen. Als Ester mit Phil | |
geschäftlich in Mexiko-Stadt zu tun hat, knistert es vernehmlich, doch will | |
Ester nichts davon preisgeben. | |
Juan spürt, dass etwas passiert ist und versteht Esters Schweigen als | |
Verletzung der verabredeten Spielregeln. Er fordert Kommunikation, sagt, | |
man müsse über alles gemeinsam reden. Doch Ester blockt ab, sie ist nicht | |
bereit, Klarheit zu schaffen. Fakt ist: Ihr Begehren ist emotional, nicht | |
körperlich. Das Konzept der offenen Beziehung ist für Juan durchbrochen, | |
hatte er doch gerade gehofft, Ester durch sexuelle Freizügigkeit umso | |
stärker an sich selbst binden zu können. | |
## Die Beziehung leidet | |
Nach und nach wird klar, wie wenig die Eheleute auf Augenhöhe sind. Die | |
beiden leben letztlich in einem mentalen Konzept von Juan. Es geht nicht um | |
Freiheit, sondern um einen scheinbaren Kredit von Freiheit, der doppelt | |
verzinst zurückgezahlt werden muss. Denn Juan möchte Transparenz, er will | |
wissen, mit wem seine Frau schläft, er drängt sie gerade in die | |
Promiskuität, nur um selbst die Kontrolle zu behalten, schlicht, weil er es | |
kann, erfolgreich in seiner Profession, überall beliebt, ein quirky | |
Intellektueller und guter Vater. | |
Dass es seiner Frau hingegen immer schlechter geht, dass sie unter der | |
Beziehung zu Phil leidet, scheint Juan nur peripher zu interessieren, | |
solange das Regelwerk des Begehrens befolgt wird. Dabei ist Ester | |
eigentlich ihm gefolgt, hat drei Kinder geboren und kümmert sich um die | |
Geschäfte auf der Farm. Sie ist ein Teil von ihm, er aber nicht von ihr. | |
In einer langen Kamerafahrt durch die Wolken über Mexiko-Stadt spricht | |
Ester schließlich genau diese Tatsachen aus: Sie ist in der Beziehung mit | |
Juan und durch den Impuls, ihn zu lieben, eine andere Frau geworden. Eine | |
Frau, die nicht mehr weiß, wer sie ist. Das ist der zentrale, entscheidende | |
Unterschied gegenüber Juan. | |
In einer Szene geht Ester allein zu einem Konzert in Mexiko-Stadt, | |
schlicht, da Juan ungern seine Farm verlässt, auch nicht, um mit seiner | |
Frau etwas zu unternehmen. Als Phil und Juan dann auch noch E-Mails | |
austauschen und sich gegenseitig um Erlaubnis bitten, ohne Ester | |
einzubeziehen, ist die Manipulation vollkommen. | |
## Niedergang mit schönen Aufnahmen | |
So ist „Nuestro Tiempo“ vor allem ein Film über das persönliche Scheitern | |
und männliches Anspruchsdenken. Trotz besseren Wissens wird Juan zum | |
hoffnungslosen Voyeur, durch den kleinsten Spalt folgt die Kamera seinem | |
Blick, nur um seine Frau in flagranti beobachten zu können. Dabei hat er | |
Ester schon vor langer Zeit verloren, jedenfalls lange vor Beginn der | |
Filmhandlung. | |
So erklärt sich vielleicht, dass „Nuestro Tiempo“ trotz allem ein | |
besonnener Film ist, der einen individuellen Niedergang in | |
gleichmütig-grandiose Landschaftsaufnahmen kleidet. Diese mentalen | |
Zerreißproben vor dem Hintergrund einer unbeeindruckten Natur erinnern an | |
Filme von Carl Dreyer, Robert Bresson und vor allem Andrei Tarkowski – | |
klare Referenzen in den Filmen von Reygadas. | |
Doch einmalig ist, dass Reygadas wie auch in seinen vorigen Filmen stets | |
eine Art Ökologie entwirft, die ein ganz und gar fließendes, | |
naturalistisches Kino erzeugt. Das Wetter, die Tiere, die Landschaft, die | |
Zeit, die Kinder – alles ist präsent und steht in Beziehung, nichts ist | |
abwesend. So ist „Nuestro Tiempo“ das Gegenteil eines Kammerspiels, denn | |
jede Emotion findet ihre Entsprechung in der äußeren Welt. Das nimmt dem | |
Film jede Dramatik und macht ihn stattdessen zu einer übernatürlichen | |
Realitätserkundung sondergleichen. | |
## Kathartische Paartherapie | |
Der Film endet folgerichtig auch nicht mit Juan und Ester, sondern mit den | |
Kampfstieren, deren Welt eine ganz eigene ist, mit rätselhaften Gesetzen, | |
die aber am Ende des Tages auch nicht weniger rätselhaft erscheinen als | |
jene der Menschen. Besser ist es da, die einfach anzusehen, wie sie ist: | |
Der Prolog des Films zeigt spielende Kinder in einer gigantischen | |
Landschaft aus Seen voller Lehm, ein fast biblisches Szenario. Diese | |
natürliche Unschuld des Anfangs bleibt im Verlauf des Films wie ein | |
unerreichbarer Sehnsuchtsort zurück. | |
Die Stärke von „Nuestro Tiempo“ bleibt jedoch, dass der Film sein eigenes | |
Thema so ernst nimmt und aus allen erdenklichen Perspektiven in Szene | |
setzt. So entsteht in aller Traurigkeit eine Art kathartische Paartherapie, | |
sowohl für alle zweisam Zusehenden als vermutlich auch für Reygadas und | |
López selbst. | |
27 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
Johannes Bluth | |
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