# taz.de -- KünstlerInnen in Diyarbakır: Neustart in Kurdistan | |
> Kurz vor der Wahlwiederholung in Istanbul streift unser Autor durch die | |
> kurdische Stadt Diyarbakır. Er besucht Künstler_innen und Kurator_innen. | |
Bild: Der Rest vom Weltkulturerbe: In der zerstörten Altstadt von Diyarbakır … | |
Eine Familie sitzt in einem mit Teppichen ausgelegten Wohnzimmer apathisch | |
auf einem Diwan. Aus dem Fußboden vor ihnen öffnet sich ein kreisrunder | |
Krater aus Steinen und Geröll. Heraus arbeitet sich ein Arbeiter mit einer | |
Spitzhacke in der Hand. Alle starren ins Leere. | |
An Cengiz Tekins Kunstwerk „Normalizasyon“ von 2009 fühlt sich erinnert, | |
wer in diesen Tagen das frühsommerliche Diyarbakır durchstreift. In Sur, | |
ihrem historischen Zentrum, strömen die Menschen durch den Basar oder in | |
die Ulu Camii, Diyarbakırs im 14. Jahrhundert erbaute „Große Moschee“, ein | |
Kleinod der seldschukischen Architektur aus schwarzem und weißem Basalt. | |
Hier und da erinnern ein paar notdürftig verschalte Einschusslöcher in den | |
Häuserwänden an die verheerenden Kämpfe vor vier Jahren. Nach der | |
unerwarteten Niederlage bei den Parlamentswahlen 2015 beendete | |
Staatspräsident Erdoğan seine Annäherung an die Kurden. | |
In einem Städtekampf von 100 Tagen bombte sich die türkische Armee durch | |
die engen Gassen ohne Rücksicht auf Bewohner oder historische Gebäude. | |
Hunderte Menschen starben bei ihrer Jagd auf angebliche kurdische | |
Terroristen. Sur glich einem Trümmerfeld, Tausende verließen die 4.000 | |
Jahre alte „kurdische Hauptstadt“, darunter viele Künstler. | |
Inzwischen scheint alles wieder so normal, als ob nie etwas geschehen wäre. | |
Die Touristen drängeln sich zum Selfie unter der vierbeinigen Moschee, wo | |
im November 2015 der kurdische Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi erschossen | |
wurde. Und die Hochzeitspaare drängeln sich schon wieder in der Ruine der | |
romantisch zerfallenen St.-Georgs-Kirche. | |
Von der Anhöhe der in den Straßenkämpfen schwer beschädigten Festung von | |
Diyarbakır, in deren Ensemble die Kirche steht, fließt träge der | |
schilfgrüne Tigris nach Süden. Nur die kleinen, vergitterten Panzer, die | |
überall in der Stadt patrouillieren und an allen öffentlichen Gebäuden | |
postiert sind, lassen ahnen, dass hier jede Minute wieder eine Eruption aus | |
dem Boden brechen könnte. | |
Nach dem Städtekampf kam der Ausnahmezustand in der Folge des missglückten | |
Putsches vom Sommer 2017. Die kurdischen Bürgermeister wurden ihrer Posten | |
enthoben. Fast alle Kulturinstitutionen wurden geschlossen. Wie ein | |
unglaubliches Pflänzchen der Normalisierung wirkt da das Projekt, das ein | |
paar Künstler in dieser labilen Situation gegründet haben. | |
In einer kleinen Seitenstraße eines quirligen Mittelschichtsviertels, nur | |
ein paar Schritte entfernt vom hermetisch abgeriegelten Amtssitz des | |
Gouverneurs und einem Militärareal, öffnet sich für den Besucher die | |
stählerne Doppeltür zu einem strahlend weiß gestrichenen Apartment. Über | |
gut 100 Quadratmeter erstrecken sich ein zu einer Mischung aus Auditorium | |
und Ausstellungsraum umgebautes Wohnzimmer, eine kleine Bibliothek, ein | |
Raum für Gastkünstler und ein Büro. | |
## Neustart für die bildende Kunst | |
„Loading“ haben Erkan Özgen und Cengiz Tekin ihren 2017 gegründeten | |
Kunstraum nicht umsonst genannt. Signalisiert er doch den Neustart für die | |
bildende Kunst in der geprüften, aber nicht unterzukriegenden Metropole, | |
den sie vorantreiben wollen. Özgen und Tekin sind nicht irgendwer. Die | |
beiden Mittvierziger sind inzwischen international gefragte Künstler. Özgen | |
gelang 2016 der Durchbruch mit seinem Video „Wonderland“. | |
Darin erklärt der 13-jährige taubstumme Mohammed nur anhand von Gebärden, | |
wie seine Familie von Kämpfern des „Islamischen Staats“ ermordet wurde. | |
Tekin schaffte es mit seinen Bildern, das Trauma von Gewalt und Umbruch in | |
seiner Heimat zu übermitteln. | |
„Loading“ finanzieren die beiden aus eigener Tasche. Wie fast alle Künstler | |
in der Stadt arbeiten Özgen und Tekin im Hauptberuf als Lehrer. Auch ihre | |
Pässe wurden nach dem Ausnahmezustand 2017 vorübergehend eingezogen. Anders | |
als ihr berühmter Landsmann Şener Özmen, der Übervater der kurdischen | |
Gegenwartskunst, zog es die beiden aber nicht nach Istanbul, ins Kunstmekka | |
Berlin oder nach New York. | |
## „Hier gibt es nicht nur Straßenkampf“ | |
Mit „Loading“ wollen Özgen und Tekin ein Zeichen gegen Zensur und | |
Autokratie und die Auslöschung ihrer Kultur setzen. Dass Freunde in | |
Istanbul das als nationalistisch beargwöhnen, kümmert sie wenig. | |
„Diyarbakır ist ein Teil der Welt. Hier gibt es nicht nur Straßenkampf“, | |
erklären die beiden mit der Mischung aus Humor und Trotz, die für das | |
politische Klima in der Stadt charakteristisch ist. | |
Deshalb geht es ihnen weniger um Ausstellungen. Sie wollen einen Freiraum | |
für Diskussionen und neue Perspektiven öffnen, um die immer noch etwas | |
traditionelle Szene der Stadt an den Rest der Welt anzudocken. | |
Seit der Gründung haben sie dafür ein beachtliches Programm auf die Beine | |
gestellt. Gabi Ngcobo, eine Künstlerin aus Südafrika oder Ippolito | |
Lapparelli, der Kurator der letzten Manifesta, waren schon hier. Im | |
nächsten Frühjahr planen sie ein internationales Symposium zur | |
Gegenwartskunst. „Im Grunde hat die ganze Repression nur den Wunsch nach | |
unabhängigen Ausdrucksformen verstärkt“, versucht Programmkoordinatorin | |
Yasmin Imre die kurdische Dialektik zu erklären. | |
Die 25-jährige Kunsthistorikerin hat in Istanbul und Vancouver studiert. Im | |
Herbst beendet sie ihr Studium in Genf. Ihre Freunde konnten nicht | |
verstehen, warum sie für ein Jahr nach Diyarbakır ging. Aber das Jahr in | |
der Stadt will sie nicht missen. „Es ist dieses Gefühl von Gemeinschaft“, | |
erklärt die zierliche Intellektuelle das Charakteristikum der Szene, das | |
sie lieben gelernt hat. | |
## Vom Keramikkünstler zum Leiter der Kunstgalerie | |
Den schwierigen Neuanfang demonstriert auch Firat Erdoğan. Der | |
Keramikkünstler wurde nach dem Sieg der HDP bei den Kommunalwahlen Ende | |
März und dem Abzug der Staatsverwalter aus dem Rathaus gleichsam über Nacht | |
zum Leiter der städtischen Kunstgalerie gemacht. | |
Doch sein Vorgänger hatte die Sammlung des 2009 gegründeten Museums samt | |
Archiv und Katalogen mitgenommen. Angeblich, um sie vor den Islamisten in | |
Sicherheit zu bringen. Stolz und verzweifelt zugleich steht Erdoğan in der | |
leeren Ausstellungshalle in Diyarbakırs Sümer-Park. Die Wasserschäden sind | |
dem Bau noch anzusehen. Wo soll er zuerst anfangen? | |
„Ich habe sie immer dafür bewundert, wie schnell sie sich auf eine neue | |
Situation einstellen können“, antwortet Övgü Gökçe Yaşa auf die Frage | |
danach, wie Künstler in der Region mit der ewig explosiven Situation | |
umgehen. | |
Die Leiterin des Kunstzentrums sitzt in einem schmucklosen Büro an einer | |
lärmigen Einkaufsstraße von Diyarbakır. Manchmal wundert sich die | |
Filmkritikerin selbst darüber, dass sie in der Zweigstelle der von dem | |
(seit fast zwei Jahren inhaftierten) Istanbuler Kulturmäzen Osman Kavala | |
2002 gegründeten Stiftung Anadolu Kültür immer noch ungehindert arbeiten | |
kann. So wie sie hier unermüdlich kurdische Kultur vernetzt. | |
„Schauen Sie sich die Dokumentarfotografie an. Die ist ja nie verschwunden, | |
trotz der ganzen Repression“, sagt sie. Zwei ihrer Vertreter sind Bedran | |
Tekin und Kadri Kurt. „Wir wollten die Zerstörungen dokumentieren“, | |
erklären sie bei einem Tee auf dem „Loading“-Balkon die Ziele ihrer 2011 | |
gegründeten Initiative „WePhoto“. | |
## „Wer in Diyarbakır lebt, für den ist alles politisch“ | |
Dem skrupulösen Für und Wider in Sachen politischer Kunst, wie es am | |
Vorabend bei einer turbulenten Lecture in dem Art Space stattfand, können | |
sie nicht viel abgewinnen. „Wer in Diyarbakır lebt, für den ist alles | |
politisch“, erklären sie trocken die DNA der Kunstszene in der Stadt. | |
Den Schalmeienklängen des Istanbuler AKP-Kandidaten Binali Yıldırım, der | |
wenige Tage vor der Wahlwiederholung im Basar von Diyarbakır mit der | |
verbotenen Vokabel „Kurdistan“ um Unterstützung warb, können sie nichts | |
abgewinnen. „Wenn die CHP gewinnt, verlieren die Kurden, wenn die AKP | |
gewinnt, auch“, intonieren sie das in Jahrzehnten von Staatsterrorismus | |
gereifte, illusionslose Motto des türkischen Südostens. | |
Wie viel übermenschlicher Glaube zu ihren hartnäckigen Versuchen | |
kultureller Selbstbehauptung gehört, wird dem klar, der auf den alten | |
Festungsmauern Diyarbakırs steht. Von dort kann er in den mit einer roten | |
Stahlwand lückenlos abgeriegelten Teil der Altstadt sehen. | |
Fast 1.000 Gebäude zerstörte dort die türkische Armee, darunter die | |
berühmte Kurşunlu-Moschee und das Paşa-Hamam. An die Zeugnisse kurdischer | |
Geschichte, die die Unesco 2015 zum Weltkulturerbe erklärt hatte, erinnert | |
auf dem zehn Hektar großen Gelände nicht mehr ein Stein. Jetzt werden dort | |
aus grauem Beton Luxusbungalows gebaut. Auch so eine Art „Normalizasyon“. | |
22 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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