# taz.de -- Liederdemo in Hitzacker: Singen bleibt straffrei | |
> Politiker und Medien überboten sich nach einer Liederdemo vor dem Haus | |
> eines Polizisten mit Gewaltvorwürfen. Nun werden die Ermittlungen | |
> eingestellt. | |
Bild: Auslöser der Liederdemo war dieser Polizeieinsatz am Gasthof Meuchefitz … | |
Göttingen taz | Die Aufregung war groß. Nach einer Demonstration von | |
Atomkraftgegnern vor dem Haus eines Polizeibeamten in Hitzacker am 18. Mai | |
des vergangenen Jahres überschlugen sich Medien und Politiker mit | |
Gewaltvorwürfen. Im Anschluss an eine friedliche Demonstration in Gorleben | |
im Rahmen der „Kulturellen Landpartie“ waren 60 bis 70 Personen, darunter | |
auch Straßenmusiker, am fraglichen Abend ins 30 Kilometer entfernte | |
Hitzacker gezogen. | |
Vor dem Haus des Polizisten Olaf H. hissten die Demonstranten eine Fahne | |
mit dem Emblem der syrisch-kurdischen Miliz YPG, andere befestigten am | |
Carport prokurdische Flaggen. Gleichzeitig wurden Sprechchöre und Lieder | |
angestimmt. Im Gebäude befanden sich zu diesem Zeitpunkt seine Frau und die | |
Kinder des Paares. H. selbst war in Gorleben eingesetzt | |
H. gehört zur Staatsschutzabteilung der Polizei Lüneburg. Der | |
„übermotivierte“ Beamte habe seit Monaten linke Projekte malträtiert, | |
begründeten Aktivisten damals die Demo. Und er sei auch an einem Einsatz im | |
Februar 2018 im wendländischen Gasthof Meuchefitz beteiligt gewesen, als | |
eine teils mit Maschinenpistolen bewaffnete Hundertschaft ein | |
YPG-Transparent von der Kneipenfassade entfernte. Daraufhin | |
veröffentlichten linksradikale Internetforen H.s Namen und seine Adresse. | |
Nach dem Absingen von zwei oder drei Liedern zogen sich die Demonstranten | |
zurück – und gerieten kurz darauf an einem Bahnübergang mit | |
zwischenzeitlich aus Gorleben abgezogenen Polizisten aneinander. Die | |
Beamten hätten ohne Vorwarnung auf die Menschen eingeschlagen, schilderten | |
Beteiligte den Angriff. Von den Polizisten sei nur H. unvermummt gewesen, | |
er „trat in Rage auf am Boden liegende Personen ein“. Mehrere Menschen | |
seien verletzt, andere teils mit Kabelbindern gefesselt bis in die | |
Morgenstunden in einem Polizeikessel festgehalten worden. | |
Die Polizei sprach lediglich von „Handgreiflichkeiten und | |
Widerstandshandlungen“ und meldete vier leicht verletzte Personen. In den | |
Mittelpunkt ihrer noch in der Nacht verschickten Pressemitteilung stellte | |
die Polizeiinspektion Lüneburg aber die Protestaktion am Haus von H. Dort | |
habe es eine „neue Qualität der Gewalt gegenüber der Polizei“ gegeben: | |
„Durch lautstarke Stimmungsmache, Anbringen von Bannern und ihre Vermummung | |
versuchten die Personen die allein anwesende Familie des Polizeibeamten | |
einzuschüchtern.“ | |
„60 Vermummte stürmen Privatgrundstück eines Polizisten“, schlagzeilte | |
daraufhin die Welt. In der Bild-Zeitung hieß es: „Die Krawallmacher wollten | |
den Polizisten und seine Familie einschüchtern – eine neue Dimension der | |
Gewalt!“ Bebildert waren Medienberichte teils mit Archivfotos vermummter | |
und Steine werfender „Chaoten“. | |
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) war mit einem Urteil schnell zur | |
Stelle. „Wenn nun aber Polizeibeamte und ihre Familien zu Hause angegriffen | |
werden, ist eine neue Dimension von Gewalt erreicht“, sagte er. „Menschen, | |
die Gewalt gegen Polizisten und ihre Familien verüben, sind keine | |
Aktivisten, sondern Straftäter.“ | |
Amtskollege Boris Pistorius aus Niedersachsen (SPD) wollte nicht | |
zurückstehen: „Ich bin absolut davon entsetzt. Das ist eine unfassbare | |
Grenzüberschreitung“, schrieb er bei Facebook. Und Annegret | |
Kramp-Karrenbauer, seinerzeit noch Generalsekretärin der CDU, befand, der | |
Rechtsstaat dürfe sich das Einschüchtern und Schikanieren von Polizisten | |
nicht bieten lassen. | |
Gegen 64 mutmaßlich Beteiligte am Singsang wurden Ermittlungsverfahren | |
eingeleitet – unter anderem wegen Land- und Hausfriedensbruch, | |
Sachbeschädigung, Widerstand und versuchter Nötigung. | |
Monatelang ermittelte die Lüneburger Staatsanwaltschaft. Ergebnis: Die | |
Vorwürfe sind haltlos. Alle Verfahren seien eingestellt, sagte | |
Behördensprecherin Wiebke Bethke der taz. Wegen einer anhängigen Beschwerde | |
des Polizisten ist der Fall aber noch nicht formell abgeschlossen. | |
## Friedliche Zusammenkunft | |
In einem internen Vermerk der Staatsanwaltschaft, aus dem die lokale | |
Elbe-Jeetzel-Zeitung zitierte, heißt es, die Anfangsverdächtigungen hätten | |
sich „nicht zu einem hinreichenden Tatverdacht verdichtet“. So seien die | |
lauten Tackerschläge beim Anbringen der Wimpel an dem Carport keine | |
Gewalttätigkeit gegen Sachen oder eine Bedrohung von Menschen. Zudem sei | |
fraglich, ob die „Substanzverletzung“ am Carport überhaupt die | |
Erheblichkeitsgrenze für eine Sachbeschädigung überschritten habe. | |
Überhaupt sei die Zusammenkunft am Haus des Polizisten offensichtlich | |
friedlich verlaufen, „so dass es an einem nach außen erkennbar | |
friedensstörenden, also gewaltbereiten Willen“ gefehlt habe. Der Tatbestand | |
des Hausfriedensbruchs greife nicht, weil das Grundstück frei zugänglich | |
gewesen sei. | |
Den Betroffenen reicht eine Verfahrenseinstellung nicht aus. Sie fordern | |
nun eine Entschuldigung der Innenminister. „Erst hat uns die Polizei | |
verprügelt und dann wurden wir auch noch von Politikern und Medien | |
verleumdet“, sagt Sabine F., eine der an der Singdemonstration Beteiligten. | |
18 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
## TAGS | |
YPG | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Versammlungsfreiheit | |
Hitzacker | |
Gorleben | |
Schwerpunkt Atomkraft | |
Wendland | |
Niedersachsen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wendland-Aktivist zur Aktion in Hitzacker: „Es geht hier um Stimmungsmache“ | |
Sechzig Autonome haben das Grundstück eines Polizisten gestürmt? Ganz und | |
gar nicht, sagt der 74-jährige Hans-Erich Sauerteig, der auch dabei war. | |
Aktion gegen Polizisten in Niedersachsen: Brutales Ende eines Protests | |
Die Polizei berichtet von 60 Vermummten vor dem Haus eines Beamten. Die | |
Aktivisten sprechen von einem Straßenkonzert und unangemessene | |
Polizeigewalt. |