| # taz.de -- Kolumne Sternenflimmern: Hybris der Überlegenheit | |
| > Zwei Menschen haben Schuld an Europas Hang zum Überdramatischen: | |
| > Motherfucker Ödipus und Psychobilly-Priester Johannes von Patmos. | |
| Bild: Die Geschichte Europas war meist deutlich krasser als heute | |
| Eine Kröte überquert eine Straße und ich frage mich, warum nur, warum nur | |
| bewegt sie sich so unendlich schleichend langsam? Mein Magen schlägt an vor | |
| Sorge um das Schicksal des armen Tieres, ich hetze aber weiter und morgen, | |
| ja morgen habe ich die Kröte vergessen. Die gleichen Gefühle durchlebe ich | |
| bei einer Europawahl. | |
| Diese Angst um die Kröte. Frans Timmermans, Manfred Weber, Emmanuel Macron, | |
| Christian Lindner, Andrea Nahles, Dietmar Bartsch, Sandra Maischberger und | |
| nur Zeus weiß, wer sonst noch, behandeln Europa wie eine Gelbbauchunke. | |
| [1][Alle sprechen irgendwie von Schicksalswahl], weil Rechtspopulisten das | |
| Tierchen zu überrollen drohen. Schrecklich, diese sprachliche Unschärfe! | |
| Ein Schicksal ist von Göttern, Demoskopen oder Märkten vorherbestimmt, man | |
| müsste zu einer Schicksalswahl also gar nicht mehr gehen. | |
| Im November 1632 starben nahe Leipzig der Schwedenkönig Gustav II. Adolf | |
| und Graf Pappenheim, General der Katholiken. In einer Schlacht an einem | |
| Tag. Das ist, als würden Donald Trump und Kim Jong Un beim Handshake | |
| gleichzeitig an ein und derselben Salzbrezel ersticken. Will damit sagen: | |
| Die Geschichte Europas war meist deutlich krasser als heute. Relax. | |
| Maßgeblich zwei Menschen tragen Schuld am Hang Europas zum | |
| Überdramatischen: der Motherfucker Ödipus und der Psychobilly-Priester | |
| Johannes von Patmos. Seit dem griechischen Drama geht keine Erzählung mehr | |
| ohne – nun, griechisches Drama eben. Seit der Offenbarung nichts mehr, ohne | |
| ein schicksalhaftes Weben des Weltgeistes zu wittern, das zum Ende der | |
| Geschichte führt. | |
| Die ganzen Humanisten sind von dem Erlösungs-Trip bis heute nicht mehr | |
| runtergekommen: Marx, Hegel, Beckenbauer („Deutsche Nationalmannschaft auf | |
| ewig unschlagbar“, oder so). Das bestätigt auch ein Büchlein, das ich vor | |
| einigen Jahren bei einer jungen Liberalen aus dem Bücherregal geklaut habe: | |
| Peter Sloterdijks „Falls Europa erwacht“ von 1994 (schön kurze Klolektüre, | |
| nach der man behaupten kann, Sloterdijk gelesen zu haben). | |
| Ich habe jedenfalls Sloterdijk gelesen, es ist die Grundlage zum | |
| Verständnis konservativer Europaträume: „In Europas letzter | |
| Reichsübersetzung [seit den Römern] muss daher seine Absage an die | |
| Menschenverachtung, die allen Imperialismen innewohnt, politische Gestalt | |
| annehmen“, schreibt Sloterdijk. Europa habe der Menschheit „die Ganzheit | |
| des Menschengeschlechts“ vor Augen geführt. Das ist der moderne Mythos, den | |
| sich die EU gern erzählt. | |
| [2][Europa hat aus seiner Geschichte gelernt], diese Hybris der eigenen | |
| Überlegenheit hat ja zu verdammt viel Leid geführt. Aber auf eines bestehen | |
| wir dann doch: die Überlegenheit der eigenen Geistesgeschichte. Europa | |
| schenkte den Menschen die Idee der Menschlichkeit. | |
| Erst jahrhundertelang andere Zivilisationen ausrotten und unterjochen und | |
| sich heute hinstellen und sagen: Dampfmaschine und Menschenrechte, das | |
| konnten wirklich nur wir erfinden. Das ist die große historische Heuchelei | |
| Europas. Daran denke ich, wenn ich „Schicksalswahl“ höre: die vielen, denen | |
| Europa keine Wahl ließ und lässt. | |
| 26 May 2019 | |
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