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# taz.de -- „Oceane“ an der Deutschen Oper in Berlin: Fontanes letzte Oper
> Eine neue Wasserfrau entstieg den Fluten: „Oceane“ von Detlev Glanert und
> Hans-Ulrich Treichel, inszeniert von Robert Carsen.
Bild: Maria Bengtsson, die große schwedische Sopranistin als Oceane
Sie sind sehr alt, die Melusinen, Undinen und Rusalkas, die es in die Welt
der Oper geschafft haben. Aus dem Mittelalter kommen sie alle, und aus dem
Wasser vor allem, dem Stoff lustvoller Träume. Bis heute geistern sie herum
in zahllosen Werken großer und weniger großer Dichter und auch die Musiker
sind kaum zu zählen, die sich davon begeistern ließen. Sie reichen von
Antonin Dvorak über Hans-Werner Henze bis zur Rockband „Genesis“.
Am Sonntagabend ist in Berlin eine neue Wasserfrau aus den Fluten
gestiegen. Sie heißt „Oceane“ und ist nur der Ewigkeit des Vergessens
entrissen worden, weil im märkischen Sand gerade überall der 200.
Geburtstag von Theodor Fontane gefeiert wird. Natürlich war auch er ein
Freund tiefer Gewässer, wie sein Roman „Der Stechlin“ beweist. Aber er
wollte mehr. Auf das Jahr 1882 lässt sich die handschriftliche Skizze einer
Novelle datieren. Sie sollte den Titel „Oceane von Parceval“ tragen,
offenbar um an die mittelalterlichen Quellen zu erinnern.
Fontane selbst hat seine Idee nie ausgeführt, aber der Germanist und
Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel griff sie auf und entwickelte aus dem
Fragment einen überaus wirkungsvollen Text im Geiste des großen Realisten.
Es ging in seinem Entwurf nie um die Romantik der Nixen aus einem
idealisierten Mittelalter, sondern immer nur um ein möglichst genaues Bild
der gutbürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit.
## Der Sommer ist zu Ende und das Hotel pleite
Der Schauplatz ist die Terrasse eines Strandhotels an der Ostsee. Der
Regisseur und Bühnenbildner Robert Carsen lässt im Videobild graue Wolken
über graue Wellen ziehen. Der Sommer ist zu Ende, das Hotel pleite. Die
großartige Sopranistin Doris Soffel träumt in französisch von Paris, aber
als Hotelbesitzerin Luise kann sie auch Bilanzen lesen.
Aus der Traum, Geld muss her. Trotzdem wird gefeiert mit einem Buffet, das
unter anderem „Wurmschwänze“ zu bieten hat. Die Sommergäste lassen es sich
gefallen. Im gepflegten Anzug treten auf der Tenor Nikolai Schukoff als
Baron Martin von Dirksen, der Bariton Christoph Pohl als Studienrat Dr.
Albert Felgentreu und der Bass Albert Pesendorfer als Pastor Baltzer.
Biedermänner sind sie alle und es gibt ihnen zu denken, wer da noch im
Hotel zu wohnen scheint, wie man hört. Vor allem der Pfarrer warnt vor
gottlosen Sünden. Eine Frau ist eingezogen, das Dorfmädchen Kristine hat in
ihrem Zimmer überall Steine glitzern sehen. Madame Luise sieht die Rettung
nahen, und bittet die Gäste um wohlwollenden Empfang der reichen Dame.
Maria Bengtsson, die große schwedische Sängerin, betritt die
Strandterrasse. Alle weichen zurück. Es ist eine Fremde, kühl und stumm.
## Fontanes Gedankenexperiment
Das ist originärer Fontane, nämlich ein scharfsinnig zu Ende gedachtes
Gedankenexperiment. Mal angenommen, es gäbe Naturgeister, die aus dem
Wasser steigen, um mit Menschen umzugehen. Was geschähe dann tatsächlich?
Genau das, was Treichel zeigt. Der behütete Anstand der besseren
Gesellschaft zerfällt zur Lächerlichkeit. Der Baron verliebt sich sofort in
die Schöne, möchte Kinder und Hof mit ihr teilen. Der Pfarrer betet. Sie
beginnt zu tanzen, wild und frei. Dann rennt sie weg. Skandal.
Am anderen Morgen liegt der Leichnam eines jungen Fischers am Strand, Opfer
eines nächtlichen Sturmes. Wehklagen und Trauergottesdienst, Maria
Bengtsson singt für sich alleine. Der Tod ist Natur wie sie selbst, der
Sand, die Algen. Später küsst sie den Baron, der sofort die Hochzeit
verkündet. Aber die Braut schweigt. Dieser Gesellschaft hat sie nichts zu
sagen. Sie spricht wieder nur zu sich selbst und Treichel entwickelt daraus
ein beeindruckendes Stück moderner Naturphilosophie.
Eine sehr ernst zu nehmende Strömung der Wissenschaftstheorie nimmt an,
dass selbst Atome beseelt sein müssen, weil anders der leidige Dualismus
von Materie und Geist nicht zu überwinden sei. Eine wüste Spekulation, aber
sie hat in Fontane einen Vorläufer. Seine Oceane hat Sehnsucht nach
Menschen. Sie versteht sie sehr gut, lernt aber auch, dass ihr Glück anders
ist.
## Erfahrener Komponist erfolgreicher Opern
Ihr Glück ist das Glück eines Steines, singt sie und sagt damit zugleich,
dass die Sommergäste das nicht verstehen, weil sie glauben, mehr als Natur
zu sein. Das ist weder tragisch noch psychologisch einfühlsam, nur genau
und mit gedanklicher Tiefe beobachtet.
Detlev Glanert hat versucht, daraus so etwas wie Fontanes einzige und
letzte Oper zu schreiben. Er hat viel Erfahrung als Komponist erfolgreicher
Opern und möchte die Größe und Weite dieser Gedankenwelt in möglichst
reizvolle, farbige Klänge übersetzen. Harte Kontraste zwischen
Meeresrauschen und Tanzkapelle gelingen ihm gut, die langen Selbstgespräche
der Oceane jedoch fallen ihm schwer.
Er hat den sprechenden Namen mit einem sechs Takte langen, klagenden
Leitmotiv unterlegt. Es kehrt immer wieder und es geschieht immer dasselbe.
Die Melodie wird aufgebläht mit voller Orchesterbesetzung, es wird alles
laut und so fett, dass selbst eine Maria Bengtsson nur noch schreien kann.
Das ist sowieso nicht schön und außerdem falsch, weil sie eigentlich still
meditieren sollte. So bleibt es bei einer bloß konventionellen Illustration
von Ideen, die viel moderner sind, als die Musik, die dazu gespielt wird.
29 Apr 2019
## AUTOREN
Niklaus Hablützel
## TAGS
Deutsche Oper
Theodor Fontane
Detlev Glanert
Komische Oper Berlin
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Staatsoper Unter den Linden
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