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# taz.de -- Die Wahrheit: Richtig richten
> Verfemen, ohne sich zu schämen: Neue Wege der Gerichtsbarkeit, gelernt
> aus alten Zeiten, entwickelt von revolutionären Jungreferendaren.
Bild: Der moderne Demohenker wendet sich gegen zu tiefe Einschnitte
In den rechtlosen Zeiten des Mittelalters entstanden die mittlerweile fast
vergessenen Femegerichte. Diese galten als Schrecken der Übeltäter und als
Ärger der Anwälte, denn der Angeklagte musste ohne trickreiche Verteidiger
auskommen und er konnte nicht auf eine Revision hoffen. Bei einem
Schuldspruch wurde das Urteil sofort vollstreckt. Das zeigten schon Strick
und Schwert auf dem Tisch der Schöffen an, die die „Wissenden“ genannt
wurden. Damals mussten die Schöffen noch selbst Hand anlegen beim Vollzug
der Strafe. Die Todesstrafe wurde sofort, unverzüglich vom jüngsten
Schöffen vollzogen.
Doch dazu musste der Angeklagte erst einmal vor Gericht erscheinen. Hatte
er sich auf seiner Raubritterburg verkrochen, bekam er einen Ladebrief mit
sieben Siegeln, den der Fronbote persönlich zustellen musste. War die Burg
geschlossen, hieb der wütende Bote drei Späne aus dem Tor und steckte den
Ladungsbrief in die Kerbe. So viel Engagement wünschte man sich heute
manchmal vom Briefzusteller.
Einen derart zugestellten Brief nannte man übrigens deshalb Steckbrief. Der
Bote schlug anschließend dreimal gegen das Tor, und der Brief galt als
amtlich zugestellt. Erschien der Angeklagte auch nach dreimaliger Ladung
nicht, galt er nach einer Frist von sechs Wochen und drei Tagen als
„verfemt“. Sein Name wurde in das Blutbuch geschrieben, und er musste
aufpassen, wenn er im Baumarkt eine neue Tür kaufen wollte, denn er wurde
nunmehr von allen Schöffen der Gegend verfolgt.
## Baumärkte meiden
Diese durften das Urteil nicht verraten, hatten aber die Pflicht, den
Verfemten niederzustrecken, wenn sie ihn trafen, doch mussten die
Freischöffen zu dreien sein. Der Verfemte sollte fortan also besser
Baumärkte und Bordelle meiden. Zum Zeichen, dass einer durch die Feme
umkam, ließ man ihm die Wertsachen und steckte am Tatort ein Messer in den
Boden.
Solch ein direkter Strafvollzug ist selbstverständlich heutzutage verpönt
und verfemt, doch denkt man in Zeiten von direkter Demokratie über neue
Formen der Gerichtsbarkeit nach, die abschrecken, ohne direkt zu verletzen.
Eine Gruppe von revolutionären Referendaren schlug nun vor, anstelle der
alten Femegerichte moderne Hämegerichte zu installieren.
Dem Hämegericht soll ein feixendes Dreigespann mit Karnevalistenhintergrund
vorsitzen, das dem Angeklagten von der Kanzel tüchtig einheizt. Den derben
Richtern sollen eigens ausgesuchte Schmähschöffen zur Seite stehen, die den
Angeklagten systematisch verunglimpfen und kübelweise Häme wie Spott über
ihn ausschütten.
## Beruf zweifelhaft
Die Spötter sollen auch die Eltern nicht aussparen und speziell auf den
zweifelhaften Beruf der Mutter hinweisen. Auch die restliche Familie ist
kräftig zu schmähen und herabzusetzen, und natürlich wird die sexuelle
Orientierung des Angeklagten unbefangen problematisiert. Beim munteren
Schmähen verstecken die pöbelnden Schöffen ihr Gesicht hinter Ordnern mit
selbstgefertigten Strichzeichnungen, sehr zur Belustigung der feixenden
Pflichtanwälte, die bei jeder Gelegenheit die Anwälte des Angeklagten
ausbuhen und auspfeifen.
Die Presse ist gern zugelassen und verbreitet gut gelaunt die Schmähungen
des hämenden Pöbels auf der Schöffenbank gewissenhaft im ganzen Land. Der
lächerliche Ange-klagte wird mit Klarnamen, Adresse und Autoabstellpunkt
genannt, die ganze Verhandlung ist also ein großer Spaß für die meisten
Beteiligten.
Die Hämeanwälte sind dazu angehalten, mit nicht enden wollenden
Befangenheitsanträgen das Verfahren in die Länge zu ziehen. Und wenn es
richtig gut läuft, dann dauert so eine Hämegerichtsverhandlung verdammt
lange, nämlich lebenslang.
Insgesamt ist so ein Hämegericht ein schönes Gedankenspiel der
Jungreferendare, aber leider zu realitätsfern, um verwirklicht zu werden,
denn woher sollen bitte schön die Hämegerichte all das pöbelnde Pack und
die hämischen Hasser für eine schöne Gerichtsverhandlung herbekommen? Doch
nicht etwa aus dem Internet und den sozialen Medien? Da sei der
Großinquisitor vor! Aber das ist eine andere Rechtsgeschichte aus dem
schönen neuen Mittelalter.
8 May 2019
## AUTOREN
Kriki
## TAGS
Justiz
Henker
Neues Recht
Garten
Hass
Coffee to go
Fett
Gehirn
Stalking
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