| # taz.de -- Kolumne Sternenflimmern: Europa, ich kann dich nicht fühlen | |
| > Wenn unsere Autorin an Europa denkt, dann fühlt sie nichts. Das ist ein | |
| > Problem – denn das „Projekt Europa“ braucht dringend mehr Gefühl. | |
| Bild: Europa muss man nicht lieben wie einen Staat – aber ein bisschen mehr f… | |
| Wenn ich an Europa denke, fühle ich nichts. Jedenfalls nicht genug und | |
| deshalb habe ich ein schlechtes Gewissen. Das ist fast wie eine Beichte, | |
| denn für Europa nichts zu fühlen, das geht ja mal gar nicht. Die Schuld für | |
| meine Emotionslosigkeit gebe ich selbstverständlich der Politik, wem sonst. | |
| Denn die Slogans auf den Wahlplakaten europafreundlicher Parteien klingen | |
| nun mal alle gleich, und alle nennen Europa ständig ein „Projekt“, als | |
| säßen sie zum Lunch in einem namenlosen Café in Nord-Neukölln. Dass Sprüche | |
| wie „Wirtschaft stärken und Umwelt schützen“ nicht direkt ins Herz zielen, | |
| wissen sogar die Spatzen, die auf der Wahlplakatkante hocken und ab und zu | |
| auf die bunte Pappe herunterkacken. Überall stets diese Sachlichkeit. Was | |
| fehlt, sind echte Gefühle. | |
| Und damit meine ich kein Storytelling aus Marketingzwecken. Ich meine auch | |
| keine patriotische Liebe, so wie manch eine irre Seele gern heute noch von | |
| „Vaterlandsliebe“ träumt. Europa ist die Gegenerzählung des Nationalstaats | |
| und muss bitte, bitte nicht dessen Fehler wiederholen. Was mich stört, ist | |
| dieser muffige Pragmatismus, der meine Beziehung zu Europa prägt. Klar, | |
| Europa ist mir wichtig – aber eher aus Prinzip als aus Zuneigung. Jetzt, | |
| kurz vor den anstehenden Wahlen zum EU-Parlament, markiere ich mir den 26. | |
| Mai im Kalender und fühle: nichts. Zumindest nichts Richtiges, keine deep | |
| feelings. Europa ist eine Kopfentscheidung, in meinem restlichen Körper tut | |
| sich nichts. Nur warum? | |
| Diese Leere fühlt sich falsch an, diese Kühle tut mir leid. Europa, ich | |
| habe heute leider keine Gefühle für dich. Ich nehme dich trotzdem in den | |
| Arm, Küsschen links, Küsschen rechts, ich gehe natürlich trotzdem zur Wahl, | |
| darum geht es nicht (siehe Prinzipien). Vielleicht weinst du ein bisschen, | |
| weil du nicht verstehst, wieso. Ich kann nicht weinen (keine Gefühle), | |
| verstehe das aber auch nicht ganz. Eigentlich bin ich sehr gut mit | |
| Gefühlen. Wenn ich danach krame, finde ich immer irgendwas – Neid, Trauer, | |
| Überforderung. Dann bin ich erleichtert, denn wer fühlt, ist bekanntlich am | |
| Leben. Aber unsere Beziehung, Europa, die ist pragmatisch-vernünftig und | |
| das macht mir Sorgen. Wenn ich nichts für uns fühle, sind wir dann tot? | |
| Eine Blitzumfrage unter Freund*innen und Bekannten kommt zu ähnlichen | |
| Ergebnissen. Viele sagen „es ist ist kompliziert“, andere haben „komplexe | |
| Gefühle mit positivem Unterton“, manche finden eher so „muss ja“. Fast a… | |
| sind dankbar, für Frieden, Vielfalt, Sicherheit – zu Recht. Aber ich | |
| brauche mehr als Pflichtgefühl und Dankbarkeit. Beides reicht nicht für | |
| eine gute Partnerschaft. „Ich bleibe bei dir, weil du mich brauchst“, | |
| entzündet keine Begeisterung, doch die hat dieses abstrakte „Projekt | |
| Europa“ bitter nötig. Wo finde ich die also? In Begegnungen vielleicht, | |
| fern vom parlamentarischen Business-Lunch. | |
| ## Weniger Wahlplakate, mehr Feuerleiter-Sex | |
| Letztes Jahr im Sommer erzählte mir ein schottischer Schäfer über einem | |
| großen Teller Erbsen, Pie und Pommes aus seinem Leben. Das war rührend und | |
| irgendwie nah. Ein paar Jahre zuvor schaute ich neben vielen anderen am | |
| Hafen von Lissabon auf den Atlantik und das fühlte sich nach anonymer | |
| Gemeinschaft an. Und noch etwas früher nahm ich den Nachtbus nach Brüssel, | |
| und der Typ neben mir rückte ständig zu nah an mich ran – da waren immerhin | |
| Wut und Ekel. | |
| Von solchen Momenten berichten meine Bekannten dann auch: Ein unverhofft | |
| gutes Gespräch im TGV Richtung Marseille. Wunderbares Fischessen im | |
| Fahrradurlaub mit der besten Freundin in Kroatien. Erasmus-Abenteuer, die | |
| nach Limoncello und Tabak schmecken. Und spontaner Sex auf einer spanischen | |
| Feuerleiter (frag mich nicht, wie). | |
| Also doch, Europa, sind da endlich ein paar Funken? Ein bisschen Zufall, | |
| Rausch, Überraschung und Lust – die Gegenerzählung zum Pflichtgefühl? | |
| Vielleicht deep feelings und auf jeden Fall Ideen für bessere Wahlplakate. | |
| Also weine nicht, Europa, da muss irgendwo mehr sein. Ich krame noch ein | |
| bisschen, übe mich im Drehen von Zigaretten und fahre mit dem TGV in | |
| Richtung Spanien. | |
| 6 May 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Lin Hierse | |
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