# taz.de -- Mossul nach der IS-Herrschaft: In Sippenhaft | |
> Sein Vater und vier Brüder waren bei der Terrormiliz Islamischer Staat. | |
> Der Iraker Khaled al-Madani fürchtet deshalb um sein Leben. | |
Bild: Mossul 2018: Weite Teile der Altstadt sind immer noch zerstört | |
Mossul taz An jenem Frühlingstag wollte Khaled al-Madani nur kurz zum | |
Markt. Dann merkte er, wie der Taxifahrer immer wieder verstohlen zu ihm | |
hinüberschaute. Ob er das sei, habe der Fahrer gefragt. Und er, al-Madani, | |
sei stutzig geworden. Denn die Wahrheit über ihn und seine Geschichte | |
könnte ihn in Gefahr bringen. | |
So erzählte al-Madani es mir einige Wochen später bei einem unserer Treffen | |
in Mossul. Dort habe ich al-Madani vor knapp einem Jahr kennengelernt – | |
sein Freund Aziz Bashir, ein Journalismusstudent an der Universität Mossul, | |
der in dieser Geschichte noch eine Rolle spielen wird, hatte mir von ihm | |
erzählt. | |
Danach haben al-Madani und ich uns über ein halbes Jahr mehrmals getroffen, | |
immer wenn ich in Mossul war. Er erzählte mir aus seinem Leben: Wie er in | |
einer radikal-islamischen Familie aufgewachsen ist, wie er unter seinem | |
dogmatischen und jähzornigen Vater gelitten hat. Wie sich seine Brüder nach | |
dem Sturz Saddam Husseins durch die Amerikaner 2003 radikalisierten und wie | |
bereitwillig sie sich dem IS anschlossen, als dieser im Sommer 2014 die | |
nordirakische Großstadt Mossul überrannte. | |
Wie er, der selber nie radikal war, versuchte, sie davon abzuhalten. Und | |
wie er heute den Preis für ihre Verbrechen bezahlt. Denn viele Bewohner | |
Mossuls wollen nicht nur die Täter bestrafen, sondern auch ihre Familien. | |
## Jeder ist verdächtigt | |
Seit die irakische Armee Mossul im Sommer 2017 vom „Islamischen Staat“ (IS) | |
befreit hat, ist jeder verdächtig, der auch nur entfernt in Verbindung mit | |
der Terrormiliz steht. Und al-Madani, mit seinen vier Brüdern, die sich ihr | |
angeschlossen hatten, ist besonders verdächtig. | |
Seine Geschichte erzählt viel darüber, auf welche Weise der Irak die | |
vergangenen Jahre aufarbeitet. Leute melden ihre Nachbarn den Behörden. | |
Gerichte verurteilen mutmaßliche IS-Mitglieder im Schnellverfahren zu | |
lebenslanger Haft oder zum Tod, ohne ihre Schuld wirklich zu prüfen. Witwen | |
und Kinder toter oder zumindest tot geglaubter IS-Kämpfer werden von der | |
Gesellschaft ausgegrenzt, viele sitzen in Lagern fest und werden nicht in | |
ihre Dörfer zurückgelassen. | |
Wer wiederum Geld oder die richtigen Beziehungen hat, kann sich vor einer | |
Strafverfolgung retten. Die Gesellschaft schwankt zwischen Hass auf die | |
Verbrecher vom IS und der Angst, selber mit den Tätern in Verbindung | |
gebracht zu werden. In dieser Gemengelage muss auch Khaled al-Madani | |
fürchten, für die Verbrechen seiner Brüder zur Rechenschaft gezogen zu | |
werden. | |
Khaled al-Madani und alle anderen Personen in diesem Artikel heißen in | |
Wirklichkeit anders. Ihre richtigen Namen zu erwähnen, könnte sie in Gefahr | |
bringen. Die Extremisten könnten Khaled al-Madani als Verräter sehen, der | |
sie entlarvt. Für andere wiederum – für den Staat ebenso wie für jene | |
Bewohner Mossuls, die den IS ablehnen – wäre seine familiäre Nähe zu | |
IS-Mitgliedern entweder Rechtfertigung genug, um ihn dafür bezahlen zu | |
lassen. Oder um ihm gar nicht erst zu glauben. Auch wenn sich al-Madani die | |
meiste Zeit seines Lebens gegen den Radikalismus in seiner Familie zur Wehr | |
setzte. | |
## Wer ist Freund, wer Feind? | |
Er selber ist dadurch umso misstrauischer. Woher kannte der Taxifahrer | |
seinen Namen, fragte er bei jener Fahrt im Frühling 2018 denn auch sofort. | |
Dieser antwortete, dass er ein alter Freund seines Vaters sei. Und dass er | |
al-Madani zu seinen untergetauchten Eltern bringen könnte. | |
Diese Szene, die al-Madani erzählt, ist so filmreif, dass sie ausgedacht | |
wirkt. Überprüfen lässt sie sich nicht – doch viele andere Details seiner | |
Geschichte kann al-Madani belegen, oder sie werden durch Leute bestätigt, | |
die ihn schon lange kennen: Sein Freund Aziz Bashir, der aus demselben | |
Viertel stammt wie al-Madani. Der Imam der lokalen Moschee. Und sein | |
Nachbar Ali Mahmoud, dessen Bruder vom IS ermordet wurde – und der | |
al-Madani dennoch nicht für die Verbrechen anderer verurteilt. | |
Juli 2018, ein Einkaufszentrum im Universitätsviertel der Stadt. Al-Madani | |
sitzt auf den Fliesen und kramt einen Wasserkocher hervor. Der winzige Raum | |
war wohl eher als Abstellkammer gedacht, als dass jemand hier dauerhaft | |
lebt. Eine zusammengefaltete Decke nimmt die Hälfte der Fläche ein. | |
Khaled al-Madani hat hier einen Job als Hausmeister gefunden. Er sei ganz | |
zufrieden damit, sagt er, immerhin lassen ihn die Ladenbesitzer mit Fragen | |
in Ruhe, solange der Boden gefegt ist. Nur manchmal würden sie sich | |
wundern, warum der ledige Mann nicht bei seinen Eltern lebt, wie es sonst | |
in der Region üblich ist. Al-Madani sagt dann, dass er sich mit ihnen nicht | |
so gut versteht. | |
## Zwei Brüder tot, einer verschollen | |
Was er nicht erzählt: wie er die Leiche seines jüngeren Bruders Qusay | |
begraben hat, als sie vom Schlachtfeld zurückgebracht wurde. Dass Younes | |
sich mit einem Lastwagen in die Luft gesprengt hat, zumindest wenn das | |
Video echt ist, das al-Madani davon im Netz fand. Darin sieht man, wie ein | |
IS-Kämpfer, von dem al-Madani überzeugt ist, es sei sein Bruder, in einen | |
Lastwagen einsteigt, und dann von Weitem wie der Lastwagen in die Luft | |
fliegt. Er erzählt nicht, dass Hassan jetzt in der Türkei lebt, reuig und | |
unbehelligt, dass Abdulaziz und die Eltern bis vor Kurzem verschollen | |
waren. | |
Und er verschweigt, dass die Armee ihr Haus konfisziert hat und jetzt ein | |
Mitglied einer lokalen Miliz darin wohnt. Er sagt: „Ich lebe zwar mitten in | |
der Gesellschaft. Aber ich fühle mich wie in Einzelhaft.“ | |
Al-Madani, 41 Jahre alt, ist kräftig gebaut, meistens trägt er ein Hemd, | |
das sich über seinem Brustkorb spannt, und Jeans. Sein Rücken ist stets | |
kerzengerade, eine gute Haltung ist ihm ebenso wichtig wie eine gesunde | |
Ernährung, seit er angefangen hat, Yoga zu machen. Sein Gesicht ist | |
glattrasiert. Er glaubt nicht nur an Gott, sondern auch an die heilende | |
Kraft von Energien im Universum – was dem IS schon reichen würde, um ihn | |
als Ungläubigen zu verfolgen. | |
Sein Vater sei schon zu Saddam Husseins Zeiten ein Anhänger des saudischen | |
Wahhabismus gewesen, dieser rigiden Auslegung des Islams, aus welcher der | |
IS später seine mörderische Ideologie destillierte, erzählt al-Madani. Er | |
trug, streng den Aussprüchen des Propheten Mohammed folgend, stets einen | |
langen Bart und die Hosenbeine endeten über dem Knöchel. Genauso, wie es | |
der IS später auch vorschreiben würde. Sein Sohn Khaled konnte damit nichts | |
anfangen. | |
## Erst Schläge, dann Yoga | |
Khaled al-Madani war 13, als sein Vater ihn als Strafe von der Schule nahm, | |
weil er sich nicht den strengen Regeln des Vaters entsprechend verhielt. | |
Von da an habe er in der Autowerkstatt des Vaters gearbeitet. Wenn er nicht | |
gehorchte, wurde er geschlagen. | |
Die einzige Freiheit, die der Junge sich nahm, waren die amerikanischen | |
Filme, die er nachts heimlich schaute. Mit 22 brach er mit dem Vater, indem | |
er einmal zurückschlug, statt die Prügel zu erdulden. Von da an ließ der | |
Vater ihn in Ruhe. Khaled al-Madani lebte zwar weiter bei der Familie. Doch | |
er führte sein eigenes Leben, traf Freunde, arbeitete als Metzger, machte | |
Sport. | |
Wenige Jahre bevor der IS nach Mossul kam, entdeckte er im Internet etwas, | |
das ihm fortan Halt geben sollte: Yoga und Meditation. Mithilfe von | |
YouTube-Videos brachte er sich selbst Techniken bei, denn Yogalehrer gab es | |
keine in Mossul. Gut möglich, dass al-Madani der einzige Bewohner der | |
konservativen Stadt ist, der überhaupt Yoga praktiziert. | |
Häufig setzte er sich in den Garten und meditierte – selbst wenn dies | |
seinen Brüdern und seinem Vater missfiel. Für sie verstößt dies gegen die | |
Regeln des Islams – es ist „haram“, verboten. Khaled al-Madani kümmerte | |
dies nicht. Ohne Yoga, sagt er, wäre er vielleicht verrückt geworden, oder | |
hätte sich selber dem IS angeschlossen. | |
## Radikalisierung im Wohnzimmer | |
Seine vier Brüder hingegen folgten ganz dem Vater. Sie beteten fünf Mal am | |
Tag, kleideten sich wie er, dachten wie er. Doch erst mit dem Sturz von | |
Saddam Hussein durch die US-geführte Koalition 2003 wurde ihre weitere | |
Radikalisierung unausweichlich. | |
Unter dem Diktator war das mehrheitlich sunnitische Mossul ein | |
Sehnsuchtsort für viele Iraker. Jeder wollte mindestens einmal im Leben die | |
„Stadt der zwei Frühlinge“, wie Mossul gemeinhin genannt wird, besucht | |
haben. Saddam Hussein hatte das positive Image bewusst gefördert. Mossul | |
war eine wichtige Machtbasis für ihn, zahlreiche seiner Armeegeneräle | |
stammten von hier. | |
Dies änderte sich abrupt nach seinem Sturz. Die ehemaligen | |
Staatsangestellten des Regimes und Mitglieder der Baath-Partei wurden von | |
den Amerikanern entlassen. Die Armee wird seither von Schiiten aus dem | |
Süden und dem Zentralirak dominiert. Mossul, nun die Heimat von zahlreichen | |
entlassenen Armeeangehörigen, wurde zu einem Zentrum des Aufstands. | |
Aus dem Aufstand gegen die Amerikaner wurde für viele Milizen in Mossul ein | |
Kampf gegen die neue, schiitisch geprägte Regierung aus Bagdad. Die meisten | |
radikalisierten sich über die Jahre, al-Qaida nutzte das Chaos und setzte | |
sich im Irak fest. | |
## Alle mit Bart abgeführt | |
Die Terrorgruppe profitierte nicht zuletzt vom Frust der sunnitischen | |
Bevölkerung, die sich seit 2003 marginalisiert fühlt: Die irakische Armee | |
trat in Mossul wie eine Besatzungsmacht auf, Schikanen an Checkpoints waren | |
Alltag. Die Mossuler sahen sich zwischen den radikal-sunnitischen Milizen | |
und einer schiitischen Armee gefangen. Es war diese Destabilisierung, die | |
dem IS den Boden bereitete. | |
So erinnert sich Khaled al-Madani etwa, wie er eines Nachts im Sommer 2004 | |
aus dem Schlaf hochschreckte. Jemand habe an die Tür gepoltert, sagt er, | |
amerikanische Soldaten seien hereingestürmt. Eine Razzia gegen mutmaßliche | |
Aufständische. Sie hätten den Vater und drei Brüder zusammen mit rund einem | |
Dutzend weiterer Männer aus dem Viertel verhaftet. Die meisten seien nicht | |
aktiv am Aufstand beteiligt gewesen, so al-Madani. „Die Amerikaner haben | |
einfach alle mitgenommen, die einen Bart trugen.“ | |
Mehrere Monate seien die Männer in Camp Bucca inhaftiert gewesen. Das | |
Gefängnis im Süden des Landes war damals berüchtigt, schiitische wie | |
sunnitische Aufständische wurden von den Amerikanern hier festgehalten. | |
Heute gilt Camp Bucca als Brutstätte des IS: Hier lernten sich mehrere der | |
späteren Rädelsführer kennen – unter ihnen der spätere Anführer Abu Bakr | |
al-Baghdadi, der [1][erst diese Woche die Fortführung des Kampfes] | |
beschwor. | |
Al-Madanis Vater und Brüder hätten sich im Gefängnis weiter radikalisiert. | |
Vorher, sagt Khaled al-Madani, zwang sein Vater nur der Familie seine | |
Regeln auf. Danach maßregelte er alle im Viertel. | |
## Shisha-Bars wieder offen | |
Al-Madani steht auf der Straße und winkt ein Taxi herbei. Wir wollen zu | |
seinem Freund Aziz Bashir – ins Viertel, wo al-Madani aufgewachsen ist. | |
Hier, im Universitätsviertel im Osten der Stadt, ist [2][nach dem Krieg | |
längst der Verkehr und der Alltag zurückgekehrt]. Zahlreiche Geschäfte | |
haben wieder aufgemacht, Shisha-Bars bleiben bis tief in die Nacht | |
geöffnet. In diesem Teil der Stadt, der im Gegensatz zum Westen kaum | |
Luftangriffen ausgesetzt war, erinnern nur einzelne Häuserruinen daran, | |
dass hier vor weniger als zwei Jahren eine der größten Schlachten um eine | |
Stadt seit dem Zweiten Weltkrieg tobte. | |
Wie viele Menschen dabei ums Leben kamen, dazu variieren die Angaben je | |
nach Quelle. Die internationale Koalition gegen den IS übernimmt offiziell | |
die Verantwortung für rund 320 Opfer – die Nachrichtenagentur Associated | |
Press (AP) schätzt, dass die Zahl der zivilen Opfer durch die Koalition um | |
ein zehnfaches höher sei. Die Gesamtzahl der Zivilisten, die bei der | |
Schlacht ums Leben kamen, schätzt AP auf über 9.000. | |
Seit der Befreiung Mossuls vom IS ist es in der Stadt so ruhig wie nie seit | |
dem Sturz von Saddam Hussein. Es dauerte über ein Jahr, bis zum ersten Mal | |
seit der Rückeroberung wieder eine Autobombe explodierte. Die Jahre zuvor | |
waren Selbstmordattentate, Entführungen und Autobomben beinahe an der | |
Tagesordnung. | |
Trotzdem: Wirklich entspannt wirkt al-Madani dennoch nicht. Als wir im Taxi | |
sitzen, unterhält sich al-Madani mit dem Taxifahrer. Der Fahrer fragt, ob | |
al-Madani aus der Stadt stamme, al-Madani bejaht und erwidert die Frage. | |
Normaler Smalltalk zwischen Fahrgast und Fahrer, denke ich mir. | |
Doch als das Taxi sich dem Ziel nähert, lässt al-Madani den Fahrer an der | |
Kreuzung halten, statt bis vors Haus zu fahren. Er traue dem Mann nicht, | |
sagt al-Madani, nachdem wir ausgestiegen sind. Er komme nicht aus Mossul, | |
sondern aus dem Umland. Von denen hätten sich viele dem IS angeschlossen. | |
## Rachejustiz gegen Angehörige | |
Mit seinem Misstrauen und Vorurteilen unterscheidet sich al-Madani nicht | |
von vielen anderen in Mossul. Hier, wo die Leute stolz von ihrer früheren | |
Eintracht erzählen, traut heute keiner mehr dem anderen über den Weg. Denn | |
viele ehemalige IS-Mitglieder sollen sich noch immer in Mossul befinden, | |
erzählen Bewohner: entweder untergetaucht oder indem sie ihre Vergangenheit | |
leugnen und ganz normal weiterleben. | |
Die Sicherheitskräfte führen regelmäßig Razzien gegen mutmaßliche | |
IS-Schläferzellen durch. Und obwohl die Terrormiliz im Irak kein | |
Territorium mehr beherrscht, verübt die Organisation weiter Anschläge in | |
verschiedenen Provinzen des Landes. | |
Eine wirkliche Aufarbeitung der IS-Verbrechen findet nicht statt. Knapp | |
20.000 mutmaßliche IS-Mitglieder sitzen derzeit in den irakischen | |
Gefängnissen und warten auf ihr Gerichtsverfahren. Diese dauern meistens | |
nicht länger als eine halbe Stunde – Freisprüche sind selten. Das Strafmaß | |
bei einer Verurteilung auf Mitgliedschaft beim IS bedeutet lebenslange Haft | |
oder Todesstrafe. | |
Gleichzeitig ist der Wunsch nach Vergeltung bei vielen Bewohnern – auch | |
gegenüber Verwandten von IS-Mitgliedern – groß. Eine Studie der Universität | |
der Vereinten Nationen vom Mai 2018 kommt zu dem Schluss, dass rund ein | |
Drittel der Befragten in Mossul die Todesstrafe für Witwen toter IS-Kämpfer | |
angemessen fände. | |
## „Nichts anderes verdient“ | |
Al-Madani klopft an das Tor, sein Freund Aziz Bashir öffnet. Bashir kennt | |
die al-Madanis seit seiner Kindheit. Younes, der sich in die Luft gesprengt | |
haben soll, habe ihm früher Koran-Unterricht gegeben. „Younes war | |
gebildet“, sagt Aziz Bashir. „Ich hätte nie gedacht, dass der einmal so | |
etwas tun würde.“ Nach der Befreiung vom IS meldete Bashir zahlreiche | |
ehemalige IS-Mitglieder der Armee – auch jene, die ihm mal einen Gefallen | |
getan haben. Sie hätten nichts anderes verdient, sagt er. | |
Dennoch ist Aziz Bashir einer der wenigen Vertrauten, die Khaled al-Madani | |
geblieben sind. Warum sollte er ihn für etwas bestrafen, das seine Brüder | |
getan haben, sagt Bashir. Doch die meisten von al-Madanis Freunden wollen | |
seit seiner Rückkehr nichts mehr mit ihm zu tun haben. Einer nach dem | |
anderen habe ihm zu verstehen gegeben, dass er sich nicht mehr melden soll, | |
sagt al-Madani. Eine Mischung und Angst und Feigheit, vermutet er. | |
Als der IS 2014 die Macht übernahm, habe Khaled al-Madani versucht zu | |
verhindern, dass seine Brüder sich der Terrormiliz anschließen. Er habe sie | |
gewarnt, dass er den neuen Herrschern nicht traue. Dass sie gefährlich | |
wären. Es half nichts. Sein bester Freund Aziz Bashir drängte Khaled | |
al-Madani damals, er solle die Stadt verlassen. | |
Wer weiß, ob seine Brüder sich nicht irgendwann gegen ihn wenden würden. | |
Schon würden ihre Gespräche verstummen, wenn Khaled den Raum betrat. | |
Gleichzeitig musste er befürchten, die Armee könnte auch ihn für einen | |
IS-Kämpfer halten und verhaften, sollte sie Mossul zurückerobern. | |
## Flucht in die Türkei | |
In einer Augustnacht 2015 floh Khaled al-Madani in die Türkei. Von Ankara | |
aus verfolgte er, wie im Oktober 2016 der Feldzug zur Rückeroberung Mossuls | |
begann. Als die Armee im Dezember 2016 sein ehemaliges Wohnviertel | |
erreichte, erzählte ihm Aziz Bashir am Telefon, wie er al-Madanis Eltern in | |
ein Auto steigen und davonfahren sah. Es war das letzte, was Khaled | |
al-Madani von ihnen hörte. | |
Bei einem unserer Treffen zeigt al-Madani ein Video, in dem er auf einem | |
Platz in Ankara steht und ein Schwarm von Tauben um ihn herumfliegt. „Jedes | |
Mal, wenn es mir nicht gut ging, bin ich hierher gekommen und habe die | |
Tauben gefüttert“, sagt er. | |
Wenige Wochen nach der vollständigen Befreiung kehrte er nach Mossul | |
zurück, um nach seinen Eltern zu suchen, die er noch immer in Mossul | |
vermutete. Dabei sei es ihm nie um seinen Vater gegangen, betont er. Doch | |
er hoffte, dass zumindest seine Mutter noch am Leben war – die einzige | |
Person in der Familie, die ihm noch etwas bedeutete. | |
Und so fuhr er an jenem Frühlingstag 2018, als ihm der Taxifahrer von | |
seinen Eltern erzählte, nicht zum Markt. Stattdessen überquerten sie die | |
Brücke über den Tigris und fuhren durch die Ruinenlandschaft, die früher | |
die Altstadt war. Diese nennen die Mossuler noch heute die Seele der Stadt, | |
[3][auch wenn davon nicht viel übrig geblieben ist]. Rund 6.000 Häuser | |
wurden zerbombt und auch Monate nach dem Sieg über den IS ist hier vom | |
Wiederaufbau noch immer wenig zu sehen. | |
## Lebt die Mutter? | |
„Ich hatte die Hoffnung, dass mein Vater inzwischen bereut, was geschehen | |
ist“, sagt al-Madani. „Schließlich sind er und seinesgleichen dafür | |
verantwortlich, was mit Mossul geschehen ist.“ | |
Als das Taxi ankam und seine Mutter die Tür öffnete, sei er erschrocken, | |
sagt al-Madani: Ganz abgemagert sei sie gewesen, ihr Blick leer und | |
erschöpft. Sie habe ihn angeschaut. Und sei zusammengebrochen. Er habe sie | |
ins Innere gebracht. „Dort saß mein Vater auf einer Matratze, den Kopf auf | |
die Hand gestützt und starrte nur vor sich hin“, sagt al-Madani. „Als ich | |
das Zimmer betrat, blickte er auf, wir schauten uns kurz an. Und ich hatte | |
das Gefühl, dass er gar nichts bereut. Vielleicht hasste er mich sogar noch | |
mehr als früher.“ | |
Nachdem er seine Eltern wiedergefunden hatte, versuchte Khaled al-Madani, | |
das konfiszierte Haus der Familie zurückzubekommen. Er tue das einzig für | |
seine Mutter, betont er. Wäre sein Vater allein, al-Madani würde ihn | |
vielleicht gar selber der Polizei melden. | |
Nachdem die Armee ihr Haus beschlagnahmte, zog ein Mitglied einer lokalen | |
Miliz ein. Der Mann, fand al-Madani heraus, war früher selber beim IS | |
gewesen. Dank eines Anwalts gelang es ihm, das Haus wiederzukriegen. Im | |
September schickte er mir ein Bild davon. | |
NaN NaN | |
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Meret Michel | |
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