| # taz.de -- Blindgänger in Oranienburg: Im Boden steckt noch immer der Krieg | |
| > 270 Großbomben aus dem Zweiten Weltkrieg liegen im brandenburgischen | |
| > Oranienburg vergraben. Sie aufzuspüren kann Jahrzehnte dauern. | |
| Bild: Ein dreidimensionaler Effekt hilft Betrachter*innen bei der Suche nach Bl… | |
| Oranienburg taz | „Und Start“, ruft Karsten Seemann. Sein Kollege versenkt | |
| eine stabförmige Sonde in einem Sandhaufen, kaum größer als ein | |
| Maulwurfshügel. Kabel führen zu zwei Messgeräten in Seemanns Händen. Auf | |
| dem einen flackern Zahlen, auf dem anderen zuckt ein Zeiger. Seemann | |
| entdeckt nichts Ungewöhnliches, die Männer in den orangen Warnwesten | |
| stapfen zum nächsten Haufen. „Und Start!“ | |
| Sie suchen nach Bomben, Blindgängern aus dem Zweiten Weltkrieg. | |
| „Tagesgeschäft“, sagt René Benoit, Truppführer beim | |
| Kampfmittelbeseitigungsdienst (KMBD) in Oranienburg. In anderen Städten | |
| kommen Blindgänger oft nur zufällig auf Baustellen oder in Schrebergärten | |
| zum Vorschein. In Oranienburg suchen die Trupps täglich und systematisch | |
| nach Bomben, 73 Bohrungen pro Vermutungspunkt, Quadratmeter um | |
| Quadratmeter, seit Jahrzehnten und vielleicht noch für Generationen. | |
| Benoit, 50, hat früher in der Forstwirtschaft gearbeitet, lebt auf dem Land | |
| und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen – auch nicht, wenn mitten im | |
| Interview ein Polizeianwärter in die Teeküche stürmt und für eine Übung | |
| alle Schränke aufreißt. Jetzt ist Benoit rausgefahren zu Vermutungspunkt | |
| 424, einer Brachfläche direkt am Oder-Havel-Kanal, kleiner als ein | |
| Tennisplatz. Am Rand liegen frisch gerodete Kiefern. Neben Benoit baumelt | |
| die sechs Meter hohe Bohrschnecke, die die Löcher ins Erdreich getrieben | |
| hat. Klumpen aus nassem Sand plumpsen herunter. | |
| Der Fahrer des Bohrwagens hat etwas zurückgesetzt, um die Messergebnisse | |
| nicht zu verfälschen. Die Sonden messen im Umkreis von anderthalb Metern | |
| die magnetische Flussdichte, jede Art von Metall verändert den Messwert. | |
| Das könnte dann auf eine Bombe im Boden hindeuten – oder auf einen | |
| vergessenen Schlüsselbund in der Hosentasche. „Wer misst, muss metallfrei | |
| sein“, sagt Benoit. Einmal haben sie direkt am Bahndamm gemessen, „da | |
| mussten wir jedesmal unterbrechen, wenn die S-Bahn vorbeifuhr“. Die Gleise | |
| können von Anfang an in die Messung mit einbezogen werden – vorbeifahrende | |
| Züge verfälschen jedoch das Ergebnis. | |
| ## 4.022 Großbomben fielen an einem Tag | |
| Unter Bombenentschärfern gilt die 45.000-Einwohner-Stadt als „hot spot“. | |
| Dreizehn mal wurde sie bombardiert. Bei einem einzigen Angriff – zugleich | |
| dem schwersten – am 15. März 1945 fielen laut Ladelisten der US Air Force | |
| 4.022 Großbomben mit chemischen Langzeitzündern auf Oranienburg. Manche | |
| wogen fünf Zentner, andere zehn. Doch nicht alle explodierten und das macht | |
| Oranienburg bis heute zu einem Pulverfass. 270 Großbomben werden noch im | |
| Boden vermutet, im Schnitt in sieben Metern Tiefe, begraben von | |
| Schuttschichten, überbaut mit Häusern und Straßen, überwuchert von Bäumen | |
| und Gras. | |
| Die Langzeitzünder der Alliierten waren so perfide wie störanfällig: Am | |
| hinteren Ende der Bombe befand sich ein Windrad. Durch den Luftzug im | |
| freien Fall rotierte das Rad und trieb eine Spindel an, die dann eine | |
| Glasampulle mit ätzendem Aceton zerdrückte. Das Aceton fraß sich durch | |
| einen Zelluloidring, der einen gespannten Schlagbolzen zurückhielt. Wenn | |
| das Zelluloid sich zersetzt hatte, löste der Bolzen die Explosion aus. Das | |
| konnte Stunden dauern oder Tage. „Die Bomben sollten die Leute davon | |
| abhalten, die Brände in den Trümmern zu löschen“, erzählt René Benoit. | |
| „Denn es geht ja niemand irgendwo rein, wo es noch knallen kann.“ | |
| Doch mal klemmte das Windrad, mal der Schlagbolzen. Vor allem aber bohrten | |
| sich viele Bomben nach dem Aufprall noch bis zu zehn Meter durch den | |
| sandigen Untergrund. Dabei richteten sie sich auf – und das Aceton lieft in | |
| der falschen Richtung aus. „90 Prozent der Bomben, die wir finden, zeigen | |
| mit der Spitze nach oben“, erzählt Benoit. | |
| Zündfähig bleiben sie trotzdem, und das Zelluloid zerbröselt mit der Zeit. | |
| Die Frage ist also nicht, ob sie irgendwann hochgehen, sondern wann. Sechs | |
| Bomben mit Langzeitzünder haben erst Jahrzehnte später „umgesetzt“, wie | |
| eine Detonation im Feuerwerkerjargon heißt. 1991 wurden hier drei Menschen | |
| dabei verletzt, 1993 explodierte die bislang letzte Bombe im Lehnitzsee. | |
| Dass die letzte Selbstdetonation schon 26 Jahre her ist, sei „trügerisch“, | |
| sagt Sylvia Holm, die Leiterin des städtischen Ordnungsamtes. „Das Risiko | |
| steigt von Tag zu Tag.“ | |
| ## Bohrlöcher, so groß wie Kuchenteller | |
| Holm empfängt in einem Eckbüro im Oranienburger Schloss. Sie leitet die | |
| Behörde seit 1996 und hat das Amtsvokabular verinnerlicht: Wörter wie | |
| „Grünschnitt“, „Zustandsstörer“ oder „Bohrlochverfüllung“ gehen … | |
| beiläufig über die Lippen. | |
| Anderswo schreiben Ordnungsämter vor allem Falschparker auf und melden | |
| Gewerbe an oder ab. In Oranienburg sieht die Stellenbeschreibung etwas | |
| anders aus: „Fast 50 Prozent meiner Arbeit sind Kampfmittelräumung“, sagt | |
| Holm. Ihre Behörde legt die Gebiete fest, die der KMBD untersuchen lassen | |
| soll. Dabei orientiert sie sich an einem Gutachten, das die Stadt in zehn | |
| Gefahrenkategorien unterteilt. Ein Waldstück ohne Verdacht auf Blindgänger | |
| ist Kategorie 1, ein Kindergarten mitten im einstigen Abwurfgebiet | |
| Kategorie 10. Zehn Prozent von Kategorie 10 sind noch nicht untersucht, | |
| schätzt Holm. | |
| Viele Straßen in Oranienburg sind übersät von alten, verfüllten | |
| Bohrlöchern, so groß wie Kuchenteller. Wenn der KMBD unter einem Haus eine | |
| Bombe vermutet, bohrt er im Keller. Hat ein Haus keinen Keller, bohrt er im | |
| Wohnzimmer. Findet er dann eine Bombe, die sich nicht entschärfen lässt, | |
| kann das Ordnungsamt das Haus abreißen lassen. „Gott sei Dank musste ich | |
| das noch nicht anordnen“, sagt Sylvia Holm. Nur einmal musste eine Datscha | |
| dran glauben. | |
| Angriffsziele bot Oranienburg aus Sicht der Alliierten reichlich: Der | |
| Bahnhof diente als Knotenpunkt für Militärtransporte; im Norden der Stadt, | |
| rund um [1][das damalige KZ Sachsenhausen], unterhielt die SS eine Kaserne | |
| und ein Materiallager. Die Heinkel-Werke stellten Flugzeugteile her, eine | |
| Kiesfabrik produzierte Granaten, und die Auergesellschaft – bekannt für | |
| Leuchtstoffröhren, Gasmasken und die radioaktive Zahnpasta Doramad – war | |
| wohl in Hitlers Atomwaffenforschung eingebunden. | |
| ## Im Notfall muss vor Ort gesprengt werden | |
| Viele Blindgänger ließen die Nazis gleich nach den Angriffen entschärfen | |
| oder wegräumen, oft von Zwangsarbeitern und KZ-Insassen. Zu DDR-Zeiten war | |
| eine systematische Suche nicht möglich; erst in den 1990ern kaufte das Land | |
| Brandenburg zehntausende Luftaufnahmen aus den Archiven der Alliierten an. | |
| Die britischen und amerikanischen Piloten hatten sie während und nach den | |
| Angriffen gemacht, um die Zerstörungen zu dokumentieren. Der KMBD wertet | |
| sie aus, legt sie am Computer übereinander, um 3-D-Bilder zu erzeugen, | |
| kringelt Bombentrichter ein und markiert verdächtige Stellen mit Punkten. | |
| Doch ob im Wald, im Schatten eines Gebäudes oder unter Trümmern ein | |
| Blindgänger liegt, verraten die Bilder auch nicht. Und wegen des weichen | |
| Bodens liegen die Bomben nie da, wo sie eingeschlagen sind – bis zu 10 | |
| Meter entfernt vom Einschlagspunkt können sie in der Erde stecken. | |
| Auch bei der Entschärfung machen sie noch Ärger: Aufschlagzünder lassen | |
| sich meist herausdrehen oder -ziehen. Bei Langzeitzündern setzt der KMBD | |
| einen ferngesteuerten Wasserschneider ein – und im Notfall muss er vor Ort | |
| sprengen. | |
| Acht Millionen Euro gibt das Land Brandenburg jährlich für die | |
| Kampfmittelsuche aus; die Hälfte davon geht nach Oranienburg. Die Stadt | |
| legt noch einmal vier Millionen drauf, wenn nötig auch mehr. | |
| ## Er hat es im Gefühl | |
| Was ist das für ein Gefühl, immer noch auf Bomben aus einem Krieg zu | |
| sitzen, den die vorletzte und vorvorletzte Generation geführt haben? Die | |
| man für viel Geld aufspüren, unter Lebensgefahr entschärfen und ganze | |
| Stadtteile evakuieren muss? „Solche Gedanken sind nicht zielführend“, sagt | |
| Sylvia Holm vom Ordnungsamt. „Die Kampfmittelbelastung ist da und muss | |
| beseitigt werden.“ | |
| Ex-Soldat Karsten Seemann reagiert fast verlegen auf die Frage. Er fasst | |
| sich an den Hinterkopf, sagt dann: „Muss ja gemacht werden. Ob ich jeden | |
| Tag auf Montage gehe und mir meine Maurerkelle nehme oder einen Graben | |
| buddle oder das hier – für mich ist das ein Beruf wie jeder andere auch.“ | |
| Und schiebt nach: „Man sollte nur nie den Respekt vor der Munition | |
| verlieren.“ Dann stapft er wieder zurück zu den Sandhaufen. René Benoit vom | |
| Kampfmittelbeseitigungsdienst sagt: „Das sind eben die Nachwirkungen von | |
| Krieg. Aber wie lange man damit zu tun hat, das ist schon erstaunlich.“ | |
| Die letzte Großbombe haben sie kurz vor Weihnachten 2017 gefunden, 2018 | |
| haben sie gar keine entdeckt. 2019, sagt Benoit, könnten sie wieder mehr | |
| finden. Er habe das im Gefühl. Eine Woche später lässt Sylvia Holm eine | |
| Kleingartenanlage sperren. Bombenverdacht. | |
| 15 May 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Kastner | |
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