# taz.de -- Joseph Ratzinger und der Missbrauch: Im Schwarzen Loch | |
> Joseph Ratzinger, früher Papst Benedikt XVI., äußert sich zum | |
> Missbrauchsskandal und gibt 1968 die Schuld. Er will die katholische | |
> Herrschaft zurück. | |
Bild: Wohl fast so weit von Gott entfernt wie der Teufel: Joseph Ratzinger | |
Kann es Zufall sein, dass die Publikation eines Textes von Ex-Papst Joseph | |
Ratzinger zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche zeitlich | |
zusammenfällt mit der ersten Fotografie der Hölle? Denn als solche wird man | |
[1][das Schwarze Loch] in der Galaxie M87, dessen Aufnahme am Mittwoch um | |
die Welt ging, durchaus bezeichnen können: Hat doch der Astrophysiker Bruno | |
Binggeli schon vor Jahren sehr schön die Entsprechung von allegorischer | |
Beschreibung der Hölle durch den urkatholischen Autor Dante vor gut 700 | |
Jahren mit der nun konkreten Bildlichkeit des dunkelsten Punkts unserer | |
Existenz aufgezeigt. | |
Im Inferno Dantes fände sich Ratzinger wohl fast so weit von Gott entfernt | |
wie der Teufel selbst. Denn was der abgedankte Papst hierzulande in dem | |
bayerischen Vereinsbulletin Klerusblatt veröffentlicht, in Italien aber | |
prominent über die Tageszeitung [2][Corriere della Sera] in die Welt | |
gesetzt hat, ist ein Dokument der Verleumdung und der Heuchelei. | |
Anlässlich [3][der Missbrauchskonferenz im Vatikan Ende Februar], schreibt | |
Ratzinger, habe er sich als ehemaliges Oberhaupt der Kirche die Frage | |
stellen müssen, was er „aus der Rückschau heraus zu einem neuen Aufbruch | |
beitragen könne“. Gleich der erste Satz seines Pamphlets ist dann | |
programmatisch: „Die Sache beginnt mit der vom Staat verordneten und | |
getragenen Einführung der Kinder und der Jugend in das Wesen der | |
Sexualität.“ | |
Also mit 1968 – und nicht mit einer katholischen Präpotenz in Fragen der | |
Sexualität und der sexualisierten Gewalt, die sich über Jahrhunderte in | |
weiten Teilen des Erdballs straflos ausleben durfte. | |
## Das Opfer als Täter | |
„Die Sache“ beginnt nach Ratzinger da, wo Machtmissbrauch und Heuchelei | |
endlich wirkmächtig thematisiert werden. Das sagt der hoch gebildete | |
Ratzinger, obwohl er natürlich weiß, dass sexuelle Beziehungen – freiwillig | |
eingegangene wie gewaltvoll herbeigeführte – von allem Anfang an zum Alltag | |
des Klerus gehörten. Ob Köchin oder Ministrant, ob Dörfer voller | |
unehelicher Pfarrerskinder – die katholische Kirche hat sich in den | |
Gegenden, wo sie Hegemon war, nie um ihre eigenen Regeln gekümmert; ja man | |
muss fairerweise sagen, dass sie, solange sie unangefochten war, sich | |
durchaus tolerant gezeigt hat. Denn Toleranz ist ja wesentlich ein | |
Herrschaftsinstrument. | |
Nach diesem Einstieg beschreibt Ratzinger in erschütternd zu lesenden | |
Anekdoten den Schock, den eine öffentlich gezeigte und gelebte Sexualität | |
im Zuge der Liberalisierung von 1968 unter den katholischen Dunkelmännern | |
auslöste: „In der Tat wurde in Flugzeugen kein Sexfilm mehr zugelassen, | |
weil in der kleinen Gemeinschaft der Passagiere Gewalttätigkeit ausbrach. | |
Weil die Auswüchse im Bereich der Kleidung ebenfalls Aggression | |
hervorriefen, haben auch Schulleiter versucht, eine Schulkleidung | |
einzuführen, die ein Klima des Lernens ermöglichen sollte.“ | |
Es ist das alte Bild des in Versuchung geführten Gelehrten. Und wieder | |
einmal wird das Opfer zum Täter erklärt. | |
Dazu kommt dann die alte Mär der „Pädophilie“, die im Zuge von ’68 als | |
„erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde“, eben „diese völlige | |
sexuelle Freiheit, die keine Normen mehr zuließ“. Die allmächtige | |
katholische Kirche – sie ist bei Ratzinger von ein paar versprengten, | |
pädophilen Verbrechern am Rande des in den 1960er Jahren einsetzenden | |
großen Emanzipationsprozesses der Menschheit in den Abgrund gestürzt | |
worden. Das Ergebnis ist der Missbrauch, sind „homosexuelle Klubs“ in | |
Priesterseminaren. Natürlich. | |
## „Kleine Gemeinschaft“ von Berufsreaktionären | |
Dass das absurd ist, weiß Ratzinger selbst. Die Verleumdung der sich unter | |
gravierenden Verirrungen befreienden Gesellschaft ist auch lediglich sein | |
Absprungbrett für einen ganz anderen Zielpunkt. Ratzinger geht es nicht um | |
Liebe, nicht um das Ende des Missbrauchs, sondern um die Wiedereinsetzung | |
von totalitärer katholischer Herrschaft. Er will nicht jammern, er will | |
gewinnen. | |
Es ist die um Heilung kämpfende Volkskirche, die der Fundamentalist | |
Ratzinger abschaffen will zugunsten einer sozusagen leninistischen „kleinen | |
Gemeinschaft“ von Berufsreaktionären, die als Einzige den wahren Glauben | |
verstehen, interpretieren und irgendwann – Zeit war noch nie ein Problem im | |
Katholizismus – mullahmäßig reetablieren kann. | |
In seiner Hinterfotzigkeit will Ratzinger dabei nicht einmal seine Freude | |
darüber verbergen, dass einer seiner intellektuellen Widersacher, Franz | |
Böckle, an Krebs verstarb, bevor er ihm in einer theologischen Frage | |
ausführlich widersprechen konnte: „Der gütige Gott hat ihm die Ausführung | |
dieses Entschlusses erspart.“ | |
Sarkasmus aber konnte auch Dante. In einer der ergreifendsten Passagen | |
seines Gangs durch die Hölle sieht er einen Zeitgenossen, den er als doch | |
fröhlich droben Lebenden identifiziert. Meister, sagt er zu Vergil, seinem | |
Fremdenführer durch die dunklen Gefilde, den kenne ich, der lebt noch! Ja, | |
sagt Vergil, sein Körper ist oben, aber als leere Hülle – hier siehst du | |
schon, wie seine Seele schmort. Insofern wird Joseph Ratzinger die erste | |
Fotografie eines Schwarzen Loches mit Interesse betrachtet haben. | |
11 Apr 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Projekt-Event-Horizon-Telescope/!5587067 | |
[2] https://www.corriere.it/cronache/19_aprile_11/papa-ratzinger-chiesa-scandal… | |
[3] /Sexualisierte-Gewalt-in-der-Kirche/!5568713 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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