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# taz.de -- Kommentar Schulstreiks und die Politik: Verniedlichend und verlogen
> Von Kanzlerin bis FDP-Chef – alle loben nun brav den Einsatz der Jugend
> für den Klimaschutz. Das ist heuchlerisch.
Bild: Ein sechsjähriger Demonstrant in Berlin
Angenommen, die Wissenschaft würde feststellen, dass in 20 Jahren ein
Asteroid die Erde trifft. Er könnte Millionen Menschen töten, Küsten
fluten, viele Arten an Land und im Meer ausrotten. Doch es gäbe einen
Ausweg. Eine Weltraummission, 500 Milliarden Dollar teuer, sie könnte den
Brocken um die Erde lenken. Die Staaten der Welt reagieren, einigen sich
auf eine Finanzierung. Doch schon nach kurzer Zeit stocken die Zahlungen,
die USA steigen ganz aus.
Die meisten resignieren, die Jugend aber rebelliert. Überall gehen sie
freitags auf die Straße, weil sie sich fragen: Wozu die Schule besuchen,
wenn man am Ende als Erwachsene so dumm wie ihr wird und den Planeten der
eigenen Engstirnigkeit opfert?
Nun, Sie verstehen, worauf ich hinauswill. [1][Wir leben in dieser Welt].
Nur dass der Asteroid der Klimawandel ist. Seine Bahn ist berechnet, der
Vertrag, ihn abzuwenden, ist geschlossen, wird aber unzureichend umgesetzt.
Jeden Freitag gehen jetzt Schüler*innen auf die Straße.
Weil Klimaschutz in der Zeit seit dem [2][Abkommen von Paris] zu ersticken
drohte: an alten Industrien, Fundamentalisten, denen die Lehre vom reinen
Markt über alles geht, schlichten Dummköpfen, Profit, ewigen Kommissionen.
Die Welt seit Paris schien zu komplex, um die Erderwärmung aufzuhalten. Die
Schüler*innen wischen all das weg, verdichten die Geschichte zu einem
einfachen: Es geht ums Überleben, ihr Idioten.
## „Toll!“, „Großartig!“, „Unterstütze ich sehr!“
Die Erzählung ist deshalb so mächtig, weil sie jeder versteht. Weil sie die
Welt in Gut und Böse einteilt: Wer gegen uns ist, der tötet unsere Zukunft.
Wer gegen uns ist, der steht auf der Seite des Bösen. Deshalb auch die
Anfeindungen gegen [3][Greta Thunberg] und andere im Netz. Wer will schon
von einem Kind gesagt bekommen, dass er genau der unverantwortliche,
selbstgerechte, arrogante Erwachsene geworden ist, der er nie werden
wollte?
Die zweite vorhersehbare Reaktion auf die Proteste ist Verniedlichung. Ein
rhetorisches Wangetätscheln für die naiven Jungspunde. „Toll“, sagt
Christian Lindner. „Unterstütze ich sehr“, sagt Angela Merkel. „Großart…
meint Katarina Barley. Garniert mit einer Debatte, ob man für den
Klimaschutz denn nun Schule schwänzen dürfe.
Doch gerade das Lob aus Teilen der Union und der FDP ist heuchlerisch.
Teile der Parteien lassen sich gerade in verschiedenen Härtegraden auf eine
Erzählung ein, wonach Klimaschutz auf der einen Seite und Arbeitsplätze und
Wohlstand auf der anderen Seite sich widersprechende Ziele seien, zwischen
denen es einen Interessenausgleich geben müsse.
Besonders deutlich schrieb das Annegret Kramp-Karrenbauer in [4][einem
Beitrag für die Welt am Sonntag]. Ambitionierte Klimaziele würden nur dann
auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stoßen, „wenn es uns gelingt, auch
die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte so zu berücksichtigen, dass
Beschäftigung und Wirtschaftskraft erhalten bleiben und neue
Entwicklungschancen entstehen“, schrieb sie.
## CDU-Chefin argumentiert ahistorisch
Das klingt neben dem kindischen Antiökopopulismus von FDP-Chef Christian
Lindner geradezu staatstragend. Der faselte in der Bild erst davon, dass
man die deutsche Autoindustrie zerstören wolle, und später in der BamS:
„Wer den Menschen von Berlin-Mitte aus und mit dem erhobenen Zeigefinger
Wohlstand, Mobilität und Fleisch verbieten will, wird den Druck der Straße
zu spüren bekommen.“ Nun kann in Deutschland jeder in den nächsten
Supermarkt gehen und in eine Wurst beißen. Lindner will den Applaus jener
einheimsen, die sich durch die Schüler*innen ertappt fühlen und genervt
sind von deren moralischen Appellen.
Lindner und Kramp-Karrenbauer glauben mit ihrem Kurs die Stimmung der
Post-Merkel-Ära zu treffen: Endlich darf man wieder sagen, dass Klimaschutz
ja wohl nicht alles ist, wir sind doch eh die Deppen, die immer
vorpreschen, alles zahlen und überall hässliche Windräder aufstellen.
Und sie suchen ein Gegenmittel zum [5][Höhenflug der Grünen]: die alte
Story von den Ökos, die erst Ruhe geben, wenn alle vegan leben und Rad
fahren, aber arbeitslos sind.
Sie verkennen dabei, dass es beim Klimaschutz nicht um eine Güterabwägung
oder Wertediskussion geht, um links gegen rechts, Wirtschaftsliberalismus
gegen Staatsinterventionismus – sondern um einen naturwissenschaftlich
begründeten Imperativ zum Handeln. Kramp-Karrenbauer argumentiert komplett
ahistorisch: Die größte Gefahr für den Wohlstand war in den letzten beiden
Dekaden ein dysfunktionales, globales Finanzsystem.
## Die Politik kann umsetzen, was die SchülerInnen fordern
Zwar wird Klimaschutz in bestimmten Industrien Arbeitsplätze kosten. Die
moderne Wirtschaftsgeschichte kennt aber nichts als permanente technische
Neuerungen, die Jobs hier vernichten und dort schaffen. Das geschieht noch
nicht einmal so chaotisch, wie die meisten denken. Das Auto hat sich
durchgesetzt, weil Gesellschaften sich dafür entschieden, ihre Städte so
umzubauen, dass man überall tanken, parken und fahren kann. Fleisch ist so
billig, weil Politik gezielt landwirtschaftliche Großbetriebe fördert.
Damit sind wir beim Kern der Proteste der Schüler*innen. Politik kann, was
sie fordern. Es steht uns doch ohnehin, wie seit Beginn der
Industrialisierung immer, ein gewaltiger Strukturwandel bevor. Durch
Digitalisierung, künstliche Intelligenz und wer weiß was sonst noch.
Politik kann auch im Rahmen einer freien, liberalen Wirtschaftsordnung
einen stahlharten Rahmen setzen für eine Wirtschaft, die Klima nicht mehr
vernichtet.
Nun liefern Union und FDP ohne Not einen Schuldigen für mögliche
Arbeitsplatzverluste in den nächsten Dekaden: der Klimaschutz, der ja immer
nur koste, koste, koste. Der Klimawandel ist die größte Gefahr für Frieden
und Wohlstand, und Union und FDP schaffen es, den KAMPF dagegen als Gefahr
zu identifizieren. Da sind eben echte Profis am Werk.
14 Mar 2019
## LINKS
[1] /Fridays-for-Future-in-Berlin/!5577934
[2] /Pariser-Abkommen-zum-Klimaschutz/!5351163
[3] /Fridays-for-Future-weltweit/!5578109
[4] https://www.welt.de/politik/deutschland/article190037115/AKK-antwortet-Macr…
[5] /Kommentar-Hoehenflug-der-Gruenen/!5544978
## AUTOREN
Ingo Arzt
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