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# taz.de -- Brechtfestival Augsburg: Anarchie in Bayern
> Wer Brecht nicht verändert, tut ihm Unrecht. Das Brechtfestival Augsburg
> suchte nach dem Gebrauchswert des Dramatikers.
Bild: Fragen nach den Besitzverhältnissen bleiben spannend, hier von She She P…
„Moral to go“ steht in Lettern aus Gaffatape in einer Pommesschale
geschrieben, da, wo sonst das Fressen dargeboten liegt. Das Artwork des
Brechtfestivals macht klar: Anstand ist Arbeit, auch im Theater. Die seit
2010 jährlich in Augsburg stattfindende Veranstaltungsreihe ist keineswegs
nur als Hommage an den Dramatiker zu verstehen. Seit Beginn der
dreijährigen Leitung von Patrick Wengenroth 2017 widmet sich das Festival
vornehmlich gesellschaftspolitischen Fragen, die von Brechtstücken und
Expert*innendiskussionen zum Augsburger Lyriker flankiert werden.
Wer Brecht nicht verändert, tut ihm Unrecht, lautet ein Zitat oder eine
Regisseur*innenweisheit, eine genaue Zuordnung ist nicht mehr möglich.
Wer Brecht also anpackt, kann mit seinem Werk Forderungen formulieren.
Genau das macht Wengenroth, ein kantiger Typ, Schnauzer, Trainingsanzug,
mit pastelllila lackierten Fingernägeln: „Die Zeit des
Sich-nicht-Positionierens kann man sich nicht mehr leisten. Man muss selber
ran. Für eine solche Aktivierung funktioniert Brecht gut, der hat speziell
in seinem Frühwerk mächtig ins Rudel gekackt, hat provoziert“, erklärt er
das Motto seines ersten Jahres, „ändere die Welt, sie braucht es“.
Unter seiner Leitung hat das Festival ein feministisches Gepräge erhalten,
deshalb wurde der Untertitel zur 2019er Ausgabe, die am 3. März zu Ende
ging, bewusst mit Gendersternchen gewählt: „Für Städtebewohner*innen“.
## Kampf dem Sternchen
Die schwarz regierte Stadt Augsburg hat das Sternchen allerdings gerade
verboten, ihr Schritt Richtung Geschlechtergleichstellung klammert das
dritte Geschlecht aus, die Direktive für behördliche Schriften lautet:
binäre Ausdrucksform, immerhin nicht nur die männliche. Auch so packt
Wengenroth Brecht an, der seine Frauen schäbig behandelte. Dessen zotigen
Sprachgebrauch in seinen frühen Werken hält der Regisseur trotzdem für
einen Vektor ins Heute.
Übersetzt hat das Mareike Mikat am Staatstheater, in ihrer Inszenierung von
Brechts „Baal“ wird der sauffreudige, durch die Stadt marodierende
Dichter-Berserker, dieser ebenso ekelhafte wie talentierte Jüngling Baal
von einer Frau gespielt. „Diesen Testosteron-Quatsch von einem Mann
inszeniert zu sehen, will man eigentlich auch nicht“, kommentiert
Wengenroth. Baal bleibt das einzige Brechtstück beim Festival 2019.
Ansonsten geht es eben um: Städtebewohner*innen. In Anlehnung an Brechts
Gedichte für diese, natürlich, aber auch genutzt als Steilvorlage für
kritische Auseinandersetzung mit den urbanen Herausforderungen der Zeit.
Denn Augsburg wird als drittgrößte Stadt Bayerns heute von den gleichen
Problemen geschüttelt wie Leipzig oder Berlin: Mietsteigerung, Verdrängung,
Ausschluss.
## Impulsverstärker
Linda Elsner, Gast einer Lesung auf dem Festival, sucht seit nunmehr sechs
Monaten nach einer bezahlbaren Wohnung in Augsburg. Die junge Woman of
Color ist keineswegs mittellos: sie hat ein Engagement am Staatstheater.
Dass das Festival diese Themen auf die Agenda setzt, findet sie gut. Es
wirke wie ein Impulsverstärker in die Stadt hinein.
Die Wohnungsknappheit und problematische Eigentumsverhältnisse greift das
Theaterkollektiv She She Pop auf, in ihrem Stück „Oratorium“ im Gaswerk.
Das passt: Der kathedralisch wirkende Saal wird ohne Tontechnik bespielt,
lediglich eine traurige Solotrompete und ein munteres Xylofon füllen den
Raum mit Klang. Und die wechselnden Sprechchöre. Wie von einem Teleprompter
liest das Publikum nach Aufforderung in Gruppen seine Erwiderungen ab. Da
sind mal Mütter ohne Altersvorsorge, mal Männer ohne Festanstellung
angesprochen. Oder Erb*innen, die auf der Bühne ihr Erbe formulieren und
die Summe errechnen sollen. Den etwa 15 Personen werden demnach über fünf
Millionen Euro zuteil – den vielen auf den Sitzen wohl nichts.
## Aufstehen und darüber reden
Das ist Theater in Wengenroths Sinn: aufstehen und drüber reden. Sich
aktivieren, dabei kann das Theater helfen. Sich eine Meinung machen, dabei
nicht. Dafür sei jede*r selbst verantwortlich. Wenn man ihn für sich zu
lesen wisse, tauge Brecht sogar als Agitator, meint Wengenroth. Regisseur
Tom Kühnel, der im kommenden Jahr zusammen mit Jürgen Kuttner die
Festivalleitung übernimmt, sieht in Brecht nicht den Agitator: Dafür sei er
viel zu dialektisch. Brecht kann oder muss sogar unterschiedlich gelesen
werden, seine Schaffensperioden waren divers.
Für Leif Eric Young ist Brecht „Rock’n’Roll“. Der 31-Jährige hat mit …
„Theter-Ensemble“, einer ambitionierten Laiengruppe junger
Schauspieler*innen, die ans große Theater streben, im Rahmen des Festivals
Fassbinders „Anarchie in Bayern“ auf die provisorische Bühne eines
Technoclubs gebracht. „Jetzt kommen junge Leute ins Theater, die sonst
vielleicht nur hier in den Technoclub gehen. Es kommen aber auch Leute in
den Technoclub, die sonst nur ins Theater gehen“, sagt Young. Außerdem
wurde die Eintrittspreisstruktur nach unten angepasst.
Das Kulturangebot wird geöffnet mit Brecht, durch Wengenroth, der, so
Young, das Festival sexyer gemacht habe. In seiner Inszenierung von
„Anarchie in Bayern“ fand Tom Kühnel Bertolt Brecht vor allem in den jungen
Darsteller*innen, in ihrer epischen Spielart. Auch das kann Brecht sein.
6 Mar 2019
## AUTOREN
Jann-Luca Zinser
Donata Künßberg
## TAGS
Bertolt Brecht
Patrick Wengenroth
Augsburg
Theater
Schwerpunkt Rassismus
Theater
Bertolt Brecht
Hannover
Frank Castorf
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