| # taz.de -- Musikvideos mit Spielkonsole gedreht: Schwieriger ist schöner | |
| > Zwischen kindlicher Regression und ästhetischer Revolution: Warum junge | |
| > Indie-Bands ihre Musikvideos mit den Kameras alter Konsolen drehen. | |
| Bild: Aus dem Musikvideo „Immortals“ von Rat October | |
| Berlin taz | Eine Mikrowellenpizza rotiert im Kreis. Das offizielle Porträt | |
| des luxemburgischen Großherzogs Henri blickt pompös in die Kamera. Zwei | |
| junge Männer liefern sich einen Kampf mit Plastiklaserschwertern, der an | |
| die wunderbar behäbigen Duelle aus den alten Star-Wars-Filmen erinnert. | |
| Dazwischen bekommt man immer wieder Aufnahmen von Konzerten und Proben zu | |
| sehen. | |
| [1][Das Musikvideo zum Song „Immortals“ der luxemburgischen | |
| Alternative-Rock-Gruppe Rat October] ist eine einzige große Spielerei. | |
| Während jedoch andere rumblödelnde Indiebands auf stechend klare Bilder | |
| setzen – möglich dank fallender Preise für hochauflösende Kameras –, | |
| katapultiert das Video von Rat October einen mit seiner Maximalauflösung | |
| von gerade mal 320×240 Bildpunkten in die verpixelten Frühzeiten von | |
| YouTube Mitte der Nullerjahre zurück. | |
| Zum Vergleich: Gängige Fernsehmodelle können 3840x2160 (4K-Auflösung) | |
| darstellen. Bei Rat October ist das Schummrige aber kein technischer | |
| Fehler, sondern eine bewusste künstlerische Entscheidung: „Immortals“, das | |
| vor einigen Wochen online ging, ist das weltweit erste Musikvideo, das | |
| komplett mit der tragbaren Videospielkonsole Nintendo 3DS gedreht wurde. | |
| Hierfür griff die Band auf die zwei eingebauten Vorderkameras des Geräts | |
| zurück, das 2011 auf den Markt gebracht wurde und sich bis heute 73 | |
| Millionen Mal verkauft hat. Damit reiht sich „Immortals“ in eine noch | |
| erstaunlich übersichtliche Liste an Musikclips ein, bei denen | |
| Künstler*innen Konsolen wie den Nintendo 3DS und passendes Zubehör zum | |
| Filmen nutzen. | |
| „Für das Lied hatten wir schon immer vorgehabt, ein spontanes Video von uns | |
| beim Rumalbern und Feiern zu drehen“, schreibt Alija Suljic der taz. Er ist | |
| Bassist und Backgroundsänger von Rat October. Der Einfall zur Umsetzung sei | |
| ihnen dann später bei einer Fahrt nach Amsterdam gekommen. Im Zug dorthin | |
| hätten sie mit der Kamerafunktion des Nintendo 3DS rumgespielt und sich für | |
| die Ästhetik begeistert. Einen direkten Zusammenhang mit dem Songtext gebe | |
| es nicht, sagt Sänger Fanfan Delaporte. „Es passt aber zur Kombination aus | |
| dem manchmal kindischen Image unserer Band und der düsteren Musik, die wir | |
| machen.“ | |
| ## Psychedelische Rorschach-Tests | |
| Zurück aus Amsterdam sammelten die Band über mehrere Monate hinweg weiteres | |
| Videomaterial. Das aufklappbare Filmgerät – das ungefähr so groß ist wie | |
| zwei übereinander angeordnete Smartphones – sorgte dabei für einige | |
| Aufmerksamkeit. „Viele Leute fanden das Ganze witzig “, so Léa Giordano, | |
| die im Auftrag der Band einige ihrer Konzerte filmte, „und es sieht auch | |
| ziemlich funky aus, wenn du einfach mit einer Nintendokonsole filmst, | |
| während die Fotografen neben dir das dickste Material an sich hängen | |
| haben.“ | |
| [2][Auch das Musikvideo zu „Vertigo“ der US-amerikanischen Indierockband | |
| Copes] spielt mit dem Retro-Look. In den körnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen | |
| ist zu sehen, wie die Band das Lied in ihrem winzigen Proberaum durchspielt | |
| und eine schwarze Katze über die Schlagzeugtrommeln hinwegtapst. Durch die | |
| geringe Auflösung wird das ohnehin enge Set noch beklemmender. Immer wieder | |
| kommen auch Spiegeleffekte zum Einsatz, die die Bandmitglieder und ihre | |
| Instrumente in psychedelische Rorschach-Tests verwandeln. | |
| Gedreht wurde das Ganze mit der Game Boy Camera. Dabei handelt es sich um | |
| ein von 1998 bis 2002 produziertes Zubehör für die tragbare | |
| Game-Boy-Spielkonsole, mit dem sich Fotos aufnehmen, bemalen und mit | |
| Stickern verzieren lassen. Noch mehr als beim Nintendo 3DS wirken die | |
| Bilder der Game Boy Camera mit ihrer 128x112-Auflösung und auf vier | |
| Grautöne reduziertem Farbspektrum wie Relikte einer vergangenen Epoche. Da | |
| mittlerweile ganze Generationen mit Geräten wie dem Nintendo 3DS oder Game | |
| Boy groß geworden sind, werden die Geräte und Videospielästhetik | |
| möglicherweise von vielen Menschen mit den sorgenfreieren Zeiten der | |
| eigenen Kindheit assoziiert. | |
| Alec Pugliese, Bassist von Copes, fiel diese emotionale Wirkung bereits | |
| während seines Studiums der bildenden Künste auf. „Ich benutzte damals ganz | |
| viele Videospiele und veraltete Technologie, um eine Bildsprache zu | |
| schaffen, die Zuschauer auf sentimentale Art und Weise erreicht.“ Dieses | |
| kollektive Unterbewusstsein zapfte Pugliese dann auch im Clip zu „Vertigo“ | |
| an, den er 2017 drehte. Bei den Dreharbeiten stellte ihn die veraltete | |
| Technik vor einige Herausforderungen. Weil die Brennweite der Game Boy | |
| Camera zu klein war und er nicht wie gewollt alles ins Bild bekam, musste | |
| er ein Fischaugenobjektiv an der winzigen Linse anbringen. Außerdem nahm | |
| die Kamera kein externes Audio auf, weswegen er später beim Schneiden | |
| darauf achten musste, dass die Bewegungen von Drummer Vinnie Burke zum Lied | |
| passten. | |
| ## Unzählige farbige Punkte | |
| Eben diese Schwierigkeiten sind es aber, die die Bands Musikvideos mit | |
| alten Videospielkonsolen drehen lassen. „Wir leben in einer Welt, in der | |
| alles einfach und direkt verfügbar ist“, so Pugliese, „ich finde nicht, | |
| dass daran irgendetwas falsch ist, Aber es tut gut, mal etwas Manuelles zu | |
| machen. Für mich fördern solche Herausforderungen die Kreativität.“ Fanfan | |
| ist der gleichen Auffassung. „Moderne Aufnahmetechniken, sowohl in der | |
| Musik als auch im Film, versuchen dem Künstler immer vollen Zugang zu ihren | |
| Werkzeugen zu geben, mit so wenigen Einschränkungen wie möglich. | |
| Unterschätzt wird dabei, wie schön es ist, sich eben an den Begrenzungen | |
| der Konsolentechnik abzuarbeiten.“ | |
| Hinzu kommt der günstige Preis der Filmgeräte. Bei eBay geht die Game Boy | |
| Camera schon für gerade mal 10 Euro weg, während der Preis der kompatiblen | |
| Game-Boy-Konsolen 50 Euro nicht überschreitet. Auch den neueren 3DS gibt es | |
| teilweise schon für unter 100 Euro. | |
| Dass Videospielkonsolen auch ganz neue Sichtweisen eröffnen können, | |
| [3][zeigt das Musikvideo zu „Sunday“ des Berliner Elektropop-Duos Sissi | |
| Rada] aus dem Jahr 2015. Die dargestellten Menschen, Tiere und Objekte | |
| bestehen aus unzähligen animierten farbigen Punkten, die sich anscheinend | |
| nicht auf eine feste Form einigen scheinen. Wann immer sich die Körper im | |
| Video bewegen, ziehen sie Schlieren hinter sich her – so als ob sie an | |
| mehreren Stellen in der Zeit gleichzeitig existieren würden. | |
| Das Video wurde vollständig mithilfe von „Microsoft Kinect V2“ aufgenommen, | |
| einem von 2013 bis 2017 hergestellten Zubehör für die Spielkonsole Xbox | |
| One. Dank einer Kombination aus Streifenprojektion, Infrarotsensoren sowie | |
| einer Farbkamera kann diese die Bewegung von Spieler*innen erkennen und | |
| verarbeiten. So ermöglicht der Clip es gewissermaßen, die Welt durch die | |
| Augen einer Maschine wahrzunehmen. | |
| ## „Nintendographie“ | |
| „Da der Text von ‚Sunday‘ sehr viele verschiedene Episoden und verträumte | |
| Momentaufnahmen erzählt, kam schnell die Idee, das abstrakt und abgewandelt | |
| aufzugreifen“, so Johannes Timpernagel vom Animationsstudio | |
| „schnellebuntebilder“, die den Clip für Sissi Rada drehten. Ein halbes Jahr | |
| dauerten die Arbeiten am Musikvideo. Allein die Postproduktion nahm zwei | |
| Monate in Anspruch, weil das Studio unter anderem noch ein Programm zur | |
| Kreation der kleinen Partikel entwickeln musste, die im Video | |
| umherschwirren. | |
| Bislang sind Clips wie die von Rat October, Copes und Sissi Rada Raritäten. | |
| Eine richtige künstlerische Bewegung, die Musikvideos mit | |
| Videospielkonsolen dreht, zeichnet sich noch nicht ab. „Videospiele und | |
| überholte Technologie hatten definitiv einen Impact auf die aktuelle | |
| Popkultur“, meint Pugliese, „aber auch wenn die Ästhetik derzeit populär | |
| ist, benutzt der Großteil der Musikvideomacher nicht die Geräte von | |
| damals.“ Wirklich verübeln kann der Copes-Bassist es ihnen nicht. „Es ist | |
| hart, nicht von der neuen Technik angezogen zu werden“, gesteht er, | |
| „immerhin ist es 100 Mal einfacher auf einem iPhone zu filmen und einen | |
| VHS-Filter zu benutzen, damit das Video so wirkt, als ob es aus den 1990ern | |
| käme.“ | |
| Nicht zuletzt wegen den positiven Reaktionen auf ihre Videos wollen zeigt | |
| das Musikvideo zu „Sunday“ des Berliner Elektropop-Duos Sissi RadaPugliese | |
| und „schnellebuntebilder“ aber weiterhin auf Spielekonsolen als | |
| Aufnahmegeräte zurückgreifen. Und auch Rat October überlegen sich, bei | |
| einem ihrer nächsten Clips die 3D-Funktion der Nintendo 3DS-Kameras zu | |
| nutzen. Die ermöglicht es, Videos in 3D aufzunehmen und auch auf dem Gerät | |
| abzuspielen. Einen Namen für diese neue Art von Musikvideos hat die Band | |
| jedenfalls schon mal parat: „Nintendographie“. | |
| 16 Feb 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=ajJKoVPhbxM | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=i1X1I2S_imw | |
| [3] https://vimeo.com/145836531 | |
| ## AUTOREN | |
| Maxime Weber | |
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