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# taz.de -- Piazza-Philosoph in Italien: Zurück zu Sokrates
> Ein ehemaliger Bademeister versucht auf öffentlichen Plätzen, die
> politische Kultur Italiens zu retten. Passanten will er zur Diskussion
> ermuntern.
Bild: Ferdinando Piva will Italien aus der Kulturkrise retten. Was er dafür br…
Bologna/Padua taz | Ferdinando Piva steht im Weg. Den Massen, die, mit
Einkaufstüten bepackt, vorbeidrängen. Den Touristen, die zur Basilika San
Petronio strömen. Und dem Studenten, der zum kostenlosen Rockkonzert will,
drüben auf der Piazza Maggiore in Bologna. An deren Rand hat Ferdinando
Piva sich positioniert. Mit Büchern von Staatsdenkern und Philosophen,
seinen eigenen Schriften, einer Kiste Mandarinen – und einem
Haushaltshocker aus weißem Plastik. Auf dem steht der Student, unwillig.
Ferdinando Piva hat ihn hinaufmanövriert, ehe er wusste, wie ihm geschah.
Es ist ein Donnerstagnachmittag im Herbst. 20 Leute stehen um den Studenten
herum im Kreis und schauen ihn an, grinsend, erleichtert, neugierig. Der
junge Mann, taillierter Blazer, Gucci-Sonnenbrille, zögert: „Keine Ahnung.
Worüber soll ich reden?“ Ferdinando Piva steht ihm gegenüber, mit einer
dünnrandigen Brille. Die Strickmütze sitzt ihm fast auf der Nase, die
Trikolore hat er um den Hals gewickelt wie einen Schal, darunter ein
unförmiger Pullover, verblichene Hosen. Die Passanten siezt er, aber ihn
sollen alle beim Vornamen nennen.
Er will mit den Leuten diskutieren, über Gesellschaft, Politik, Kultur und
Geisteshaltung. Die Passanten haben das nicht im Sinn, wenn sie die Piazza
kreuzen. Am wenigsten der Student auf dem Plastikhocker. Also greift
Ferdinando ein: „Sie treiben im Meer und können nicht schwimmen. Was tun
Sie?“ Der Student schnauft. „Ich suche ein Boot?“ „Sie rufen ein einzig…
Wort: HIL-FE!“, donnert Ferdinando. „Deswegen bin ich hier. Ich rufe Hilfe!
Für unsere Gesellschaft. Das Problem sind nicht Mafia und
Staatsverschuldung. Es fehlt der Gemeinsinn. Die Gesellschaft ist ein Baum,
der an den Wurzeln krank ist.“ Die Leute schauen. Und schweigen.
Das ist Ferdinando. Ehemaliger bagnino, Bademeister im Ruhestand. 68 Jahre.
Philosoph ohne Abschluss. Querkopf. Visionär. Geächteter. Aufgewachsen im
Nachkriegsitalien der Klassenkämpfe und politischen Attentate, der
Korruptionsaffären, der Wirtschaftskrisen. Für Ferdinando steckt Italien
dauerhaft in einer Kulturkrise. Seit Jahrzehnten kämpft das Land mit
Inflation, der Mafia, der Bürokratie. Die Bankenkrise 2008 enthüllte, dass
Italiens Gesellschaft seit Langem auf Pump lebt. Heute wird sie regiert
von einer Koalition der rechten Lega und der Populisten der
Fünf-Sterne-Bewegung. All das, so Ferdinandos Überzeugung, ist hausgemacht.
„Die Politik, wie die Kunst, die Musik, die Literatur spiegeln nur die
Gesellschaft wider, in der wir leben“, sagt Ferdinando. „Der Zustand ist
nicht das Problem, er ist ein Symptom.“
Eine geistige Revolution – auf nichts Geringeres will er seine Mitbürger
vorbereiten. Seit dreißig Jahren tourt er jede Woche über die Plätze
Norditaliens. Donnerstags, etwa 15 Uhr: Bologna. Freitags, etwa 16 Uhr:
Padua. Und so oft er es schafft: Modena, Ravenna, Parma, Ferrara. Wer auf
seinen Schemel gerät, der muss reden, eine Meinung haben – und wenn er
keine hat, treibt Ferdinando ihn mit seinen Fragen in die Ratlosigkeit, in
die Weißglut oder in eine Erkenntnis, die eine Diskussion in Gang bringt.
Die Methode ist nicht neu. Sokrates hat sie erfunden. Er wandte sie an, um
seinen philosophischen Kollegen zu helfen. Wussten die mit ihren Theorien
nicht weiter, fragte er sie so lange darüber aus, bis sie einen
Geistesblitz hatten oder erkannten, dass ihre Gedanken in eine Sackgasse
führten. Er bezeichnete sich deswegen als geistige Hebamme. Ferdinando, der
ehemalige bagnino, wirft Rettungsleinen aus. Er will nicht dozieren, er
will diskutieren und aufwecken. Seine Gesprächsrunden sind
Charakterstudien, Bestandsaufnahmen der Gesellschaft: Philosoph trifft
Passant. Aber vor allem stört Ferdinando beim Shoppen.
## Das Spiel mit der heißen Kartoffel
Bologna, Piazza Maggiore, eine Stunde früher. Der Platz ist voll.
Ferdinando steht auf seinem Schemel. Bettler nehmen sich Mandarinen, nicken
ihm zu, huschen davon. Wenige Meter weiter sind Polizisten versammelt,
wegen des Rockkonzerts, nicht wegen Ferdinando. Sie schauen angestrengt
weg. Er räuspert sich. „Man muss bescheuert sein, um das hier zu machen.
Ich rede mit Mauern. Hier ist immer nur Party“, beginnt er. Die Musik reißt
seine Stimme fort. „Die Gesellschaft muss sich ändern!“ Tausendfacher
Applaus brandet auf. Wegen der Fallschirmspringer, nicht wegen Ferdinando.
Sie landen auf der Piazza, zum Gedenktag des Stadtpatrons Petronius.
Ein jugendlicher Lockenkopf wird auf die Bücher aufmerksam und blättert
durch Ferdinandos Schriften. „Sagen Sie, was Sie davon halten“, ermuntert
der. „Darf ich auch eine Mandarine nehmen?“ Ferdinando drückt ihm eine in
die Hand. Klonk. Knallend landet der schmutzigweiße Hocker vor den Füßen
des Lockenkopfs. Jetzt hat er ihn. „Warum sind wir hier? Was bedeutet es,
dass wir uns so austauschen? Dass ich Ihnen eine Mandarine gebe?“, fragt
Ferdinando. Aus der Menge lösen sich Neugierige, die auf den ersten Fang
gewartet haben. „Die Piazza ist frei für alle. Wir teilen Essen …“,
versucht es der Lockenkopf. Ferdinando fährt dazwischen: „Die Piazza
sollten wir teilen, als Tempel der Demokratie, der Zivilisation und des
Austauschs. Stattdessen ist sie ein Kaufhaus.“ Der Lockenkopf sagt: „Ich
weiß auch nicht. Ich bin erst seit zwei Tagen hier.“
Dutzende stehen jetzt im Kreis. Das Spiel mit der heißen Kartoffel beginnt.
Klonk, klonk, klonk. Der Schemel landet in der Leere, die Leute weichen
aus. Stille. Manchmal fragt Ferdinando: „Was haben Sie beizutragen?“ Oder:
„Worüber sind sie wütend?“ Er ermahnt: „Schüchternheit wird zur schlec…
Gewohnheit.“ Oder: „Gute Frau, das ist moralische Pflicht.“ Klonk. Es ist
Sensationslust, die sie dort stehen bleiben lässt, Ferdinando macht sich
nichts vor. Die meisten wollen nur einen Verrückten anschauen.
## Das Land der verpassten Chancen
Ferdinandos Haus ist hundert Kilometer von der Piazza Maggiore entfernt, am
Rande des Lagunenstädtchens Comacchio. Es ist aus Holz, flach, das Dach
ragt über Orangen- und Olivenbäume. Er hat es selbst gebaut, 1989. Das war
das Jahr der großen Algenpest: Eine dicke Suppe überzog damals die Adria,
stinkend und giftig. Sie trieb Ferdinando in den Ruin. Er verlor seinen
Tretbootverleih, verkaufte einen Teil des Grundstücks, sein altes Haus.
Dann zimmerte er ein neues zusammen und begann, auf die Piazza zu gehen.
„Es ist, als habe mich jemand auf Rollschuhen bergab geschubst“, sagt
Ferdinando. „Da hat man keine Wahl: Man rollt.“ Ferdinandos Frau, klein,
rot gefärbte Haare, kommt nach Hause. Sie war bei ihrem Treffen der
Frauenrechtlerinnen. Sie schickt Ferdinando zur Mittagsruhe, erwärmt
Kürbissuppe, und sagt, sie sei froh über ihr Engagement. So sei alles
besser auszuhalten. Was sie damit meint, sind Ferdinandos Verhaftungen, die
Prozesse: wegen Verstoßes gegen das Versammlungsrecht, Aufruf zur
Rebellion, Verunglimpfung des Präsidenten.
Ferdinando und seine Frau lieben sich und leben zusammen. Aber sie haben
sich scheiden lassen, um möglichst viele seiner gesellschaftlichen und
finanziellen Unannehmlichkeiten von ihr fernzuhalten. Ferdinando war schon
auf Bewährung verurteilt und zweimal in Haft. Auch da hält er es wie
Sokrates: Falls man ein Gesetz aus moralischen Gründen nicht einhalten
könne, dürfe man dagegen handeln, müsse aber auch seine Schuld bekennen.
Ferdinando vertritt sich in Prozessen selbst, plädiert immer auf „schuldig“
und fordert stets die Höchststrafe. Frei ist er nur aufgrund einer
Amnestie, die Italiens überfüllte Gefängnisse entlasten sollte. Er hat sich
dagegen gewehrt. Aus seiner Sicht entlarvt sich der Staat im Umgang mit ihm
selbst.
Ferdinandos Tochter hat dieselben Bücher gelesen wie ihr Vater, aber andere
Schlüsse daraus gezogen. Sie ist fortgegangen, mit Mann und Kind, auf einen
abgelegenen Hof, als Selbstversorgerin. Der Vater glaubt: Auch dort wird
sie die Welt einholen. Er attestiert der Gesellschaft, was er
„Gruppenautismus“ nennt: einen Rückzug der Italiener in eine kleine Welt,
die am Gartenzaun endet und in der sie souverän sein können. Für Ferdinando
eine Illusion. Seit Jahren kämpft Italien mit der Wirtschaftskrise.
Kleinunternehmer kämpfen mit Unsicherheit, Arbeiter werden monatelang nicht
bezahlt. Akademiker schlagen sich mit Praktika durch, wer einen befristeten
Vertrag ergattert, hat Glück. Die Arbeitslosenquote liegt bei 10,5 Prozent,
jeder dritte junge Erwachsene ist betroffen.
Doch auf der Piazza Maggiore in Bologna läuft es an diesem Tag. Viele junge
Erwachsene wollen reden. Männer, die dabei zu Boden blicken, Frauen, deren
Stimmen kaum hörbar sind. Immer wieder schielen sie zu Ferdinando. Der
wandert herum, verteilt Mandarinen, liest, lauscht – und denkt nicht daran,
das Gespräch zu lenken. „Ich bin kein Professor, nur ein bagnino“, sagt er.
Die Älteren mausern sich zu engagierten Zuhörern, rufen dazwischen, wissen
es besser – aber weigern sich, auf den Hocker zu steigen. „Demokratie
basiert auf Regeln“, sagt Ferdinando. „Wer auf dem Schemel steht, spricht.
Die anderen hören zu.“ Er wiederholt diese Regeln oft. „Zivile Gymnastik“
nennt er seine Versammlungen. Es geht um Italiens Probleme. Aber etwas
läuft nicht. Nur was?
„Es waren immer die Hungrigen, die das System geändert haben“, sagt einer.
Ein anderer: „Okay, wir stecken in der Scheiße. Wie kommen wir raus? Es
braucht eine Führungsperson.“ Ferdinando meldet sich, steigt ordnungsgemäß
auf den Schemel und sagt, dass man sich bisher immer einem wahnsinnigen
Despoten unterworfen habe. „Oder wir waren untätig im ewigen Warten auf die
Richtigen“, fügt er hinzu. „Immer endet es im Chaos. Wir müssen uns um die
Werte vereinigen.“ Der letzte Satz ist sein Mantra. In ihm versammeln sich
Ferdinandos zentrale Begriffe: Bürgersinn, ziviles Bewusstsein,
Gemeinschaftsgefühl, Respekt, die Fähigkeit zur kollektiven Selbstkritik.
Italien ist für Ferdinando das Land der verpassten Chancen. Hier gab es
keine Französische Revolution, die, wie Ferdinando glaubt, den Franzosen in
hundert harten Jahren die Begriffe „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“
so eingeimpft habe, dass auf deren Basis die Bürger immer wieder
zusammenfänden. Das vereinte Italien ist nicht aus einem gemeinsamen
Patriotismus entstanden, da ist sich die Geschichtsschreibung weitgehend
einig. Überzeugt habe das schlagkräftige Heer, mit dem Giuseppe Garibaldi
losgezogen war, der Vater der Einheit. Ferdinando glaubt: Nur ein einziges
Mal haben sogenannte Werte die Italiener vereint. Im Faschismus. Glauben,
gehorchen, kämpfen. Dann erschuf man zwei Mythen, die bis heute die
Schuldfrage übertünchen, und vor Selbstkritik schützen: die Befreiung durch
die Amerikaner, und die Geschichte der heldenhaften Antifaschisten.
Plötzlich seien alle Partisanen gewesen.
Anfang der Neunziger, wieder eine Chance: der parteiübergreifende
Korruptionsskandal Tangentopoli. Es begann damit, dass ein
Bürgermeisterkandidat für Mailand mit dem Schmiergeld für einen
öffentlichen Auftrag erwischt wurde. Es folgten Festnahmen von Tausenden
Politikern und Unternehmern wegen des Verdachts der Korruption. 3.200 Fälle
landeten vor Gericht. Tangentopoli beendete die Erste Italienische
Republik.
Aber das Machtvakuum brachte keine Besserung, sondern Berlusconi. Der
änderte vieles, vor allem, weil er mit seinem jovialen Lebensstil
imponierte. Ferdinando sagt, dass Berlusconi das tat, was in der
Gesellschaft längst üblich war: auf Pump leben. 40 Jahre lang haben die
Regierungen Probleme angehäuft, statt sie zu lösen. Der aufgeflammte
Rassismus sei das Resultat. „Rassismus entsteht, wenn man Probleme nicht
lösen und seine Wut darüber an jemand anderem loswerden kann“, glaubt
Ferdinando. „Das ist die letzte Phase. Der Kollaps wird kommen.“ Und dann?
Sind die Italiener reif für eine neue Gesellschaftsordnung in Ferdinandos
Sinne? Eine, die sich aus sich selbst heraus erneuert, ohne dass es alle
zwei Generationen zu Ausschreitungen kommt?
## Falsche Diagnose, falsches Gegenmittel
Diese Gedanken sind Ferdinando nicht neu. Im Jahr 2011 sieht er schon
einmal den Kollaps nahen: Die Finanzkrise ist voll in Fahrt, Berlusconi
geschasst, und die Ratingagenturen, die Europäische Union, Gläubiger auf
der ganzen Welt haben es auf Italien abgesehen. Damals sitzt Ferdinando auf
der Couch in seinem Holzhaus und kneift die Finger angestrengt um die
Nasenwurzel, weil er jeden Tag alle Zeitungen liest, deren er habhaft
werden kann – auf Italienisch, Englisch, Spanisch. Und auch damals schiebt
er seinen Karren eilig durch Bolognas Gassen.
Dort erwarten ihn einige ältere Herren, Arbeiter. Er beginnt seine Runde
auf der Piazza Maggiore mit den Worten, dass nun die Stunde der Bürger sei,
dass man sich vereinen und auf eine neue Gesellschaftsordnung einigen
müsse. Die Runde streitet über die Legalisierung von Cannabis. Ferdinando
wandert im Zirkel immer heftiger auf und ab, mit hartem Gesicht,
schweigend.
Je tiefer das Land in die Krise rutschte, desto größer wurde die
Fünf-Sterne-Bewegung, die sich als Volksbewegung versteht und oszilliert
zwischen links und rechts, zwischen Ausstieg aus dem Euro und dem
bedingungslosen Grundeinkommen. Zu ihrer ersten landesweiten
Großkundgebung, dem Vaffanculo Day 2008, war auch Ferdinando als Redner
eingeladen, auf der Bühne in Bologna. Aber sein Auftritt dauerte nur wenige
Minuten: Zuerst drückte er seine Freude über die neue Bewegung aus. Doch
als er zu fragen begann, wie genau die Fünf Sterne denn alles anders machen
wollten, drehte man ihm vor Tausenden Zuschauern das Mikrofon ab.
„Sie haben sich in der Diagnose geirrt und damit auch im Gegenmittel“, sagt
Ferdinando. „Für sie sind die Regierenden die Bösen, die man nur durch gute
Menschen ersetzen muss. Damit findet man zwar viel Zustimmung, aber es
schafft nur Politikverdrossenheit.“
## Geld können sie uns nehmen, Kultur nicht
Sieben Jahre später ist Ferdinando wieder mit dem Schemel unterwegs. Jetzt
in Padua. Früher stolze Stadtrepublik, heute reiche Industriestadt. Seit
Jahren regiert hier die rechtspopulistische Lega. Er schlägt sein Lager in
der Fußgängerzone auf. Mitten im Weg. Es ist wie immer: Klonk, der Hocker
schlittert über das Pflaster in die Leere. Passanten weichen aus. Dann ein
Dialog darüber, warum immer so auf der Regierung rumgehackt werde. Mal
sind die Banker schuld, mal die Politiker, mal die sozialen Medien.
Eine Studentin erzählt von einem Integrationsfest. „Alle müssen einen
Schritt nach vorn gehen“, sagt sie, „diejenigen, die herkommen, und wir.
Denn im Herzen sind wir gleich.“ „Prima noi“, ruft einer der Alten, „Er…
wir“. Gegenrufe. Immer mehr stoßen zu der Runde dazu, zehn, zwanzig,
dreißig. Ein Junge sagt, dass er Angst habe, weil sich keiner mehr auf die
Straße traue. „Niemand könnte mir zu Hilfe kommen“, sagt er. Ein
Lega-Anhänger spricht nun von Mentalitäten, von „Rassen“. Eine junges
Mädchen protestiert: „Was der Mann sagt, ist dumm.“ Der Rentner stänkert:
„Selber dumm.“ Die Menge schimpft auf ihn ein.
Die Menschen drängen aufeinander zu, gestikulieren, ziehen an Ärmeln, um
den Redner vom Hocker zu bekommen, brüllen aus der Menge, werden
zurückgedrängt. Der Kreis zieht sich enger zusammen, 80 Leute drohen
kurzzeitig aufeinander loszugehen. Die Jungen gegen die Alten, ein
kollektiver Tobsuchtsanfall. Ferdinando steht außen. Er sagt nichts. Nach
eineinhalb Stunden gibt er sich einen Ruck, räumt die Bücher auf seinen
Sackkarren, die restlichen Mandarinen. Er geht. Ohne Hocker. Schweigt, bis
er zwei Gassen weit weg ist. Dann sagt er, fast amüsiert: „Das war ein
gutes Beispiel für unsere Gesellschaft.“
Wie anders war es tags zuvor in Bologna. Dort kam man auf Staatstheorie,
dachte über Bürgerschaft nach. Darüber, was einen Bürger auszeichnet, wann
ein Mensch ein Bürger ist und was Bürger vereint. Ein Staat? Tradition?
Kultur?„Ich sehe mich der italienischen Kultur zugehörig“, sagt ein junger
Arzt. „Manchmal fühle ich mich nicht repräsentiert, aber ich kann nicht
leugnen, dass ich Italiener bin.“ Ältere Leute blättern, Jüngere scrollen
auf dem Handy durch Gesetzestexte.
Der Student im Blazer liest Artikel 3 der Verfassung vor: „Aufgabe des
Staates ist es, wirtschaftliche und soziale Widrigkeiten vom Bürger
fernzuhalten, die Freiheit und Gleichheit einschränken und die persönliche
Entwicklung und Teilhabe an Politik, Wirtschaft und Sozialleben behindern.“
Man stellt fest, dass das nicht umgesetzt sei. Dass man ja gar keine Wahl
habe, Bürger zu sein. Ob man überhaupt Bürger sei oder doch eher Untertan?
Dass das höchste Staatsziel immer die Wirtschaft sei, sei ein Fehler,
findet eine Frau. Es müssten die Werte im Zentrum stehen, die Kultur.
„Kultur entsteht im Kopf“, sagt einer. „Kultur geht über Lektüre und Di…
hinaus. Kultur sind Werte, Charakter, Erziehung, Moral“, meint eine andere.
Leute nicken. „Geld können sie uns wegnehmen. Kultur nicht“, ruft ein
junger Mann.
Das Rockkonzert ist längst vorbei. Im Hintergrund dröhnt ein
Trommlerensemble. Da drängt ein betrunkener Senior in die Runde, wirft
Stalin, die Faschisten und Hitler durcheinander, lobt und verdammt
abwechselnd die faschistischen Arbeitslager zu Kriegszeiten. Ferdinando
quatscht ihm nach etwa drei Minuten den Hocker ab und steigt selbst hinauf.
„Wenn Hitler, Mussolini oder auch Salvini in unseren Kreis kämen – würden
wir sie reden lassen?“ Unwillen im Kreis. Seufzen. Einige murmeln: No.
„Doch, natürlich“, sagt Ferdinando. „Und dann würden wir erwidern.“
2 Feb 2019
## AUTOREN
Sabine Oberpriller
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