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# taz.de -- Gruseltheater in Bremen: Gänsehaut im Kuriositätenkabinett
> Armin Petras bringt am Theater Bremen eine knallbunte Vaudeville-„Lulu“
> mit der britischen Band The Tiger Lillies auf die Bühne. Dabei bleiben
> die Abgründe zu flach.
Bild: Viel los ist im jedem Fall auf der vollgerümpelten Bühne.
Bremen taz | Ratlos müsste einen der Abend eigentlich nicht machen. Denn
was Martyn Jacques von den Tiger Lillies bei seiner Wedekind-Lektüre
umgetrieben hat, lässt sich im vorletzten Song der Platte „Lulu – A Murder
Ballad“ ganz einfach nachhören: Es ist die Frage, ob Jack the Ripper
masturbiert, wenn er an seine Mordtaten denkt. Ob er vom Teufel besessen
sei, oder zumindest glaubt, in Gottes Namen die Sünderinnen auszumerzen.
Eines dieser Opfer ist Lulu – und auf der Bremer Bühne bleibt von den
Frauen dann folgerichtig auch kaum mehr als eben dieses Opfer.
Man muss es kurz erklären: Frank Wedekinds Doppeldrama „Erdgeist“ und „D…
Büchse der Pandora“ erzählt die Geschichte von Lulu als eine
Männerphantasie, als Projektionsfläche, die – wenn schlüssig inszeniert und
in all ihren Widersprüchen überzeugend gespielt – schließlich Macht über
„ihre“ Männer erlangt. Das ist eine sexistische Konstruktion, aber eine,
die seit gut hundert Jahren vorführt, wie sie das Publikum in sexistischen
Gesellschaften auf die Palme zu bringen weiß.
Aus dieser Vorlage haben die britischen Monstrositätenkabarettisten, The
Tiger Lillies, ein symbolisch überladenes, schwarzhumoriges
Karnevalsprogramm entworfen. Das wiederum hat Goetheplatz-Hausregisseur
Armin Petras nun vom allergröbsten Firlefanz befreit als „Lulu – Ein
Rock-Vaudeville“ am Bremer Goetheplatz auf die Bühne gebracht.
Oder vielmehr: Er hat es mitsamt der halben Besetzung aus Stuttgart
mitgebracht, wo Petras/Jacques/Wedekind seit Ende 2017 höchst erfolgreich
gelaufen ist. Die Oberflächlichkeit kann man ihm verzeihen, sie liegt im
Stück und hat gute Gründe: Wedekinds Figuren sind einfach gestrickte Typen,
affektgesteuert und primitiv in ihrer Lust. Interessant ist erst die
ästhetische Auseinandersetzung mit dieser animalischen Ursuppe. Für die
wilhelminische Gesellschaft war es bereits eine Zumutung im besten Sinne,
das Unbewusste nach außen zu kehren.
## Einfach gestrickte Typen
Und heute muss man sich eben entscheiden, was man aus dem Opferstatus einer
von Männern zerstörten Frau macht. Oder auch eben nicht. Bei Petras
jedenfalls ist es einfach eine undatierte Nostalgie. Na gut, das
„Vaudeville“ im Titel meint nicht nur das musikalische Unterhaltungstheater
aus Wedekinds Zeiten, sondern bezieht sich schon auch auf heutiges
Unterhaltungsprogramm, indem es die seelischen Extremzustände zum
knallbunten Spektakel aufbläst.
Die Tiger-Lillies-Songtexte bleiben auf Englisch, in den kurzen Szenen
dazwischen wird gelegentlich übersetzt. Manchmal gelingt eine sehr schöne
Sprache: „Jedes Mal, wenn ich in ein Fleischergeschäft gehe, bin ich
verwundert, dass ich nicht schon selbst da hänge“, manchmal auch lustig mit
Blick auf einen von der Decke baumelnden Haken: „Oh look, a hook.“
Auch musikalisch holt Miles Perkin das Beste aus dem Material, die
Besetzung singt und spielt bezaubernd mit: von morbiden Kaffeehausmomenten,
bis zum (harten) Rockkonzert. Nur auf Jacques’ charakteristischen
Falsett-Gesang muss verzichtet werden. Den kann man eben nicht nachsingen,
wenn man es nicht kann.
## Kurz mal feministisch
Stattdessen wird einmal hochgepitcht, was ein hübsches Zitat ist und
vielleicht auch ein Verweis auf die Seelenlosigkeit des Popgeschäfts, für
das der Autotune-Effekt ja längst pars pro toto steht. Ein Mal ist das
witzig – und ein Mal machen sie es auch nur.
Überhaupt sind die Zutaten haargenau abgemischt und die
Kuriositätenmaschine dieses Stücks gibt vielleicht nicht immer alles, dafür
aber von allem ein bisschen: Zu lachen gibt es was, ein bisschen
schrecklich ist es auch und ein wenig nackte Haut ist auch zu sehen.
Es wird sogar kurz feministisch, als Berit Jentzsch aus der Rolle der
Gäschwitz fährt und ihr Namensschild in Fetzen ans Publikum verteilt. Man
könne ihr ja mal was abnehmen von der Last ihrer Rolle. Das sei im Grunde
ganz leicht und viel habe man auch gar nicht zu tun: „Nur schweigen und in
der Ecke stehen.“ Später wird Simon Zigah als Dr. Shunning sexistische
Witze erzählen – soll vielleicht ein Appell an niedere Instinkte sein.
## Viel Notalgie-Gerümpel
Es ist jedenfalls was los auf der von Julian Marbach mit zwei
Konzertbühnen, einem Altar unter leuchtendem Kreuz und allerlei
Nostalgie-Gerümpel zugestellten Bühne des Kleinen Hauses. Es ist ein
klaustrophobisches Kuriositätenkabinett, aus dem heraus Tier gewordene
Menschen, meist Frauen, das Publikum wortwörtlich anspringen. In der Nähe
des Höhepunkts werden sackweise Zehntausend-Dollar-Noten ins Publikum
geblasen.
Sandra Gerling als rotznasige Hauptfigur Lulu hält sich in diesem Chaos
außerordentlich gut. Wie man der Rolle noch so einen Stolz verleihen kann,
wenn man mit verlaufenem Make-up und selbst im Billigkleid hart overdressed
wie von einem völlig eskalierten Abtanzball nach Hause stapft – es bleibt
ihr Geheimnis. Apropos Abtanzball: Die Botschaft „You’re such a pervert“
bekam das Publikum gleich am Einlass auf Postkarten in die Hand gedrückt.
Schwarz auf weiß: Man soll selbst schuld sein an den vulgären Kindfrauen,
Sadomaso-Bildern, dem Lustmord und so weiter.
Unter den beteiligten Bremer*innen überzeugt besonders Mirjam Rast als Jack
the Ripper, die mit angeklebtem Schnäuzer, Cape und ihren ein Meter sechzig
ein beeindruckendes Monstrum abgibt. Aber auch Simon Zigah und Alexander
Angeletta fügen sich mit je eigener Handschrift ein in den bunten Reigen.
So weit, so gut. Doch so unterhaltsam das Stück auch ist: Dafür, dass es im
Text von Hölle, Tod und Suizid nur so wimmelt, bleiben die seelischen
Abgründe doch ausgesprochen flach.
## Abgründe bleiben flach
Es ist halt der Stoff, aus dem sich Dark Cabaret immer wieder bedient, der
letztlich ein bisschen Gänsehaut macht und weiter nichts. Dass dazu wie
selbstverständlich auch Unterwerfung und Objektivierung der Frauen gehört,
das nervt nach #metoo ein bisschen mehr als vorher – weil es sowas
absichtlich Ignorantes hat.
Wobei: Vielleicht droht der Diskurs über Feminismus, beleidigten Männern
und der Gleichberechtigung ja tatsächlich zum Spektakel zu verkommen.
Vielleicht will das Stück daran Kritik üben. Deutlich wahrscheinlicher ist
aber: Hier war einfach allen alles egal.
16 Jan 2019
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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