# taz.de -- Ver.di-Frau über die Pflegekammer: „Bürokratisches Monster“ | |
> Ver.di will gegen die Zwangsbeiträge der Pflegekammer in Niedersachsen | |
> klagen. Die seien zu hoch, sagt Aysun Tutkunkardes – und die Kammer nicht | |
> im Sinne der Pflegenden. | |
Bild: Die Mitgliedschaft in der Kammer ist Pflicht: PflegerInnen protestieren | |
taz: Frau Tutkunkardes, warum wollen Sie gegen die niedersächsische | |
Pflegekammer klagen? | |
Aysun Tutkunkardes: Wir haben große rechtliche Bedenken, ob die | |
Zwangsbeiträge verhältnismäßig sind. Die Frage ist: Steht die | |
Zwangsmitgliedschaft in einer Pflegekammer und der damit verbundene | |
Grundrechtseingriff im Verhältnis zu dem, was die Pflegekräfte von der | |
Pflegekammer erwarten dürfen. | |
Und Sie glauben, dass die Pflegekräfte zu wenig dafür kriegen? | |
Genau. Zum einen ist der Beitrag deutlich zu hoch angesetzt und zum anderen | |
ist die Zwangsmitgliedschaft ein ungerechtfertigter Eingriff in die | |
Vereinigungsfreiheit, die im Grundgesetz verankert ist. | |
Niemand darf gezwungen werden, Mitglied in einer Organisation zu werden. | |
Genau, die einzige Ausnahme sind Körperschaften öffentlichen Rechts in Form | |
einer Kammer. Und auch die Auswahl der Zwangsmitglieder ist problematisch. | |
Wir haben etliche Fälle von KollegInnen, die gar nicht mehr in der Pflege | |
arbeiten und trotzdem verkammert wurden, weil sie den Beruf ja potenziell | |
ausüben könnten. | |
Aber im Kammergesetz steht doch, dass nur diejenigen Mitglied werden | |
müssen, die die Qualifikation für einen Pflegeberuf haben und den Beruf | |
gleichzeitig in Niedersachsen ausüben. | |
Ausüben und ausüben könnten. So legt es die Kammer aus. Wir haben Fälle von | |
KollegInnen, die als Sozialpädagogen in Einrichtungen der Behindertenhilfe | |
arbeiten und deren Stellenbeschreibung nichts mehr mit Pflege zu tun hat | |
und die trotzdem verkammert worden sind. | |
Sie kritisieren, dass die Beiträge von 0,4 Prozent des Jahresgehaltes zu | |
hoch sind. Bei Ver.di müssen die Mitglieder ein Prozent bezahlen. | |
Sie sind aber freiwillig Mitglied. Das ist der wesentliche Unterschied. | |
Ist Ver.di Gegner der Kammer, die sich selbst als Parlament der Pflegenden | |
bezeichnet, weil sie Konkurrenz für die Gewerkschaften bedeutet? | |
Nein. Die Gewerkschaft bleibt trotz der Kammer sehr wichtig. Denn die hat | |
ja überhaupt keinen Einfluss auf die Lohngestaltung und wird nie | |
Tarifverhandlungen führen können. Das ist eine unserer Kernaufgaben. | |
Aber auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen hätte sie doch schon | |
Einfluss. | |
Nein. Der Auftrag der Pflegekammer ist nicht die politische Vertretung der | |
Pflegekräfte, sondern die Bevölkerung vor schlechter Pflege zu schützen. | |
Das hat primär nichts mit den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten zu tun. | |
Die Kammer kann aber ein Ansprechpartner für die Landespolitik sein und | |
Forderungen für bessere Bedingungen äußern. | |
Theoretisch schon. Aber die Politik hätte in der Vergangenheit auch ohne | |
die Kammer schon etwas an den Arbeitsbedingungen verbessern können. Es gab | |
schon immer Verbände und Gewerkschaften, die sich dafür eingesetzt haben. | |
Warum sollte die Politik jetzt der Kammer zuhören? Außerdem ist letztlich | |
der Arbeitgeber dafür verantwortlich, für gute Arbeitsbedingungen zu sorgen | |
und auf den hat die Kammer keinen Einfluss. Sanktionen gibt es nur für | |
Kammermitglieder. | |
Das heißt? | |
Die Pflegekammer wird ihre Mitglieder über eine Berufsordnung zu Standards | |
verpflichten, und wenn sie die nicht einhalten können, folgen Sanktionen. | |
Das Problem wäre dann, dass die Pflegenden die Einhaltung der Standards gar | |
nicht in der Hand haben, wenn die Arbeitgeber die Rahmenbedingungen nicht | |
schaffen? | |
Genau. Als Beispiel: Am Wochenende muss ich als Pflegekraft mit einer | |
Hilfskraft alleine 20 schwerstkranke Patienten versorgen, weil sich morgens | |
die anderen krank gemeldet haben. Wenn ich dann die Patienten nicht lagern | |
kann, kann ich doch als Pflegekraft nicht dafür haftbar gemacht werden. | |
Ausreichend Personal ist Aufgabe des Arbeitgebers. | |
Fordern Sie die Abschaffung der Kammer? | |
Wir fordern zumindest eine Vollerhebung unter den Pflegekräften. Die | |
Landesregierung hat im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass es 2020 eine | |
Evaluation geben soll. Unsere Forderung lautet: Macht die Erhebung jetzt | |
und fragt jede einzelne Pflegekraft, ob sie die Kammer will. Bei über | |
40.000 Unterschriften bei der Online-Petition sehen wir derzeit nicht, dass | |
es eine Mehrheit dafür gibt. | |
Nach der Wahl zur Versammlung der Pflegekammer hat sich Ver.di ziemlich | |
dafür gefeiert, dass sie dort mit acht von 31 Plätzen die stärkste Fraktion | |
bilden. Sind Sie jetzt gegen oder sind Sie Teil der Kammer? | |
Als Organisation sind wir nicht Teil der Kammer. Wir haben versucht, die | |
Kammer zu verhindern, weil wir sie für ein bürokratisches Monster ohne | |
Zusatznutzen halten. Aber jetzt wo sie da ist, versuchen unsere | |
Ver.di-Mitglieder in der Kammer, die Interessen der Beschäftigten zu | |
vertreten. | |
Stimmt es, dass die Ver.di-Mitglieder im Errichtungsausschuss dafür | |
gestimmt haben, dass in diesem Brief, der bei PflegerInnen jetzt so großen | |
Protest ausgelöst hat, die Höchstgrenze von 280 Euro genannt war? | |
Unsere Ver.di-Mitglieder haben sich vehement dafür eingesetzt, dass es | |
keinen Festbetrag, sondern einen prozentualen Beitrag gibt, der eine | |
soziale Staffelung mit sich bringt. Außerdem war vorher ein höherer Satz | |
als 0,4 Prozent im Gespräch, den sie verhindert haben. | |
Wenn eine solche Höchstgrenze in den Bescheiden genannt wird und diese | |
einem Verdienst entspricht, den in der Pflege kaum jemand erreichen kann, | |
nämlich 70.000 Euro im Jahr, wirkt das provokant. Wollten Sie gezielt | |
Proteste auslösen? | |
Nein, das weise ich von uns. Wir haben frühzeitig vor diesem Verfahren | |
gewarnt, erst den Höchstbetrag festzusetzen und dann von den Leuten zu | |
fordern, dass sie selbst aktiv werden und ihr tatsächliches Einkommen | |
melden, damit sie den individuellen Beitrag erfahren. | |
Macht die Kammer den Beruf unattraktiver? | |
Ja, weil ich wahrnehme, dass KollegInnen sich ernsthaft überlegen, wenn sie | |
mobil sind, in andere Bundesländer zu gehen. Die Masse wird das nicht | |
können. Die Frage ist aber umgekehrt: Wird die Kammer den Beruf für junge | |
Leute attraktiver machen? Das sehe ich nicht. | |
10 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Andrea Maestro | |
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