# taz.de -- Nahversorgung in Tenever: Aldi stellt sich quer | |
> 10.000 Menschen wohnen in Osterholz-Tenever. Eine Einkaufsmöglichkeit | |
> gibt es nicht: Aldi hat seine Filiale geschlossen und verhindert eine | |
> Neuansiedlung. | |
Bild: Der sogenannte Marktplatz in Tenever | |
BREMEN taz | Wenn Anna Zydronik Brot oder Klopapier ausgegangen ist, muss | |
sie in die Straßenbahn steigen. Die nächste Einkaufsmöglichkeit ist | |
anderthalb Kilometer von ihrer Wohnung entfernt, zu Fuß schafft die | |
80-Jährige die Strecke nicht mehr. Der Rücken, die Hüfte. Leisten kann sich | |
die Rentnerin die Straßenbahn eigentlich nicht. Deshalb spart sie am Essen. | |
„Dann kaufe ich halt einen Apfel weniger.“ | |
Dabei liegt ihre Wohnung mitten in Tenever. 10.000 Menschen leben dort nach | |
Zählung des Statistischen Landesamtes. Für sie gibt es vor Ort keinen | |
einzigen Supermarkt, keine Drogerie, keinen Gemüsehändler. Seit vor zwei | |
Jahren der Aldi-Markt in der Koblenzer Straße geschlossen hat, müssen die | |
Teneveraner*innen zum Einkaufen in den Weserpark oder zum Schweizer Eck. | |
Und das ausgerechnet hier, in der Hochhaussiedlung aus den 70er-Jahren, die | |
so konzipiert wurde, dass ihre Bewohner*innen das Viertel nur zum Arbeiten | |
verlassen mussten. Übrig geblieben ist davon nicht viel. Das Schwimmbad | |
gibt es noch, einen Friseur und den Imbiss „Dallas Bistro“. Und bis 2016 | |
den Aldi. | |
Die Filiale in Tenever habe sich – wie die im nahen Mahndorf – nicht | |
gerechnet, sagt Longinius Flenker. Er leitet bei Aldi Nord die Abteilung | |
Immobilien und Expansion. Deshalb habe Aldi beide Märkte geschlossen und | |
eine neue Filiale im Einkaufszentrum „Weserpark“ auf halber Strecke | |
zwischen Tenever und Mahndorf eröffnet. | |
## Einkauf für die Großfamilie | |
Für die Anwohner*innen heißt das: Wer kein Auto hat oder die Strecke nicht | |
laufen kann, muss Straßenbahn fahren. Drei Stationen sind es in beide | |
Richtungen, ein Ticket für eine Kurzstrecke kostet 1,45 Euro. | |
Das ist für viele Menschen in Tenever viel Geld für jeden Einkauf. 4.180 | |
Haushalte zählt das Statistische Landesamt in Tenever, davon bezieht rund | |
ein Drittel staatliche Hilfen. | |
Die fehlende Einkaufsmöglichkeit ist aber nicht nur ein finanzielles, | |
sondern auch ein logistisches Problem. In dem Stadtteil leben | |
überdurchschnittlich viele Alleinerziehende – von denen laut dem aktuellen | |
Armutsbericht des Bremer Senats wiederum über 70 Prozent staatliche Hilfen | |
bekommen. Und zu den Familien, ob mit einem oder zwei Elternteilen, gehören | |
häufig mehr als zwei Kinder. In über der Hälfte der Haushalte mit Kindern | |
leben laut statistischem Landesamt vier und mehr Personen. Ein Einkauf ist | |
da nichts, was mal eben nebenbei erledigt werden kann. | |
„Ein Unding“ nennt Jutta Flerlage die Situation. Sie leitet die | |
Beratungsstelle „Frauengesundheit in Tenever“ und kennt die Probleme der | |
Anwohner*innen aus deren Erzählungen. Auch Anna Zydronik kommt in die Räume | |
der Beratungsstelle neben dem Schwimmbad, um sich über den fehlenden | |
Supermarkt zu beschweren. Besonders wütend ist sie, weil sie vor zwei | |
Jahren extra wegen des Discounters nebenan hierhergezogen ist. | |
„Das Thema bewegt hier viele“, sagt die Frauengesundheit-Mitarbeiterin | |
Flerlage. Sie fragt sich oft, wie die Frauen die Einkäufe für ihre | |
Großfamilien bewältigen. In einem ihrer Kurse kämen auf zwölf | |
Teilnehmerinnen 76 Kinder, rechnet sie vor. Also sechs im Durchschnitt. | |
Aber nicht nur für Familien, sagt Flerlage, auch für ältere Menschen und | |
Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen sei das Einkaufen ein Problem. | |
Davon betroffen sind auch die Bewohner*innen des Altenheims der Bremer | |
Heimstiftung in Tenever. Sieben von ihnen können, erklärt Hausleiterin | |
Marina Aydt, für zwei Euro für Hin- und Rückfahrt mit einem Großraumtaxi | |
zum Weserpark und wieder zurück fahren. | |
Anna Zydronik kauft selbst nur „die kleinen Dinge“ ein, wie sie es nennt. | |
Den Rest besorgen ihre Kinder. Dieser Verlust der Selbstständigkeit macht | |
der alten Frau zu schaffen, sie habe immer für sich selbst gesorgt, sagt | |
sie stolz. „Ich bin wütend und traurig, dass in einem so großen Gebiet | |
nichts für die Nahversorgung getan wird“, sagt sie. | |
## Aldi hat Mitspracherecht | |
Aber wer kann überhaupt etwas tun? „Von politischer Seite den freien Markt | |
zu beeinflussen, ist so gut wie unmöglich“, sagt Mustafa Güngör, | |
Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Osterholz und Mitglied der Bremischen | |
Bürgerschaft. Er sagt, er hoffe dennoch, einen Einzelhändler zu finden, der | |
wenigstens an einigen Tagen einen kleinen Laden öffnen würde. | |
Konkreter sind die Ideen von Ulrich Schlüter, Leiter des Ortsamtes | |
Osterholz. Er hat mit der gemeinnützigen Mariebondo-Stiftung aus | |
Osterholz-Scharmbeck gesprochen, die zwölf Supermärkte in Bremen und | |
Niedersachsen betreibt, in denen auch Menschen mit Beeinträchtigungen | |
arbeiten. Die Stiftung bezieht ihr Sortiment von Edeka, deshalb sind die | |
Geschäfte teurer als Discounter. Maribondo habe sich vorstellen können, | |
einen kleinen Markt neben dem ehemaligen Aldi zu eröffnen, erzählt der | |
Ortsamtsleiter Schlüter. | |
Das Gelände gehört der Dr. Hübotter Wohnungsbau GmbH, die auf dem | |
Grundstück eine Kindertagesstätte gebaut hat. Hübotter sagt, er wäre mit | |
Maribondo einverstanden – aber Aldi stellt sich quer. | |
## Verhandlung auf dem Rücken der Bevölkerung | |
Was viele im Stadtteil fassungslos macht: Dass das Unternehmen überhaupt | |
Mitspracherechte hat. In den Kaufvertrag mit der Hübotter GmbH hat Aldi | |
eine Klausel hineingeschrieben, nach der bis ins Jahr 2036 kein anderer | |
Nahversorger ohne Aldis Einverständnis auf dem Gelände betrieben werden | |
darf. Das bestätigt Klaus Hübotter. | |
Und das Unternehmen nutzt das aus. Die Erlaubnis für einen Maribondo-Markt | |
macht Aldi nun davon abhängig, ob es die Genehmigung von der Stadt dafür | |
bekommt, eine Filiale an einem anderen Standort in der Osterholzer | |
Heerstraße zu erweitern. | |
Doch auf einen solchen Deal will sich die Stadt nicht einlassen. Zu dem | |
Genehmigungsverfahren selbst könne er sich nicht äußern, sagt der Sprecher | |
des Bausenators, Jens Tittmann. „Grundsätzlich bewertet die Stadt einen | |
Bauantrag unabhängig von anderen Genehmigungsverfahren.“ | |
## Ortsamtsleiter schlägt Neubau vor | |
Tittmann gibt zu bedenken, dass die Erweiterung eines Ladengeschäfts das | |
Potenzial hat, mehr Kunden zu binden. Langfristig könnte das dazu führen, | |
dass andere Geschäftes aufgeben müssen – und die Einkaufswege sich | |
verlängern. Wie in Tenever. | |
Und dann gibt es noch den Vorschlag des Ortsamtsleiters, ein neues Gebäude | |
für einen Supermarkt zu bauen. Ein Standort, sagt Schlüter, sei gefunden, | |
die Wohnungsbaugesellschaft Gewoba, der die Fläche gehört, ist | |
einverstanden. Im Prinzip. Sie will aber erst bauen, wenn die Stadt ihr | |
neues Zentren- und Nahversorgungskonzept vorgelegt hat, erklärt Ralf | |
Schumann, bei der Gewoba zuständig für den Bereich Tenever. | |
Denn nach dem derzeit gültigen Konzept von 2009 könnte die Gewoba nur einen | |
Markt mit einer Größe von bis zu 800 Quadratmetern bauen, was aber laut | |
Schumann für Discounter heutzutage zu klein sei. Das Nahversorgungskonzept | |
werde allerdings frühestens in einem Jahr fertig sein, sagt Jens Tittmann, | |
der Sprecher des Bausenators. | |
Anna Zydronik bleibt erst einmal nichts anderes übrig, als auf unbestimmte | |
Dauer ihre Kinder für sich einkaufen zu lassen. Oder umzuziehen. | |
4 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Lukas Scharfenberger | |
Eiken Bruhn | |
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