# taz.de -- Uraufführung in Osnabrück: Das schräge Dorf | |
> Mit der Tragikomödie „Nähe“ gewann der Autor Mario Wurmitzer den | |
> Osnabrücker Dramatikerpreis. Nun kam das Stück in einer bewegenden | |
> Inszenierung auf die Bühne. | |
Bild: Wurmitzers „Nähe“ in Osnabrück: Ein seltsames Panoptikum baut sich … | |
Osnabrück taz | Es dauert, bis der erste Satz fällt. Lisa sagt ihn, die | |
Tochter, auf der Suche nach sich selbst: „Nur keine Leere aufkommen | |
lassen!“ Ein Satz, der viel über sie verrät. Wer der knorrige Wanderer ist, | |
der an uns vorübermarschiert, wieder und wieder, in | |
Kniebundhosen-Alpenkluft, schwer bepackt, bis ihm der Atem fliegt, der | |
Schweiß rinnt? Als Lisa „Leere“ sagt, wissen wir es noch nicht. Die | |
verschrobene Alte mit ihrem Metalldetektor? Die Inlineskaterin, so blass | |
wie eine Leiche? Der eitle Pilot mit seiner Sonnenbrille? Der Graubart mit | |
seinem Holzbrett über der Schulter? Sie kommen, sie gehen; ein stetiger | |
Strom. Für den Moment sind sie noch stumm. Nur Lisa redet. Aber das ändert | |
sich. | |
„Nähe“, die Tragikomödie, mit der [1][der junge österreichische Autor Ma… | |
Wurmitzer 2017 den „Osnabrücker Dramatikerpreis“ gewann], beginnt bizarr, | |
skurril, absurd, symbolistisch. Der Pilot putzt sich im Gehen die Zähne. | |
Der Wanderer ist plötzlich halbnackt. Die Skaterin humpelt auf Krücken | |
herein. Der Graubart schiebt einen winzigen Kinderwagen, schlägt einen | |
Nagel in die Wand. | |
Aber nicht lange, und es wird klar, was hier geschieht. Lisa, die Tochter, | |
kehrt heim ins Dorf ihrer Kindheit, denn Heinz, ihr Vater, hat einen | |
Schlaganfall. Heinz lebt in der Vergangenheit, in der Erinnerung an seine | |
Revolten als Künstler, an seine verstorbene Frau. Lisa hat gerade eine | |
Trennung hinter sich, sehnt sich nach einem Sinn für ihr Dasein. | |
Viel zu sagen haben sie einander nicht. Beide stehen an einem Wendepunkt, | |
bewegungslos. Was sie denken und empfinden, ist wie eingefroren. Selbst die | |
Besucher aus Lisas früherem Leben brechen diese Starre nicht auf. Da ist | |
die „Freundin, die schon tot ist“, die vom Jenseits erzählt, während sie | |
Lisa auf Inlinern umkurvt. Da ist Lisas Ex-Freund, der Pilot, der nicht | |
wahrhaben will, dass es aus ist. Und da ist der Wanderer, Lisas | |
egomanischer Therapeut, der, als sein magerer Floskel-Vorrat an | |
Psycho-Sprech nicht mehr verfängt, wieder in die Berge verschwindet. | |
Ein seltsames Panoptikum tut sich auf: Da ist der Bürgermeister des Dorfs, | |
der es nicht erträgt, dass er seine Bürger an die Stadt verliert. Da ist | |
der „Mann, der sich zweimal in denselben Abgrund stürzte“, ein wahnverwirrt | |
„Heimat!“ und „Freiheit!“ knorzender Stahlhelmträger in Unterhosen, der | |
verzweifelt, weil er keine Feinde findet. Da ist ein Musikverein in | |
Lederhosen, Gamsbarthüten und Trachtenjankern, der Geld für ein Brauchtum | |
sammelt, das niemanden mehr interessiert. | |
Wer sich „Nähe“ ansieht, sollte etwas Lust auf Dechiffrierung mitbringen. | |
Warum beispielsweise die tote Inlinerin mit einem herzchenrot glitzernden | |
Jo-Jo spielt? Warum Lisa, der sie das Jo-Jo am Ende schenkt, zu wummerndem | |
Techno Springseil springt? So ist das Leben, signalisiert uns das: immer | |
rauf und runter, immer im Kreis. Heinz serviert eine Plastikkarotte, von | |
der niemand satt wird? Herbstblätter stieben – und werden gleich darauf | |
wieder zusammengefegt? Der Pilot, der zwischendrin die Handlung durch Songs | |
kommentiert, trägt plötzlich ein Diva-Schillerkleid mit Pelzbesatz? Die | |
Bühne ist nackt und schwarz, und wer einen Tisch braucht, einen Kopfhörer, | |
eine Tasse, bringt sie selber mit? Sinnbilder, Chiffren. | |
Auch die Sprache nimmt sich da nicht aus. Je länger Lisa bei Heinz bleibt, | |
desto fragmentierter wird sie. „Es ist ja nichts mehr wie …“ Pause, | |
Stockung, Unausgesprochenheit. Kommunikation, die ans Verstummen grenzt. | |
## Bewegende Monologe | |
Das hat Biss, und das hat Sensibilität. Das hat Brüche zwischen Ernst und | |
Komödiantik. Schnoddrigkeiten, bei denen Lachen aufbrandet, stehen neben | |
Härten wie „Manchmal erliegt man!“. Ohnmacht allerorten. Der tiefste aller | |
Schrecken: Sich selbst ausgeliefert zu sein. | |
Besonders bewegend sind die Monologe. Der von Heinz etwa, der sich fragt, | |
wie er sie überwinden kann, die „Schlucht zu den anderen“. Ronald Funke ist | |
als Heinz beklemmend stark. Ebenso stark wie Denise Matthey als Lisa. | |
Ebenso stark wie Dietmar Pröll als Therapeut und Krieger. Wie Hannah | |
Walther als Tote. Alle sind hier stark. Spielfreudig und konzentriert, | |
leidenschaftlich und präzise. Sparsame, klar gesetzte Mimik und Gestik. | |
Jeder Gedanke wirkt, als stamme er nicht nur aus dem Textbuch. | |
Eine Regieleistung, durch die sich Ron Zimmering für weitere Inszenierungen | |
empfiehlt. Mit Kostümbildner Benjamin Burgunder und Bühnenbildnerin Ute | |
Radler bildet er in „Nähe“ ein ebenso inspiriertes Team wie in | |
„Bandscheibenvorfall“ – in der vergangenen Spielzeit eine der besten | |
Inszenierungen. Dort wie hier: bildhafte Seelenzustände. | |
Mario Wurmitzer, der mit „Nähe“ erstmals an einem Stadttheater aufgeführt | |
wird, hat mit Zimmering großes Glück. Den Dramatikerpreis sieht er übrigens | |
nicht nur als Sprungbrett für die Preisträger, sondern auch für das Theater | |
selbst: „Gegenwartsdramatik zu fördern, steht sehr gut zu Gesicht.“ | |
Ein Stück über die Unmöglichkeit von Nähe? Nur fast. Denn da ist der | |
Schluss: Der Vater, zittrig, kraftlos, rollt auf dem Boden eine riesige | |
Leinwand aus. Bedächtig, still, liebevoll, stellt er Farbe und Pinsel | |
bereit, fast wie in einem Ritual. Dann hockt er sich hin. Tupft, zögernd, | |
einen einzelnen, rotbraunen Punkt, kaum sichtbar. Dann noch einen. Und noch | |
einen. Aber das Sich-Fortmalen aus dem Leben tritt nicht ein. Er quält | |
sich. Aber sein schwarzes Gefängnis gibt ihn nicht frei. | |
Lisa sieht sein Scheitern. Kauert sich neben ihn. Nähe, endlich. Eine Weile | |
malen sie gemeinsam. Dann steht der Vater auf. Strafft sich. Öffnet | |
Farbflaschen. Versprüht, vergießt, in weiten, entschlossenen Gesten: Pink, | |
Gelb, Blau. Malt sich frei. Und seine enge Welt öffnet sich, die schwarzen | |
Mauern brechen auf, es wird hell um ihn. „Jetzt bin ich bereit!“ In diesem | |
Augenblick, dem der ersten Nähe zu Lisa, bricht er auf in die letzte Ferne. | |
Lisa steht, schmerzzerwühlt. Blickt auf das letzte Bild ihres Vaters. Dann | |
gehen die Scheinwerfer aus. | |
Der ergreifendste, der traurigste und zugleich schönste Schluss, der seit | |
vielen Jahren auf dieser Bühne zu sehen war. | |
18 Dec 2018 | |
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[1] /Kommentar-Osnabruecker-Dramatikerpreis/!5556669/ | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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Mario Wurmitzer | |
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Bundeswehr | |
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