# taz.de -- Eine Weihnachtsgeschichte: Keine Smartphones für niemand | |
> Das Weihnachtsfest steht vor der Tür. Die Kinder von Endvierzigerin | |
> Simone wollen Smartphones. Sie will aber einfach nur aussteigen. | |
Bild: Ist da ein Smartphone drin? Sicher nicht | |
Seit einem guten Jahr schon arbeitete Simone daran, zu einer gemäßigten, | |
ausgewogenen Sicht auf die Widrigkeiten des Daseins zu gelangen. Hilfe | |
bekam sie dabei von Frau Krombacher, die nichts mit Bier zu tun hatte, | |
sondern in einer Praxis für Psychotherapie am Winterfeldtplatz saß. „Vom | |
Entweder-Oder zum Sowohl-als-auch“, lautete ihr Fahrplan für Simones | |
Behandlung, und Simone leuchtete das Motto ein. Sie ging nämlich inzwischen | |
auf die Fünfzig zu und musste auf ihren Blutdruck achten, traute sich einen | |
Alltag im Untergrund nicht mehr zu, hatte Kinder in die Welt gesetzt, die | |
sich schämten, wenn Mutti auf offener Straße herumbrüllte, und mit | |
geschorenem Haar sah sie nicht mehr widerständig, sondern allenfalls | |
krebskrank aus. | |
Radikalität war ein Privileg der Jugend. | |
Simone musste, wenn’s um Wurzeln ging, Ingwertee trinken oder gemeinsam mit | |
Frau Krombacher danach graben, warum sie jeden Mist, der in der Welt | |
passierte, direkt auf sich bezog – statt mit den Schultern zu zucken und zu | |
sagen: „Pech. Das läuft halt nicht so gut. Doch es kommen auch wieder | |
bessere Zeiten.“ | |
Weihnachten, zum Beispiel. | |
Weihnachten war all die Jahre zuverlässig vorbeigegangen. Vier Wochen | |
fürchterlicher Advent gefolgt von einem Heiligabend mit erwartbaren | |
Enttäuschungen, zäh dahinkriechenden Feiertagen durch eine verkrustete | |
Jahresendzeit, aber dann! schwupps! ein frischgeborenes, verheißungsvolles | |
neues Jahr. | |
Sie hätte sich längst daran gewöhnen können. | |
Stattdessen spürte Simone schon wieder das Bedürfnis, auszusteigen. Den | |
Mist nicht einfach vorbeiziehen zu lassen, sondern ihn in die Luft zu | |
jagen, endgültig loszuwerden, ihn in die Tonne zu treten ein für alle Mal. | |
„Es hängt nicht allein von Ihnen ab“, sagte Frau Krombacher, „Sie sind T… | |
eines gesellschaftlichen und kulturellen Systems.“ Was Simone durchaus | |
bewusst war. Aber litten nicht alle darunter? Hatte es nicht schon vor | |
fünfunddreißig Jahren im Schulgottesdienst geheißen, dass der Konsumterror | |
langsam überhandnahm? Die hätten mal sehen sollen, wie es heute war. Neue | |
Smartphones für alle!, weil – so hieß es in der Werbung, die an den | |
Haltestellen aushing – alle brav gewesen waren. Und anstatt spätestens | |
aufgrund dieses zynischen Spruchs aufzubegehren und obwohl doch alle | |
wussten, wer daran verdiente, wer dafür starb oder zumindest seiner | |
Lebensgrundlage beraubt wurde, dass damit die große Überwachung quasi durch | |
die Hintertür und in China bereits flächendeckend – | |
„Stopp!“, unterbrach sie Frau Krombacher, „Sie vergessen die positiven | |
Aspekte. Sehen Sie sich die Möglichkeiten an. Die Revolutionen in den | |
Maghreb-Staaten. Die Flüchtlinge, die mithilfe ihrer Handys ihre Routen | |
navigieren können. Die Demokratisierung des Wissens –“ | |
Simone schwieg. Wie gesagt, sie fand Frau Krombachers Motto ja gut. Hatte | |
es nur noch nicht ganz verinnerlicht. Und wusste nicht, was sie den Kindern | |
schenken sollte. | |
Smartphones wären natürlich der Knaller. Endlich könnten sie sich in die | |
WhatsApp-Chats ihrer Klassenkolleg*innen einklinken, danach sehnten sie | |
sich schon seit Jahren. Eines könnte das Auspacken des anderen direkt | |
unterm Weihnachtsbaum aufzeichnen und auf YouTube hochladen – die Freude, | |
die dabei festgehalten würde, wäre nach der langen Enthaltsamkeit, zu der | |
Simone sie gezwungen hatte, so überwältigend, dass das Video auf jeden Fall | |
viral ginge und dem Kind eine Poleposition innerhalb der Unboxing-Community | |
garantierte. Überhaupt könnten sie auch gleich das ganze Weihnachtsfest | |
aufnehmen und noch den Rest des Familienlebens dazu; alle würden einander | |
die ganze Zeit filmen und live kommentieren, sie könnte feste Kameras | |
installieren, die Kinder von nun an ununterbrochen online spielen lassen | |
und damit einen Haufen Geld verdienen; eine YouTuber-WG konnten sie werden | |
und sich ab sofort alles, zumindest aber alle zukünftigen Weihnachts- und | |
Geburtstagsgeschenke sowie Klamotten und Kosmetikartikel von den Firmen, | |
die sie damit kostenlos bewarben, sponsern lassen – | |
„Halt!“, rief Frau Krombacher, „Sie übertreiben schon wieder, Sie müssen | |
nicht ins Extrem gehen.“ | |
Nein. Einfach nur zwei Smartphones kaufen. Weil es das wäre, was den | |
Kindern die größte Freude bereitete. Sie würden damit auch Vokabeln lernen. | |
Vogelstimmen identifizieren. „Sowohl als auch.“ | |
Frau Krombacher nickte zufrieden. | |
Simone fühlte sich gut. Sie nahm die U7 zur Wilmersdorfer Straße, weil der | |
Mediamarkt auf einer westlichen, im Niedergang befindlichen Einkaufsmeile | |
ein gemäßigteres und ausgewogeneres Einkaufserlebnis versprach als der in | |
der brandneuen East Side Mall. | |
Tatsächlich war darin kaum ein Mensch zu sehen. Simone steuerte auf den | |
Tresen mit den Mobiltelefonen zu. | |
„Kann ich helfen?“ | |
Simone sah auf. Der Mann im roten T-Shirt, der sie angesprochen hatte, | |
erschrak. Sein professionelles Lächeln starb, die Augen flackerten, bis | |
sein Mund sich zu einem echten Lächeln auseinanderzog und die stoppeligen | |
Wangen sich rot färbten, fast so rot wie das T-Shirt. | |
Es war Klaus. Der Papa von Tilda und Oskar. | |
Simone errötete ebenfalls. Das hatte sie nicht gewollt: einen armen | |
Freiberufler beim Aushilfsjob erwischen. Bestimmt hatte er sich absichtlich | |
hier im Westen einsetzen lassen, weit genug entfernt von Nachbarinnen und | |
Miteltern, um nicht Auskunft darüber geben zu müssen, dass das eigene | |
Geschäft schlecht lief, zu schlecht zumindest, um die systemgesteuerten | |
Konsumbedürfnisse seiner Kinder zu befriedigen. | |
„Hi, Simone. Christmas-Shopping?“ | |
„Eigentlich ja. Jetzt bin ich allerdings aus dem Konzept geraten.“ | |
„Was da war?“ | |
„Smartphones für alle.“ | |
Simone nahm eins der glänzenden Dinger in die Hand. Es war mit einem | |
speckigen Spiralkabel gesichert, am Plexiglastisch an die Leine gelegt. | |
„Ein schönes Modell“, sagte Klaus. „Wird gerne genommen.“ | |
Simone legte das Smartphone zurück. | |
„Für Mats und Lena?“, fragte Klaus. | |
Simone nickte. | |
„Tu’s einfach.“ | |
„Ich kann nicht.“ | |
„Es ist das, was sie wollen.“ | |
Simone sah zur Seite, zu der Wand mit den Flachbildschirmen, auf denen | |
vierzehnmal das Gesicht eines mittäglichen Talkgasts zu sehen war – | |
hochaufgelöst. | |
„Es ist die Hölle“, murmelte sie. | |
„Wir leben im Zuchthaus“, bestätigte Klaus. Simone sah ihn überrascht an. | |
Er grinste. | |
„Wir sind gebor’n“, sang er, „um frei zu sein! Wir sind zwei von Millio… | |
wir sind nicht allein!“ Zwischen der Weißware näherte sich ein weiterer | |
Mann in rotem T-Shirt. | |
„Du machst dich über mich lustig.“ | |
„Nein!“ Klaus’ Gesicht wurde ernst. „Ich bin froh, dass du mich daran | |
erinnerst.“ | |
Simone war nicht froh. Es war ganz bestimmt nicht ihre Absicht gewesen, | |
alte Songs und Parolen heraufzubeschwören; wenn Klaus das tröstlich fand, | |
schön für ihn, für sie selbst war es Gift. Was war aus Rios Schlachtruf | |
geworden? Ein Gassenhauer, den müde Männer in roten T-Shirts mitsangen, | |
während sie ihre Seele dem Teufel und dessen Zeug müden Müttern zum | |
Schnäppchenpreis verkauften; es war die Hölle, und die hatte im Verlauf der | |
letzten vierzig Jahre alles geschluckt, was einst noch auf sie hingewiesen | |
hatte. | |
„Keine Smartphones für niemand“, sagte Simone und ließ Klaus in der Hölle | |
zurück. | |
In der U7 heimwärts Richtung Osten versuchte sie sich ins Gedächtnis zu | |
rufen, was sie selbst sich mit zehn und zwölf Jahren jeweils zu Weihnachten | |
gewünscht hatte. Elektronik nicht, das stand damals noch nicht zur Debatte. | |
Markenturnschuhe ja, die hatten damals schon das Versprechen ausgestrahlt, | |
sowohl dazuzugehören als auch herauszuragen, wenn man sie nur endlich an | |
den Füßen trug. Ein Versprechen, das nach den Weihnachtsferien umgehend | |
enttäuscht wurde – nichts war leichter in den neuen Schuhen, im Gegenteil, | |
irgendwie sahen sie blöd aus zu der Jacke, die sie hatte, was sie ihrer | |
Mutter gegenüber aber nicht zu äußern wagte, denn was hieß das dann im | |
Rückschluss? Neue Jacke? Vergiss es, mein Fräulein, vielleicht nächstes | |
Jahr. | |
„Mein Fräulein“, könnte sie zu Lena sagen und zu Mats „mein Herr“. St… | |
mit Geschenken könnte sie dieses Jahr mit einer neuen Variante subtiler | |
Herabwürdigungen aufwarten, das war es doch, was Heranwachsende brauchten: | |
Gründe, sich aus den familiären Verstrickungen zu befreien, Anlass, die | |
Eltern langsam, aber sicher zu hassen. Genau wie Weihnachten und das, wofür | |
es stand. Wenn ihr das umfassend gelänge, würden aus den Kindern vielleicht | |
neue Rio Reisers werden, Lichtgestalten, die aufbegehrten. Und frische | |
Schlachtrufe ersannen. | |
Während die U7 sich quietschend in die Kurve legte, meinte Simone, einen | |
Ausweg aus ihrem Dilemma gefunden zu haben, und freute sich schon auf Frau | |
Krombachers anerkennendes Gesicht. | |
24 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Anke Stelling | |
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