# taz.de -- Blackout in Südkoreas Hauptstadt: Weltstadt offline | |
> In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul fiel nach einem Brand das | |
> Internet aus – und damit Krankenhäuser, Bezahlsysteme und sogar die | |
> Polizei. | |
Bild: Umgeben von Natur und doch abhängig von der Technologie: die südkoreani… | |
SEOUL taz | So müssen sich wohl zehn Espressi auf ex anfühlen: Wenn im | |
rappelvollen Bus Dutzende Smartphones gleichzeitig aufheulen, drei Sekunden | |
lang in penetrantem Piepton, und auf dem Handydisplay der Schriftzug | |
„Notfall“ in roter Signalfarbe prangt. Ehe die linke Gehirnhälfte noch | |
versucht, die koreanischen Schriftzeichen der SMS sinnerfassend | |
zusammenzuwürfeln, assoziiert die linke Hemisphäre bereits auf | |
verschwörungstheoretischen Hochtouren: [1][Pjöngjang, Kim Jong Un], sein | |
Zeigefinger auf dem roten Drücker. Ist gerade der Atomkrieg ausgebrochen? | |
Durchatmen nur wenige Sekunden später: Die Stadtregierung von Seoul hat | |
ihren Bürgern lediglich eine Notfall-SMS geschickt, weil im westlichen | |
Bezirk Mapo bei einer Firmenanlage von Korea Telecom ein Feuer ausgebrochen | |
ist. Keine Toten, keine Verletzten. So schlimm kann’s ja dann nicht sein – | |
oder etwa doch? | |
Korea Telecom (KT) ist eines der prestigeträchtigsten Unternehmen des | |
Landes. Einst in öffentlicher Hand, hat es Südkorea flächendeckend mit | |
Festnetzverbindungen versorgt. Derzeit arbeitet es auf Hochtouren daran, | |
als erster Anbieter weltweit 5G einzuführen. Erst vor wenigen Wochen habe | |
ich mir die entsprechenden Vorbereitungen in der Firmenzentrale zeigen | |
lassen – in einem ovalen Showroom, der mit seinen LED-beleuchteten Boden | |
aus einem „Star Trek“-Set hätte stammen können: Virtual-Reality-Brillen | |
hingen an den Wänden, Miniatur-Hologramme flimmerten herum, orchestrale | |
Musik erschallte aus unsichtbaren Boxen. | |
Bereits in den 1990er Jahren hat Südkoreas Regierung systematisch in | |
Breitbandverbindungen investiert, mittlerweile fließt hier das Netz so | |
schnell wie nirgendwo sonst. Seoul ist eine Stadt, in der du am | |
Montagmorgen in eine Wohnung einziehst und am Nachmittag der Techniker vor | |
der Tür steht, um den Wifi-Router zu installieren. Eingekauft wird | |
ausschließlich via App; und die Bürgersteige sind voll von Smombies – | |
Passanten, die wie gefesselt auf ihr Handydisplay schauen. | |
## Kein Netz, kein Geld | |
Eine halbe Stunde später fährt mein Bus zufällig am Unglücksort vorbei. | |
Flammen oder Rauch kann ich nicht mehr wahrnehmen, dafür sehe ich jedoch | |
über ein Dutzend Ü-Wagen der großen Fernsehsender. Mein Reporter-Interesse | |
ist geweckt, ich zücke mein Smartphone. Just in diesem Moment schluckt mich | |
das schwarze Kommunikationsloch: kein Empfang, kein Internet. Erst später | |
erfahre ich, was vorgefallen ist: Im Firmenkeller von Korea Telecom sind | |
rund 150 Meter Glasfaserkabel niedergebrannt, zudem sind 168.000 | |
Telefonleitungen zerstört worden. In einem Drittel des Stadtgebiets waren | |
alle KT-Kunden für anderthalb Tage offline und abgeschnitten. | |
Ich befand mich auf dem Weg zu einem Jazzkonzert – deutlich verspätet. | |
Meinem Bekannten musste ich jedoch am Treffpunkt warten lassen, da weder | |
SMS noch Anrufe durchgingen. Und überhaupt: Wo war die Bar nochmal? Ich | |
hatte mich blind darauf verlassen, spontan auf Google Maps nachzuschauen. | |
Was früher selbstverständlich war, fühlte sich ungewohnt an: Passanten nach | |
den Weg fragen. | |
Im Jazzladen angekommen wartete die nächste Herausforderung: Die Bar | |
akzeptierte, wie fast alle Geschäfte im gesamten Bezirk, plötzlich nur noch | |
Bargeld, das Kartensystem war schließlich vom Netz. Da in Seoul aber | |
praktisch niemand mehr Bargeld in der Tasche hat, waren sämtliche | |
Bankautomaten binnen weniger Stunden leergeräumt. | |
Am Montag waren die Tageszeitungen voll von Nachrichten über Studenten, die | |
ans andere Ende der Stadt fuhren, um dort ihre Seminararbeiten rechtzeitig | |
zur Onlinedeadline abzugeben. Oder über Autofahrer, die ohne ihr Navi | |
schlicht verloren waren – weil sie keine herkömmlichen Straßenkarten mehr | |
lesen können. | |
Auch das Kommunikationsnetzwerk mehrerer Polizeistationen brach zusammen. | |
Dutzende Polizisten wurden zur zentralen Polizeibehörde geschickt, um dort | |
via Radiofunk Berichte durchgereicht zu bekommen. Eines der größten | |
Krankenhäuser der Stadt konnte keine Telefonanrufe entgegennehmen, sodass | |
Arzttermine zeitweise nicht vergeben oder verschoben werden konnten. Ohne | |
ihr Onlinesystem konnten auch einige Apotheken keine rezeptpflichtigen | |
Medikamente mehr austeilen. | |
Die zweitgrößte Tageszeitung des Landes, Joongang Ilbo, nannte das Desaster | |
einen „landesweiten Weckruf“, der der Volkswirtschaft „einen kritischen | |
Schlag“ verpasst habe. Vielleicht ist das übertrieben, denn der | |
Materialschaden betrug nur etwas mehr als umgerechnet 6 Millionen Euro. | |
Auch am Aktienmarkt gab es keinen katastrophalen Einbruch: Die Aktie von KT | |
schloss am Montag mit gerade einmal 1,82 Prozent Minus ab. Der | |
volkswirtschaftliche Schaden dürfte dennoch immens sein. | |
Wie viel davon vom Unternehmen Korea Telecom übernommen wird, bleibt | |
bislang noch offen: Das Unternehmen hatte bereits am Sonntagabend | |
zugesichert, seinen Kunden einen Monatsbeitrag zu erlassen. Kleinen und | |
mittelständischen Betrieben werde man erst später einen Kompensationsplan | |
anbieten, so ein Firmensprecher. | |
## Ein einziger Feuerlöscher | |
Am Montag berief Informationsminister Yoo Young Min eine Notfallsitzung mit | |
den Vorstandsvorsitzenden der drei großen Telekommunikationsanbieter des | |
Landes ein. Herausgekommen sind allerdings nur Präventionsmaßnahmen, für | |
die es nicht mehr als eine gesunde Portion Menschenverstand braucht: | |
Künftig sollen Backup-Systeme installiert und in Tunneln, in denen | |
Telekomanbieter ihre Glasfaserkabel liegen haben, zusätzliche | |
Sprinkleranlagen aufgestellt werden. In dem Tunnelgelände war vor dem Feuer | |
nur ein einziger Feuerlöscher vorhanden. | |
Und doch könnte der Internet-Zusammenbruch endlich einen Diskurs anstoßen, | |
der im technikbegeisterten Südkorea längst überfällig ist: Wie abhängig vom | |
Internet wollen wir leben? Welche Gefahren birgt eine bargeldlose | |
Gesellschaft? Und: Wie leicht lässt sich unser hoch vernetzter Staat in | |
Anarchie und Chaos versetzen? | |
Das Jazzkonzert hätte übrigens kontemplativer nicht sein können. Keine | |
Versuchung, kurz unterm Tisch die neuesten Chat-Nachrichten anzuschauen. | |
Kein nerviger Vibrierton; niemand, der im Hintergrund telefoniert. Nach der | |
letzten Zugabe sagte mein Sitznachbar, ein Mitarbeiter der deutschen | |
Botschaft, in kräftigem Bayerisch: „Das Ironische ist ja, [2][im | |
rückständigen Deutschland] wäre in einer solchen Situation ja gar nichts | |
passiert. Wenn ich zu meiner Mutter aufs Land fahre, gibt es schließlich | |
ständig Funklöcher. Wenn ein Anbieter aussetzt, dann wechselt das Handy | |
automatisch zum nächsten.“ Manchmal entpuppt sich technisches | |
Hinterherhinken im Nachhinein als Vorteil. | |
27 Nov 2018 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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