# taz.de -- Aufarbeitung „Sturm auf Connewitz“: „Ich bin gerade beschosse… | |
> Wie die Leipziger Justiz das volle Ausmaß des Neonaziangriffs auf den | |
> Stadtteil Connewitz von der Öffentlichkeit fern hält. | |
Bild: Die juristische Aufarbeitung des rechten „Sturms auf Connewitz“ am 16… | |
LEIPZIG taz | „Hooligans! Hooligans!“ hallt es über die Straße, Pyrotechn… | |
erhellt die Kulisse hinter den Vorhängen, als Tobias in seinem Zimmer am | |
Computer sitzt. Draußen bersten die ersten Scheiben, der Lärm treibt ihn | |
zum Fenster. Direkt vor ihm tobt ein Mob aus über 250 schwarzbekleideten | |
und vermummten Personen, die mit Eisenstangen und Holzlatten auf | |
Schaufensterscheiben und Autos einschlagen. | |
Tobias steht im hellen Rahmen des Fensters und beobachtet. Dann splittert | |
mit einem Knall die Scheibe. Etwas fliegt quer durch den Raum, trifft ihn | |
am Arm und bleibt wenige Meter entfernt auf dem nächsten Fensterbrett | |
liegen. Tobias wirft sich auf den Fußboden. Er kriecht zur Zimmertür, | |
schaltet das Licht aus. Handelt ohne nachzudenken. Dann wird ihm bewusst: | |
„Ich bin gerade beschossen worden!“ | |
So schildert Tobias heute [1][die Ereignisse vom 11. Januar 2016]. Er zeigt | |
die Spuren, die noch immer zu sehen sind. Der Brandfleck, den das | |
Aluminiumgeschoss auf dem Fensterbrett hinterlassen hat. Das Loch im | |
Vorhang. Die Fensterscheibe hat der Vermieter wenige Tage nach dem Angriff | |
tauschen lassen. Die Brandverletzung an Tobias Arm ist mittlerweile | |
verheilt. | |
Das Gefühl, in seiner eigenen Wohnung angegriffen und verletzt worden zu | |
sein, ist geblieben. Noch heute reagiert er empfindlich auf laute | |
Geräusche. „Wenn irgendwo ein Böller hochgeht, zucke ich immer noch. In den | |
Wochen danach war es aber richtig krass. Ich will mir gar nicht vorstellen, | |
wie das bei Leuten ist, die richtige Kriegserfahrung machen mussten“, | |
erzählt er beim Kaffee in seiner Küche. | |
„Es ist Krieg“, schrieb ein Leipziger Hooligan nur wenige Stunden vor dem | |
Angriff an einen Bekannten, um zu beratschlagen, welche Waffen sie | |
mitnehmen würden. Beide wurden in Connewitz von der Polizei festgesetzt. | |
Wie er verletzt wurde, erzählte Tobias nur einen Tag nach dem Angriff auch | |
der Kriminalpolizei. Die stand ihm zufolge auf einmal vor der Tür. Das | |
zersplitterte Fenster im ersten Stock war von der Straße aus gut zu sehen. | |
„Die haben Fotos gemacht von allem, auch von meinen Verletzungen.“ Das | |
Geschoss, vermutlich eine Rauchpatrone, sollen die Beamten mitgenommen | |
haben. | |
Danach ging Tobias zum Arzt, ließ die Wunde versorgen, erhielt ein Attest. | |
Als er auf dem Heimweg an dem Polizeiposten in Connewitz vorbeiging, um | |
Anzeige zu erstatten, sei dieser nicht besetzt gewesen. „Dann halt morgen“, | |
habe er sich gedacht, entschied sich abends doch dagegen, nachdem Freunde | |
ihm davon abrieten. Er wollte nicht, dass sein Name und seine Adresse den | |
Angreifern bekannt werden. Eigentlich heißt Tobias anders. | |
Vor einem Leipziger Gericht konnte er seine Geschichte bisher nicht | |
erzählen. | |
## „Beschuss mit Rauchgeschoss“ | |
Seit dem 16. August wird der „Sturm auf Connewitz“ am Leipziger Amtsgericht | |
verhandelt. In über 80 Verhandlungen sind meist zwei Personen gleichzeitig | |
angeklagt. Der Tatvorwurf: besonders schwerer Landfriedensbruch. Vier | |
Prozesse haben seitdem stattgefunden. Tobias sollte kein einziges Mal als | |
Zeuge aussagen. | |
Dabei ist seine Geschichte den sächsischen Justizbehörden zweifelsfrei | |
bekannt. Noch vor Beginn der Prozessreihe in Leipzig war Tobias Zeuge im | |
Verfahren gegen die Freie Kameradschaft Dresden wegen Bildung einer | |
kriminellen Vereinigung. Mitglieder der FKD sollen auch am Connewitzangriff | |
beteiligt gewesen sein. | |
In Tobias Ladung als Zeuge steht explizit er solle über einen „mutmaßlichen | |
Beschuss mit Rauchgeschoss“ aussagen. Während der Verhandlung am | |
Landgericht Dresden legte man ihm zufolge auch die Fotos der Leipziger | |
Kriminalpolizei vor, die seine Verletzungen dokumentieren. | |
Einen Monat nach seiner Aussage in Dresden fällt in Leipzig das erste | |
Urteil zum Connewitzangriff. Staatsanwaltschaft und Gericht betonen immer | |
wieder den enormen Sachschaden, den die Angreifer verursacht haben. | |
Staatsanwältin Daute beziffert ihn auf 110.000 Euro. Anwohner berichten, | |
was sie aus ihren Wohnungen beobachten konnten und wie ihre Autos | |
beschädigt wurden. In ihren Ladungen steht als Thema schlicht: „Vorgänge am | |
11.01.2016 im Bereich Wolfgang-Heinze-Straße“. | |
## „Wir sind wegen den Zecken hier!“ | |
Auch der Besitzer des Dönerimbiss, in dem ein Sprengsatz detonierte, | |
nachdem Angreifer die Kasse geraubt hatten, soll aussagen. Er war zum | |
Zeitpunkt des Überfalls nicht vor Ort. Die Befragung wird ergebnislos | |
abgebrochen. Sein damaliger Mitarbeiter, der sich mit Gästen durch einen | |
Hinterausgang flüchten musste, wurde zwischenzeitlich abgeschoben. | |
Körperverletzungen oder Angriffe auf Menschen werden in der Verhandlung | |
nicht thematisiert. | |
Am Ende der Urteilsbegründung merkt Richter Pirk an, dass es nur durch ein | |
„Riesenglück“ keine Verletzten gegeben habe. | |
Diese Woche räumte die Staatsanwaltschaft Leipzig immerhin nach mehrmaliger | |
schriftlicher Nachfrage ein, ihr sei bekannt, „dass es im zeitlichen und | |
räumlichen Zusammenhang mit den gewalttätigen Ausschreitungen vom | |
11.01.2016 durch bisher unbekannte Täter vereinzelt auch zu versuchten und | |
vollendeten Körperverletzungshandlungen kam.“ Diese hätten aber „das | |
ansonsten offensichtlich auf Sachbeschädigungen ausgerichtete | |
Gesamtgeschehen nicht geprägt“. | |
Zudem sei es laut Oberstaatsanwalt Schulz für den Tatvorwurf | |
Landfriedensbruch ohne Bedeutung, „ob sich die Gewalttätigkeiten […] gegen | |
Menschen oder Sachen gerichtet haben“. Schon vorher hatten Recherchen | |
angedeutet, dass Tobias nicht die einzige Person ist, die an dem Abend | |
verletzt wurde und den Behörden bekannt sein sollte. | |
In einer Rekonstruktion des Angriffs berichtete das Leipziger Magazin | |
kreuzer von einem Anwohner, der auf der Straße niedergeschlagen wurde und | |
sich blutend in einen Imbiss gerettet hatte. Seine Anzeige bei der Polizei | |
sei im Juni 2016 eingestellt worden. Der Zeugenbericht im kreuzer deckt | |
sich mit den Aussagen von zwei weiteren Personen. Sie berichten, ebenfalls | |
in dem Imbiss am Connewitzer Kreuz Zuflucht gefunden zu haben, nachdem sie | |
verletzt wurden. | |
Dass die Angreifer nicht, wie von der Staatsanwaltschaft angedeutet, | |
vorwiegend auf Sachschaden aus waren, zeigen Polizeiaufnahmen: „Wir sind | |
wegen den Zecken hier! Die wollen wir haben!“, schreit ein Vermummter mit | |
Holzlatte in der Hand den Beamten entgegen. | |
Um die Aktion als Landfriedensbruch zu werten, ist es in der Tat | |
unerheblich, ob Personen oder Dinge angegriffen wurden. „Es kann jedoch | |
selbstverständlich ein strafzumessungsrelevantes Kriterium, ob lediglich | |
auf Sachen eingewirkt wurde, oder ob Menschen zu Schaden kamen“, so | |
Strafrechtler Martin Schaar. Für besonders schweren Landfriedensbruch sind | |
Haftstrafen bis zu zehn Jahren möglich. | |
## Verständigungsgespräche vor den Verhandlungen | |
Auch in den folgenden Prozessen kann Tobias seine Geschichte nicht | |
erzählen. Zwischenzeitlich erhält er eine Ladung für eine Verhandlung in | |
Leipzig, wird dann aber Wochen vorher wieder abbestellt. | |
Ein rechter Szeneanwalt scheint die Weichen für den weiteren Verlauf der | |
Connewitzprozesse gestellt zu haben. In Verständigungsgesprächen vor den | |
Verhandlungen einigen sich Verteidigung, Richter und Staatsanwaltschaft | |
fortan darauf, dass die Angeklagten mit Bewährungsstrafen davonkommen, | |
sofern sie aussagen. | |
Dafür reichen offenkundig bereits minimale Einlassungen aus. Kein | |
Angeklagter gibt wesentlich mehr preis, als dass er an dem Abend vor Ort | |
war. Auf die Ladung von Zeugen wird verzichtet, die Beweisaufnahme dauert | |
nur noch eine gute Stunde. | |
In dieser Weise werden unter anderem ein ehemaliger NPD-Kandidat, der | |
mutmaßliche Schriftführer einer rechten Rockergruppierung und der Sänger | |
einer Rechtsrockband vom Gericht als Mitläufer, die „nur eine | |
untergeordnete Rolle“ gespielt hätten, zu Bewährungsstrafen und | |
Geldauflagen verurteilt. | |
Im Oktober erhält Tobias doch noch Ladungen zu drei Prozessterminen am | |
Leipziger Amtsgericht. Das Schreiben ist weit weniger konkret als er es vom | |
Landgericht Dresden kennt. Kein Wort über den Beschuss, stattdessen die | |
kommentarlose Aufforderung, im Dezember und Januar als Zeuge auszusagen. | |
In allen Terminen soll nach Jugendstrafrecht verhandelt werden. Unter | |
gewissen Umständen kann das Gericht hier die Öffentlichkeit ausschließen. | |
Eine abschließende Auskunft, ob die drei Termine als nichtöffentliche | |
Sitzungen stattfinden sollen, gibt das Amtsgericht Leipzig nicht. | |
## Keine Gerichtsladung erhalten | |
Die schriftliche Anfrage bleibt unbeantwortet. Am Telefon teilt ein | |
Sprecher mit, es handle sich um Einzelfallentscheidungen, die der | |
zuständige Richter in der Regel zu Beginn der Hauptverhandlung treffen | |
würde. Mehrfach fragt der Sprecher, woher man überhaupt von den Terminen | |
wisse. | |
Für einen im Januar angesetzten Prozess gegen zwei Männer in ihren | |
Dreißigern hat Tobias im Gegensatz zu anderen Zeugen keine Ladung erhalten. | |
Nun wurde am Leipziger Amtsgericht kurzfristig eine weitere Verhandlung für | |
Ende November angesetzt, in der sich zwei mutmaßliche Connewitzangreifer | |
verantworten sollen. Einer von ihnen ist angehender Jurist. Selbst eine | |
Bewährungsstrafe könnte ihn die Zulassung zum Staatsexamen kosten. | |
Die mittlerweile etablierte Praxis, sich vorab auf Bewährung zu einigen und | |
dafür auf die Befragung von Zeugen zu verzichten, scheint hier nicht | |
ansatzlos fortgesetzt werden zu können. Mehrere geschädigte Anwohner sollen | |
erneut vor Gericht erscheinen. | |
Tobias gehört nicht dazu. Seine Geschichte zum Neonaziangriff auf Connewitz | |
wird vorerst wohl auch weiter nicht öffentlich an einem Leipziger Gericht | |
thematisiert werden. | |
15 Nov 2018 | |
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## AUTOREN | |
Aiko Kempen | |
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