# taz.de -- Adoption in Guatemala: Carlos Haas sucht seine Mutter | |
> Mit vier Monaten wurde er aus dem Bürgerkrieg in Guatemala adoptiert. | |
> Jetzt möchte Carlos Haas wissen: Wer sind meine leiblichen Eltern? | |
Bild: Carlos Haas als Baby in Niedernberg, Unterfranken | |
CHIANTLA taz | An einem sonnigen Tag im Februar 2018 rast ein roter | |
Geländewagen durch das Hochland von Guatemala und bringt Carlos Haas zu | |
einer Frau, die seine Mutter sein soll. Haas, ein junger Mann mit dichtem | |
schwarzem Haar und einem runden Gesicht, sitzt hinten, gedrängt neben | |
seiner Frau und seinen beiden Kindern. Aus den Boxen dudelt mexikanische | |
Rancheramusik, draußen ziehen die Gipfel der Cuchumatanes vorüber: mehr als | |
3.000 Meter hohe, schroffe Felsen vor strahlend blauem Himmel. Carlos Haas, | |
der sonst viel redet, ist still geworden. „Wie lange noch?“, fragt er den | |
Fahrer. – „Eine knappe Stunde“, sagt der. | |
Die Frau, zu dem der rote Geländewagen fährt, hat Carlos Haas wenig mehr | |
als einen Fingerabdruck hinterlassen. Dick und schwarz hat sie ihn anstelle | |
einer Unterschrift unter die neunseitige, eng beschriebene Adoptionsurkunde | |
gedrückt. Carlos Haas kennt ihren Namen: Victoriana Saucedo Alvarado. Er | |
kennt ihren damaligen Wohnort: Huehuetenango, guatemaltekisches Hochland. | |
Und er weiß, dass die Frau 31 Jahre alt war, als sie am 14. Mai 1985 ihren | |
Daumen unter das Dokument drückte. | |
32 Jahre später, im Frühjahr 2017, sitzt Carlos Haas im Wohnzimmer seiner | |
Wohnung in Augsburg. Draußen im Flurschrank hängt eine Sammlung | |
traditioneller Kleidungsstücke aus Guatemala: bunt bestickte Hemden und | |
Hosen, unzählige Blusen und Gürtel, dazu Tragetücher, Haarbänder, Taschen | |
und Hüte, insgesamt mehr als 100 Stück. | |
Haas kramt ein altes Foto hervor. Auf dem Bild ist eine Frau mit schwarzem | |
Haar und dunklem Kleid zu sehen: eine Kinderkrankenschwester vor einem | |
Waisenhaus in Guatemala-Stadt, in ihren Armen ein kleines Baby. | |
Gedankenverloren schaut Haas auf das Bild. Er hat nur wenig Informationen | |
über seine früheste Kindheit, Erinnerungen hat er keine. | |
Da ist die neunseitige Adoptionsurkunde, der Daumenabdruck, der Name seiner | |
leiblichen Mutter. Doch er sagt: „Es würde mich überhaupt nicht | |
überraschen, wenn dort einfach irgendein Name als Name der Mutter genannt | |
wird.“ | |
Als Haas geboren wird, herrscht in Guatemala Bürgerkrieg. Mehr als 30 Jahre | |
lang kämpfen linke Guerillagruppen gegen die brutale Militärregierung – und | |
gegen die Ungleichheit im Land, in dem eine kleine Elite Reichtümer | |
anhäuft, während die Mehrheit der Bevölkerung in Armut lebt. 200.000 | |
Menschen sterben im Bürgerkrieg, die meisten von ihnen werden von der Armee | |
ermordet. Es trifft vor allem die indigene Mayabevölkerung auf dem Land. | |
Ihr wirft die Regierung vor, die linke Guerilla heimlich zu unterstützen. | |
Im Bürgerkrieg verschwinden zahlreiche Menschen, sie gehen morgens aus dem | |
Haus und kehren nie zurück. Zurück bleiben die Kinder. Oft werden sie von | |
Bekannten aufgenommen, doch manche kommen auch ins Ausland. Die Papiere für | |
Adoptionen ins Ausland sind unter der Militärdiktatur einfach zu bekommen. | |
Ein Netzwerk aus Militärs, Anwälten und Waisenhäusern entwickelt daraus ein | |
lukratives Geschäftsmodell, sie verdienen viel Geld mit den Adoptionen. | |
Manchmal werden Kinder auch geraubt. | |
Jetzt, mit Anfang 30, will Carlos Haas endlich erfahren, wer seine | |
leibliche Mutter ist. Lebt sie noch? Hat sie ihn freiwillig zur Adoption | |
freigegeben? Wurde er als Kind geraubt? Und was ist, wenn seine Mutter ihn | |
nie haben wollte – und heute nichts von ihm wissen will? | |
Für die Momente, in denen diese Fragen kommen, hat sich Carlos Haas ein | |
Mantra zurechtgelegt. „Ich habe nichts zu verlieren“, sagt er sich dann: | |
„Meine Adoptiveltern sind für mich meine richtigen Eltern.“ | |
Carlos Haas wächst in Niedernberg, Unterfranken, auf. In einem großen, | |
hellen Haus mit großem Garten, dahinter fließt der Main. Seine | |
Adoptiveltern erzählen Carlos Haas früh von seiner Herkunft. Sie kaufen | |
Bildbände von Guatemala und blättern sie mit ihm durch. Sie zeigen Carlos | |
auf dem Globus, wie weit Mittelamerika von Deutschland weg ist. | |
Carlos ist gut in der Schule, ein begabter Klarinettenspieler, sein erstes | |
Buch ist eine Kinderbibel. Die Frage nach seiner Identität stellt er sich | |
stückchenweise. Mit 17 lernt er Spanisch. Mit 20 reist Carlos Haas, der | |
Messdiener war und regelmäßig in die Kirche geht, zum katholischen | |
Weltjugendtag nach Köln. Dort trifft er Evelio Solano, einen | |
charismatischen Priester aus Guatemala. Der lädt ihn nach Mittelamerika | |
ein. | |
Aber Haas zögert. Er hat Angst vor den Gefühlen, die ein Besuch in | |
Guatemala in ihm auslösen könnte. Immer wieder spielt er mit dem Gedanken, | |
die Einladung anzunehmen, aber am Ende verwirft er die Idee. Und irgendwie | |
kommt ihm immer etwas dazwischen: das Studium, die Arbeit, die | |
Familienplanung. Heute arbeitet Carlos Haas als Historiker am Institut für | |
Zeitgeschichte in München, dort forscht er zur Geschichte Zentralamerikas. | |
Mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern wohnt er in Augsburg. | |
2014, mit 29 Jahren, reist Haas für eine Archivrecherche nach Washington, | |
D. C. Seine Gastgeberin zeigt ihm einen Latinosupermarkt. Für ihn wird es | |
eine Art Erweckungserlebnis. Die Leute sehen ihm ähnlich, sie reden | |
Spanisch mit ihm. Er gehört zum ersten Mal in seinem Leben ganz automatisch | |
dazu – anders als in Deutschland, wo sich immer wieder Menschen darüber | |
wundern, dass der junge Mann mit dem dichten schwarzen Haar Deutsch redet. | |
Wenn Carlos Haas heute darüber spricht, nennt er es ein „intensives | |
positives Erlebnis“. Und er denkt: Wenn sich das schon so gut anfühlt, wie | |
wäre es erst in Guatemala? | |
Nun endlich nimmt Haas die Einladung des Priesters Solano an. Er ist | |
überwältigt von der Gastfreundschaft, den bunten Farben den indigenen | |
Trachten, den tausend neuen Gerüchen. „Wenn ich dort bin, fühle ich wie ein | |
Guatemalteke“, sagt Carlos Haas. Auf Märkten kauft er sich guatemaltekische | |
Tracht, er zieht sie immer öfter in Deutschland an. | |
## Nach der Adoption kamen die Alpträume | |
Und im Dezember 2016 ist Carlos Haas bereit. Er kontaktiert die Liga | |
Guatemalteca de Higiene Mental. Früher kümmerte sich die Organisation | |
darum, psychischen Erkrankungen vorzubeugen. Doch seitdem wieder Frieden in | |
Guatemala ist, versucht sie auch Kinder zu finden, die während des | |
Bürgerkriegs verschwanden. Die Organisation bittet Haas um Dokumente, die | |
Adoptionsurkunde, seinen alten Reisepass und die Fotos aus dem Kinderheim | |
in Guatemala-Stadt. Einige hat Haas zu Hause liegen, andere muss er bei | |
seinen Adoptiveltern besorgen. | |
Doch sie wissen noch gar nichts von seinem Plan. | |
Kurz nach Weihnachten 2016 fährt Haas zu ihnen nach Unterfranken. Er ist | |
nervös. Wird er sie mit seiner Suche vor den Kopf stoßen? Doch seine | |
Adoptiveltern sagen: „Wir haben schon viel früher mit deiner Suche | |
gerechnet.“ Das klingt souverän, abgeklärt. Aber die Suche ihres Sohnes | |
weckt Erinnerungen an früher. | |
Die Familie hat es sich in Niedernberg schön eingerichtet. Im Garten hat | |
Ronald Haas, ein sanfter Mann mit einem jungen Lachen, Kopfsalat, Zwiebeln, | |
Karotten und Stangenbohnen gepflanzt. Im ganzen Haus hängen Aquarelle von | |
Reinhilde Haas. Sie ist Künstlerin. | |
Wenn man die beiden besucht, sieht man eine helle Wohnküche. Jetzt sitzen | |
sie dort am Tisch, vor ihnen stehen Brote mit Schinken und Käse, dazu | |
Oliven und eingelegte Tomaten. | |
Kurz nach der Adoption, erzählt Ronald Haas, bekam er oft Albträume. Er | |
schreckte auf und dachte: „Was ist, wenn morgen jemand vor der Tür steht | |
und sagt: ‚Das ist mein Kind, ich will mein Kind zurück?‘“ | |
Familie Haas kann keine Kinder bekommen. Also wollen sie adoptieren. Doch | |
die Hürden sind hoch, die Wartezeiten lang. Dann vermittelt eine Bekannte | |
den Kontakt zu einer guatemaltekischen Rechtsanwältin, Rosa Elena Calderón. | |
Sie organisiert Privatadoptionen nach Deutschland, die nicht über eine der | |
großen Organisationen wie Terre des Hommes abgewickelt werden. | |
Nun geht alles viel schneller. Ronald und Reinhilde Haas besorgen sich eine | |
Pflegeerlaubnis und ein polizeiliches Führungszeugnis. Sie lassen sich ihre | |
christliche Eheführung vom Pfarrer bestätigen und versichern, dass sie | |
keine leiblichen Kinder bekommen können. Die Dokumente schicken sie nach | |
Guatemala und überweisen einen vierstelligen D-Mark-Betrag: Rechtsanwalts- | |
und Adoptionsgebühren. | |
Ronald und Reinhilde Haas wissen, in Guatemala herrscht Bürgerkrieg. Doch | |
Rosa Elena Calderón erzählt ihnen eine Geschichte: Arme guatemaltekische | |
Kinder werden mit einer Adoption eine bessere Zukunft haben. Und das | |
Ehepaar ist beruhigt. Nach Guatemala reisen sie nicht, beide haben | |
Flugangst. | |
Kurz nach der Adoption von Carlos verschwindet Rosa Elena Calderón | |
plötzlich. Familie Haas sieht einen Fernsehbericht: In Guatemala gehen | |
Gerüchte um, Kinder würden ihren Eltern geraubt und ins Ausland verkauft – | |
als Organspender. Das Ehepaar Haas wird jetzt misstrauisch beäugt. „Vorher | |
haben die Leute gesagt: ‚Oh, toll, ihr habt ein Kind aus Guatemala‘ “, | |
erzählt Ronald Haas. „Dann haben sie uns gefragt: ‚Habt ihr das Kind | |
gekauft?‘ “ | |
## Ein weißer Fleck | |
Die Adoptiveltern haben Carlos’ leibliche Mutter nie kennengelernt. Hatten | |
sie nie Zweifel an der Geschichte der Anwältin? Ronald Haas zögert ein | |
bisschen, bevor er antwortet: „Natürlich hätte man besser helfen können, | |
als ein Kind zu adoptieren.“ Dann sagt er: „Aber ich kann nicht glauben, | |
dass wir ein Kind adoptiert haben, dass seiner Mutter weggenommen wurde.“ | |
Für Ronald und Reinhilde Haas ist Carlos’ Herkunft bis heute ein weißer | |
Fleck geblieben. Die einzige Geschichte, die sie haben, stammt von einer | |
untergetauchten Anwältin. Vielleicht wollten sie es auch nicht so genau | |
wissen – und die Flugangst war ein guter Vorwand, um unangenehme | |
Wahrheiten in Guatemala zu vermeiden. Doch das Ehepaar Haas steht zu ihrer | |
Adoption – und auch die Entscheidung ihres Sohnes, nach seiner leiblichen | |
Mutter zu suchen, unterstützen sie. | |
In der Zwischenzeit hat sich in Guatemala-Stadt Marco Antonio Garavito, der | |
Direktor der Liga Guatemalteca de Higiene Mental, auf die Suche gemacht. | |
Garavito, den alle nur „Maco“ nennen, hat in den vergangenen 17 Jahren fast | |
500 Familien wieder zusammengebracht. Für Garavito ist die Suche nach | |
Vermissten längst zum Lebensthema geworden. Während des Bürgerkriegs | |
kämpfte er aufseiten der linken Guerilla. 1996 ist der Krieg zu Ende, der | |
Friedensvertrag wird unterzeichnet – doch die alten Wunden sind noch längst | |
nicht verheilt. | |
Im Februar 2018 sitzt Maco, ein kräftiger Mann mit Schnauzer und der Statur | |
eines in die Jahre gekommenen Boxers, in seinem kleinen Büro am Rand von | |
Guatemala-Stadt. Draußen hört man hupende Autos und das Tatütata der | |
Rettungswagen. Es riecht nach Benzin. Maco erzählt, wie er sich vor einem | |
Jahr auf die Suche nach Victoriana Saucedo Alvarado machte. | |
Die Suche nach den Eltern eines verschwundenen Kindes, weiß Maco, ist eine | |
delikate Angelegenheit. „Wir gehen immer davon aus, dass wir nicht wissen, | |
ob die Person, die wir suchen, überhaupt die richtige ist“, sagt Maco. | |
Viele Fälle bleiben nach Jahren ungelöst. | |
## Der sechste Finger | |
Doch in diesem Fall aus Deutschland hat Maco eine Spur: An Carlos Haas’ | |
Händen sind die verstümmelten Ansätze von sechsten Fingern zu erkennen, die | |
ihm nach der Geburt wegoperiert wurden. Auch Haas’ Sohn hat einen sechsten | |
Finger. Und so, wie er ihn an seinen Sohn vererbt hat, hat seine Mutter ihn | |
vielleicht an ihn vererbt, hofft er. | |
Im Frühjahr 2017 macht Maco eine Frau im Hochland von Guatemala ausfindig, | |
auf die die Angaben der Adoptionsurkunde passen. Hochland, das bedeutet: | |
Man muss vorsichtig sein. | |
Die Menschen im Department Huehuetenango, wo die Frau lebt, sind extrem | |
misstrauisch gegen Fremde. Während des Bürgerkriegs schlossen sich dort | |
viele Männer paramilitärischen Verbänden an, die die Militärregierung | |
unterstützten. Kommen heute Fremde in die Region, fürchten die | |
Einheimischen Nachforschungen zu den Verbrechen, die während des | |
Bürgerkriegs von den Paramilitärs begangen wurden. Und sie fürchten Rache. | |
Maco telefoniert mit Pedro Gregorio, einem Mann aus Nebaj im Hochland von | |
Guatemala, der seit mehr als 15 Jahren mit ihm zusammenarbeitet – und schon | |
viele vermisste Kinder wieder mit ihren Familien zusammengebracht hat. | |
Wenn man Gregorio persönlich spricht, dann begegnet man einem kleinen, | |
gesprächigen, jovialen Mann. Einem, dem es leichtfällt, das Vertrauen | |
anderer Menschen zu gewinnen und ganz nebenbei wichtige Informationen zu | |
sammeln. | |
Am 9. Mai 2017 macht sich Gregorio auf den Weg nach Chiantla, Department | |
Huehuetenango, Nordwestguatemala. Chiantla, ein paar Tausend Einwohner, | |
sieht aus wie viele Kleinstädte in Zentralamerika: im Zentrum eine | |
weiß-gelbe Kirche, ein großer offener Platz, rundherum flache Häuser an | |
engen Straßen, durch die sich hupende Busse, Autos und Motorräder | |
quetschen. | |
Schon vorher hat sich Gregorio dort umgehört, wo die meisten Menschen aus | |
der Region regelmäßig vorbeikommen: am Markt von Chiantla. Zwischen | |
Tortillaständen und Tomatenbergen hat er mit den Händlern gesprochen – und | |
in Erfahrung gebracht, dass eine Frau namens Victoriana Saucedo Alvarado | |
hier regelmäßig ihre Einkäufe erledigt – so auch an diesem Dienstag, dem 9. | |
Mai. Also passt Gregorio die Frau auf dem Weg zum Markt ab. Er spricht sie | |
als Victoriana an. | |
Die Frau ist völlig überrascht. Wer ist der fremde Mann, der nach ihrem | |
Namen fragt? Ihr Sohn Luis, der in einem Kaufhaus in der Nähe arbeitet, | |
wird zufällig Zeuge der Situation. Er traut der Sache nicht und macht Fotos | |
von dem fremden Mann. Dann muss er zurück zur Arbeit. | |
Gregorio glaubt, dass es Saucedos Ehemann ist, der ihn gerade fotografiert | |
hat. Nun könnte die ganze Sache schneller auffliegen, als ihm lieb ist. | |
## „Wenn mein Mann davon erfährt, schlägt er mich tot“ | |
Saucedo zieht Gregorio in eine Seitengasse. Der erzählt ihr von Carlos. Sie | |
weint. Als sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischt, weiß Gregorio, dass | |
er die Richtige vor sich hat. Er hat ihre Hand gesehen – und ihren sechsten | |
Finger. Auch Victoriana Saucedo kann ihre Freude kaum verbergen, sie weint | |
vor Glück. Aber sie hat auch große Angst. „Wenn mein Mann von der Sache | |
erfährt“, sagt sie, „wird er mich totschlagen – und dich gleich dazu.“ | |
Gregorio gibt ihr Macos Telefonnummer, dann verschwindet er. | |
Es dauert nur ein paar Tage, dann klingelt Macos Handy. Am anderen Ende der | |
Leitung ist Victoriana. Sie fasst schnell Vertrauen zu dem Mann aus der | |
Hauptstadt. Sie erzählt ihm von ihren quälenden Schuldgefühlen. Sie sagt, | |
vor 32 Jahren habe sie einen Jungen zur Adoption freigegeben, aus Armut. | |
Sie bittet um Verzeihung. | |
Maco weiß nun: Carlos Haas ist nicht unter Zwang nach Deutschland gelangt. | |
Aber er vermutet, dass er wohl über das gleiche Netzwerk verschickt wurde | |
wie die geraubten Kinder. | |
Maco schreibt Haas eine Mail: „Ich habe gute Nachrichten für dich. Wir | |
haben deine leibliche Mutter gefunden!“ | |
Carlos Haas ist geschockt. Ungläubig liest er die Mail, wieder und wieder. | |
Er hat sich selbst auf die Suche nach seiner Mutter gemacht – aber er ist | |
nicht vorbereitet darauf, sie zu finden. Er ist schlecht gelaunt, weiß | |
nicht, was los ist: „Ich habe mich wie ein Zombie gefühlt“, sagt Haas. | |
Doch dann beruhigt er sich: Der sechste Finger, dazu die jahrelange | |
Erfahrung von Maco – was soll da schiefgehen? Haas schreibt seiner Mutter | |
einen langen Brief auf Spanisch. „Liebe Victoriana“, beginnt er, „ich bin | |
vor Freude und Glück überwältigt, von dir zu hören. Zuallererst möchte ich | |
dich bitten, keine Angst zu haben. Ich mache dir keine Vorwürfe, ich bin | |
einfach nur glücklich, dich nach so vielen Jahren gefunden zu haben.“ | |
Haas spricht mit seinen Adoptiveltern. Sie sind genauso überrascht wie | |
er selbst – und freuen sich mit ihm. | |
Haas würde am liebsten sofort nach Guatemala fliegen und seine Mutter | |
treffen, wenigstens mit ihr sprechen. Doch Maco bremst die Euphorie. Er | |
glaubt, dass ein direkter Kontakt vor allem Victoriana im Moment | |
überfordern würde. Langsam, Schritt für Schritt sollen sich die beiden | |
einander annähern. Die beiden kommunizieren über Maco. | |
Nach drei Monaten wird Haas ungeduldig. Er schlägt vor, endlich direkt mit | |
Victoriana zu sprechen. Maco ist einverstanden. Doch das geht nur heimlich, | |
denn Victorianas Familie weiß nichts von der Adoption. Victoriana macht | |
sich auf zum Markt von Chiantla, ruft Maco vom Handy aus an, Maco schickt | |
ihre Nummer nach Augsburg zu Haas. | |
Ende August 2017 sitzt Carlos Haas an seinem Computer im Schlafzimmer vor | |
seinem geöffneten Skype-Konto und tippt die Nummer ein. Er hört ein, zwei, | |
immer mehr Freizeichen, dann eine leise Frauenstimme. Am anderen Ende ist | |
seine Mutter Victoriana. Der erste Kontakt ist überraschend einfach. | |
Victoriana fragt viel. Wie es ihm geht. Wo er wohnt. Ob er arbeitet und | |
verheiratet ist, wie viele Kinder er hat und wie sie heißen. Sie fragt ihn, | |
ob er katholisch ist. „Ja“, antwortet er. | |
„Da war sie sehr erleichtert“, sagt Carlos Haas. | |
Carlos Haas erfährt in diesem Gespräch von der Geschichte seiner leiblichen | |
Familie. Victoriana hatte vier Kinder aus erster Ehe. Ihr Mann verschwand, | |
Victoriana wurde von einem anderen Mann schwanger, Carlos’ Vater. Er starb | |
an einem Herzfehler, kurz vor der Geburt. | |
„Und dann stand sie alleine da mit vier Kindern und einem Säugling und hat | |
den Entschluss gefasst, mich als jüngstes Kind zur Adoption freizugeben“, | |
sagt Carlos Haas. „Das hat sie seitdem als Geheimnis für sich behalten.“ Er | |
klingt verständnisvoll. | |
Von den vier Kindern aus erster Ehe leben nur noch zwei: Baudilio ist nach | |
Kalifornien ausgewandert, Luis lebt in Chiantla, unweit von Carlos’ | |
Geburtsort. Ihm erzählt die Mutter schließlich, dass er einen Bruder in | |
Deutschland hat – und erlebt eine Überraschung. Denn Luis macht ihr keine | |
Vorwürfe, sondern freut sich über den neuen Bruder. | |
Und Victoriana Saucedo will endlich reinen Tisch machen. Sie erzählt ihrem | |
Mann von der Adoption. Er reagiert wie erwartet. Er schreit, er schimpft | |
und prophezeit, Carlos werde sie hassen. | |
Victoriana Saucedo ist es gewohnt, auf ihren Ehemann zu hören. Ihr Leben | |
lang hat sie in Häusern anderer geputzt, gewaschen und gekocht. Lesen und | |
Schreiben hat sie nie gelernt. Sie ist eine kleine, unscheinbare Frau, die | |
älter wirkt als die 65 Jahre, die sie wirklich ist. Entscheidungen haben | |
meistens andere für sie getroffen. | |
Doch jetzt macht sie einen mutigen Schritt. „Wenn du mich töten willst, | |
dann töte mich“, sagt Saucedo zu ihrem Mann. Auch jetzt, Monate nach dem | |
Streit, kommen ihr die Tränen, wenn sie diese Geschichte erzählt, doch da | |
ist Überzeugung in ihren Augen. | |
„Lieber will ich dich verlieren als meine Kinder“, sagt sie zu ihrem Mann. | |
Sie hat sich entschieden. Victoriana Saucedo ist fest entschlossen, ihren | |
Sohn zu treffen. | |
An einem kalten Februarabend 2018 sitzt Carlos Haas erschöpft vor | |
gepackten Koffern in seiner Wohnung. Gerade noch hat er mit seinen Kollegen | |
auf die Verteidigung seiner Doktorarbeit angestoßen. Doch mit seinen | |
Gedanken ist er längst in Guatemala. Immer wieder hat er sich ausgemalt, | |
wie es sich anfühlen wird, seine Mutter das erste Mal in den Arm zu nehmen. | |
Haas atmet tief durch. „Wahrscheinlich kann man sich das gar nicht richtig | |
vorstellen“, sagt er. | |
## Ein Koffer voller Geschenke | |
Drei Tage später. Der rote Geländewagen rast durch das Hochland von | |
Guatemala, und Carlos Haas fragt zum dritten Mal: „Wie lange noch?“ – „… | |
Minuten“, sagt Maco, der am Steuer sitzt. Haas verzieht das Gesicht, ihm | |
ist schlecht. Sie haben schon 20 Minuten Verspätung – und sich auch noch | |
verfahren. | |
Endlich die richtige Abzweigung. Langsam biegt der Jeep auf einen staubigen | |
Sandweg ein. | |
Maco sagt: „Für diesen Moment gibt es kein Protokoll. Mach, was dein Herz | |
dir sagt, das ist richtig.“ Haas steigt aus dem Auto. Maco sagt: „Ihr könnt | |
losgehen.“ | |
Carlos Haas geht langsam, seinen Sohn an der Hand, über den staubigen | |
Feldweg. 50 Meter entfernt ist ein Pavillon aufgebaut, Tische, Stühle, | |
Platz für 40 Leute, Nichten, Neffen, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, | |
Nachbarn aus dem Dorf sind gekommen. Die Frauen tragen Kleider, die Männer | |
Sonntagshemden. In ihrer Mitte steht Victoriana Saucedo in einem blauen | |
Kleid. Haas geht weiter, vorne knallen jetzt Böller, eine Band spielt | |
Marimbamusik, eine langsame, zurückgenommene Melodie. Haas lässt die Hand | |
seines Sohnes los und geht alleine weiter, seine Mutter kommt auf ihn zu. | |
Dann stehen Mutter und Sohn voreinander, sie sagen kein Wort, sie umarmen | |
sich, ein Wiegen, dann ein Tanzen. Die Nase, die Augenbrauen, der Mund: Die | |
beiden ähneln sich. | |
Einen Koffer voller Geschenke haben Haas und seine Familie ihren | |
guatemaltekischen Verwandten mitgebracht: Gummibärchen und Milka-Schokolade | |
für die Kinder, eine Trainingsjacke vom FC Augsburg für Halbbruder Luis. | |
Seiner Mutter überreicht er eine schwarze Madonnenfigur aus Altötting, die | |
einen Ehrenplatz auf dem kleinen Altar im Wohnzimmer der Familie bekommt. | |
Am nächsten Tag setzt sich Carlos’ Halbbruder Luis hinter das Lenkrad eines | |
weißen Pick-ups, den er sich extra für den Besuch aus Deutschland | |
ausgeliehen hat. Neben ihm sitzt seine Mutter, Carlos Haas ist hinten auf | |
der Ladefläche. Über eine kurvenreiche Strecke geht es ins nahe gelegene | |
Huehuetenango. Vor einem gelb-braunen Gebäude bleibt der Wagen stehen. | |
Haas klettert von der Ladefläche. Schweigend geht er mit seiner Mutter die | |
wenigen Schritte zum Seiteneingang des Gebäudes. Hier, erzählt sie ihm, | |
wurde er im Februar 1985 geboren. In stiller Umarmung stehen Carlos und | |
Victoriana vor der schwarzen Metalltür des früheren Krankenhauses. | |
An den Moment, als sie ihren Sohn weggab, erinnert sie sich noch genau: | |
„Die Frau in der Hauptstadt, bei der ich ihn gelassen habe, hat zu mir | |
gesagt: Fragen Sie nie mehr nach Ihrem Kind, es wird nie wieder | |
zurückkehren.“ | |
## „Das Gefühl, dass ich verkauft wurde, ist schrecklich“ | |
Aber Victoriana Saucedo kann ihren Sohn nicht vergessen. Jeden Tag denkt | |
sie an ihn, 33 Jahre lang. Sie macht sich Vorwürfe. Auch die konservative | |
guatemaltekische Gesellschaft verzeiht es ihr nicht, ihrer Mutterrolle | |
nicht gerecht geworden zu sein. Leise sagt sie: „Ich schäme mich so vor dem | |
Moment, in dem er mich plötzlich fragt: ‚Mama, warum hast du das gemacht?‘ | |
“ | |
Doch diese Frage hat Carlos Haas nie gestellt. Er findet sie überflüssig, | |
seit er das Schicksal seiner Mutter kennt. „Ich habe keinen Zorn auf sie, | |
ich habe Mitleid mit ihr und dem Leben, das sie bis jetzt hatte.“ Nur wenn | |
er an die Rechtsanwältin denkt, die die Adoption organisiert hat, ist er | |
wütend. „Sie hat von dem Wunsch meiner Eltern in Deutschland, ein Kind zu | |
haben, ebenso profitiert wie von der Armut, in der meine Mutter gelebt | |
hat“, sagt Haas. „Das Gefühl, dass ich verkauft wurde, ist schrecklich.“… | |
solchen Momenten wirkt Haas hilflos, ohnmächtig. | |
Abends sitzt die Familie in kleinem Kreis in der Küche. Auf dem Herd | |
stapeln sich Pfannen, es riecht nach Bratöl. Die Stimmung ist fröhlich. | |
Carlos’ Halbbruder Luis hat das Handy auf laut gestellt, YouTube, es läuft | |
ein alter mexikanischer Schlager. Die beiden stehen auf und singen. „No hay | |
nada más difícil que vivir sin tí.“ Nichts ist schwieriger, als ohne dich | |
zu leben. | |
22 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Martin Reischke | |
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