Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Schön bröckelnde Städte
> Beim Schlendern durch das charmant-marode Belgrad begreift Kolumnistin
> Julia Boek, was ihr in Berlin fehlt.
Bild: Schlaglöcher können Gelassenheit fördern
Kann man Belgrad mit Berlin vergleichen? Wahrscheinlich nicht. Noch dazu,
wenn man nur zwei Tage in Belgrad verbracht hat. Ich mache es hier einfach
trotzdem mal.
Denn als ich kürzlich in Belgrad war, habe ich begriffen, was mir an Berlin
fehlt. Damit meine ich nicht den Mangel an LehrerInnen, Radwegen oder
SachbearbeiterInnen auf den Standesämtern. Vielmehr überkam mich in der
ehemaligen Hauptstadt des sozialistischen Jugoslawiens eine Sehnsucht nach
der grau verputzten Lässigkeit von einst, dem Beat des Unfertigen.
Schlendert man abseits der großen Sehenswürdigkeiten wie der Festung mit
ihrem weiten Blick über Donau und Save oder der Flaniermeile Knez Mihailova
durch Belgrad, zeigt sich die Stadt herrlich unperfekt. Straßen und
Bürgersteige sind mit Dellen und Rissen übersät, einige Wege brechen an den
Rändern der Innenstadt einfach ab.
Nicht dass ich barrierefreie Wege nicht als zivilisatorische Errungenschaft
begreife, nein. Der Charme des Belgrader Asphalts liegt für mich vielmehr
in seinem Liberalismus beziehungsweise seiner ungeregelten Ordnung.
Sowieso glaube ich, dass krumme Bürgersteige, graue Fassaden und schiefe
Fensterbänke etwas mit ihren BewohnerInnen machen. Man bewegt sich
gelassener durch die Stadt, ist nicht so genau, vielmehr großzügiger mit
sich und anderen – wohl auch, weil kreatives Miteinander und
Improvisationstalent gefragt sind.
## Alle knabbern Popcorn
Was mir auch gefiel: Ganz Belgrad knabbert Popcorn. Die kleinen
„Kokice“-Büdchen, hinter deren Glasscheiben Maiskörner zu Popcorn puffen,
sind überall im Stadtraum verteilt. Außerdem sieht man, anders als in
Berlin, kaum BelgraderInnen an Kaffeebechern to go saugen, während sie in
der Stadt unterwegs sind.
Seinen „Turska kafa“, den pudrig fein gemahlenen türkischen Mokka, trinkt
der Belgrader nämlich im Sitzen – serviert im Kupfer-Mokkakännchen oder der
Espressotasse in einem der vielen gemütlichen Kaffeehäuser mit ihren von
Zigarettenqualm leicht vergilbten Wänden. Weil: SerbInnen rauchen ständig
und überall, was auch die Brandlöcher in den standardmäßig
rot-weiß-karierten Tischdecken der Kneipen-„Kafanas“ erklärt.
Imponiert hat mir Belgrads Mut zur Hässlichkeit. Schon auf der Fahrt vom
Flughafen ins Stadtinnere ist sie in Gestalt der 18-geschossigen
Plattenbauten erfahrbar. In Neu-Belgrad, dem einstigen sozialistischen
Prestigeprojekt der Stadt, wohnen noch heute 390.000 Menschen. Aber auch im
Zentrum findet sich die wuchtige Architektur des Balkanbrutalismus wider.
Knickten Berlins Bauherren im Ostteil der Stadt angesichts der zu
erwartenden Immobilienrendite und Turbogentrifizierung vor ihrer
sozialistischen Vergangenheit ein, der Palast der Republik wurde 2008
abgerissen, zeigt sich Belgrad im selbstbewussten Nebeneinander der
unterschiedlichsten Architekturstile: etwa mit dem Parlament, erbaut im
Stile des Neoklassizismus, vis-à-vis dem wuchtigen Klotz des Hauptpostamts.
Und schließlich begeisterten mich die Blumenverkäuferinnen, die in einer
Reihe seitlich des Serbischen Nationalmuseums neben Eimern mit
Schnittblumen sitzen.
Die Damen, sie sehen so aus, als hätten sie ihre Wiesenblumen gerade erst
auf dem Feld gepflückt. Über ihren grauen langen Haaren tragen sie – wie
Bäuerinnen – gebundene Kopftücher. So viel Atmosphäre bietet der Blumenkauf
in Berlin nicht. Meine Schnittblumen erwerbe ich hier im Bioblumenladen
oder an der Tankstelle.
14 Oct 2018
## AUTOREN
Julia Boek
## TAGS
Teilnehmende Beobachtung
Belgrad
Berlin
Architektur
Tiere
Teilnehmende Beobachtung
Teilnehmende Beobachtung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Die Freiheit der Grenzkaninchen
In mancherlei Hinsicht sind Tiere fortschrittlicher als Menschen. Was
Grenzen angeht, zum Beispiel, lassen sie sich nicht irritieren
Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Großstadtbuletten an der Ostsee
Auch in der Fremde bleibt der Berliner doch immer bei sich. Auf den Putz
hauen sie nicht nur in ihrer Heimatstadt.
Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Wie ich flüssiges Eis zu Geld machte
Weil das Geld nicht für die ersehnte Diesel-Jeans reichte, musste unbedingt
ein Ferienjob her. Da lernt man für's Leben.
Trends in Berlin-Wedding: Ein verkanntes Paradies ist der Wedding nicht
Für die einen ist Wedding das ewige Ghetto, andere versuchen, den alten
Arbeiterbezirk mit "Schnauze und Herz" zum neuen Trendbezirk hochzureden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.